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1 Kinderanalyse im Wandel der Zeit
ОглавлениеDas Individuum steht in einer nicht auflösbaren Beziehung zu seinem sozialen Umfeld. Dessen stetiger Wandel setzt gewaltige Anpassungsfähigkeiten beim Einzelnen voraus, die gelingen können oder scheitern. Auch die psychoanalytische Haltung des Praktikers ist von dieser sich stetig verändernden Umwelt beeinflusst. Insbesondere Kinder und Jugendliche, Seismographen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, präsentieren in ihren Therapien Konfliktbereiche, die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umfeld stehen. Man denke nur an die Veränderung familiärer Systeme, Keimzellen der Gesellschaft. Eine Aufgabe des Kinderanalytikers ist es, sie zu verstehen und die gesellschaftlichen Ursachen hierfür zu erkennen. Die Kinderanalyse sollte auf Stolpersteine der gesellschaftlichen Anforderung hinweisen und sich innerhalb des öffentlichen Diskurses positionieren. Aktuell bestehen gesellschaftlich massive Konflikte der Integration ausländischer Mitbürger, die Praxen werden damit konfrontiert. Zahlreiche fundierte Veröffentlichungen gelangen nicht in die öffentliche Debatte. Die Veröffentlichung von Hopf »Flüchtlingskinder« (2019) stellt in ihrer Ausgewogenheit und Authentizität eine Seltenheit dar. Die Reflexion psychotherapeutischen Arbeitens im gesellschaftlichen Kontext, das heißt der Diskurs zwischen traditioneller Theorie und aktuellen Erkenntnissen bzw. Erfahrungen, sowie die Offenheit bzw. Toleranz für aktuelle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind für den Kinderanalytiker bedeutsam. Bereits vor über 30 Jahren verwies Hohl (1989) darauf, dass die klassischen Neurosen zunehmend von der Bildfläche verschwinden und neue Störungen, diffus und heterogen in ihren einzelnen Phänomenen, erscheinen (ebd., S. 103f). Tiefgreifende veränderte Persönlichkeitsstrukturen etablieren diese neuen Störungsbilder, z. B. Identitätsstörungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennt Hohl einen Wechsel der zentralen Problematik des Menschen von der Sexualität hin zur Identität, dem Selbst. Da die Frage der Identität für ihn in den neuen Störungsbildern offensichtlich ist, verweist er auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die es dem Individuum sichtlich erschweren, vor dem Hintergrund einer gefestigten Identität den gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen (ebd., S. 117). Nicht der gesellschaftliche Kontext sei ursächlich verantwortlich für die Entstehung entsprechender Pathologien, sondern sein Zusammentreffen mit der kindlichen oder jugendlichen Psyche, die eine entsprechende Disposition zur Verfügung stellten. Hohl sieht einen wesentlichen Aspekt dieser neuen Störungskategorie in einer sich verändernden Eltern-Kind-Beziehung.
Ich sehe einen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Umwälzungen und der Symptomatik von Kindern und Jugendlichen. Ich möchte diesen Band unter einem dynamischen Blickwinkel zwischen den Generationen beschreiben, das heißt, welche Schwierigkeiten sich für die ältere und jüngere Generation aus dem aktuellen gesellschaftlichen Kontext ergeben.