Читать книгу Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen - Volker Langhirt - Страница 20

1.6 Neue Medien

Оглавление

Ich möchte die äußerst interessanten Darstellungen von Salge (2014) und Bonaminio (2016) kurz skizzieren:

Salge moniert in seinem Artikel, dass Psychoanalytiker sich bisher bezüglich der Digitalisierung und Veränderung der Lebenswelten wenig zu Wort gemeldet haben. Seine Überlegung, ob dies in Zusammenhang mit der in letzter Zeit geringen Beachtung der Kulturtheorie der Psychoanalyse stehe, kann ich nachvollziehen (ebd., S. 238). So mahnt er vor allem Psychoanalytiker an, sich diesem Phänomen als Experten für innerseelische Zustände zuzuwenden. Er legt dar, dass das Übertreten ins Erwachsenenalter für die Adoleszenz neue Herausforderungen schafft, eben andere, als die Elterngeneration leisten musste.

»Gerade die Perspektive der Elterngeneration auf die Neuen Medien ist somit immer von der Gefahr des geleugneten Neides geprägt und von der Gefahr begleitet, sich im Dickicht projektiver Hilflosigkeitsdiagnosen zu verfangen.« (ebd., S. 239f)

Er sieht einen erheblichen Einfluss durch die Digitalisierung auf die seelische Entwicklung des Einzelnen und damit auf die Etablierung von bestimmten Krankheitsbildern. Der Autor versucht am Beispiel der Übergangsphase der Spätadoleszenz zum Erwachsenenalter und ihres krisenhaften Verlaufes die Wirkung digitaler Medien als Reparationsleistung und ihrer pathogenen Wirkung zu verdeutlichen. Durch seine klinische Erfahrung der letzten Jahre sieht er eine Veränderung der Störungsbilder, von klassischen Neurosen hin zu Borderline-ähnlichen Störungsbildern (ebd., S. 243). Salge nennt dies ein »pathologisches Lebensarrangement« (ebd., S. 243). Nicht die neuen Medien stellen für ihn das Problem dar, sondern deren Zusammentreffen mit individuellen Entwicklungsdefiziten. Einen Fokus seiner Arbeit richtet er auf die Funktion von Tagträumen, die heute zunehmend mit der virtuellen Welt in Verbindung stehen. Tagträume können als Probehandeln zur Stabilisierung des inneren Gleichgewichtes genutzt werden, um sich den Überforderungen und Ungewissheiten der Realität zunächst zu entziehen. Hier bieten die neuen Medien fatale Kompensationsmöglichkeiten, deren vielfältige Optionen einen besonderen Reiz für die Verleugnung der bedrohlichen Realität darstellen. Das Eintauchen in die virtuelle Welt erlaubt das Probehandeln im exzessiven Maße und führt zum Scheitern in der Auseinandersetzung mit der eigenen Realität.

Die 20-jährige Patientin wird von ihrem Psychiater überwiesen, der sie aufgrund ihrer depressiven Entwicklung behandelt. Im Laufe des mittlerweile dreijährigen Psychotherapieprozesses entzieht sich die Patientin zunehmend dem realen Leben und taucht in ihren Tagträumen, wie auch in den entsprechenden medialen Rollenspielen, in eine Traumwelt ein. Einerseits gibt es ihr die Möglichkeit, ihre Sehnsüchte zu erproben und zu erforschen, andererseits wird die Wirklichkeit zur Bedrohung, der die Patientin in zunehmendem Maße nicht mehr gewachsen ist. Sie scheitert an ihren Entwicklungsaufgaben, taucht immer mehr in ihrer virtuellen Welt ab. Auch in der Therapie ist sie kaum noch zu erreichen, zieht sich zurück und klagt über die Belastungen ihres Alltags. Sie erscheint in eine Welt versunken und von dieser auch besessen, sofern sie von ihren Fantasien, die nun als Rollenspiele im Netz verwirklicht werden, spricht. Die Therapie, ihr letzter Fels in der Brandung, wird überspült, sie bricht sie ab. In der Reflexion stellt sich die Frage, ob ich die Patientin nicht verstehen konnte, da unsere Welten zu gegensätzlich erschaffen waren. Ich spürte ihr völliges Abtauchen, dass ich verhindern wollte, was mir jedoch nicht gelang. Vielleicht hätte ich intensiver mit eintauchen sollen, um die virtuellen Träume meiner Patientin nachzuvollziehen.

Bei näherer Betrachtung, sofern man sich für diesen Kontext interessiert, erscheinen viele Jugendliche im Umgang mit den neuen Medien konturiert und besitzen ein realistisches Einschätzungsvermögen. Dies wird jedoch von vielen Erwachsenen bezweifelt. Die Jugendlichen möchten ihrer Gruppe angehören oder von sich auch etwas präsentieren. Zugehörigkeit und Positionierung waren schon immer Indikatoren für die Gleichaltrigengruppe, die sozialen Medien sind ein alltägliches Kommunikationsmedium dieser Altersgruppe. Im Gegenzug ist jedoch festzuhalten, dass sich subtile Ausgrenzungsmechanismen durch diese Form der Beziehungsprozesse eklatant vervielfältigt haben. Einzelne, die nicht »passen«, werden aus Chat-Gruppen hinausgeschmissen oder öffentlich gebrandmarkt. Dieses Cybermobbing wird an späterer Stelle in diesem Buch aufgegriffen. Das narzisstische Geltungsbedürfnis hat in unserer Gesellschaft eine besondere Bedeutung gewonnen. In den letzten Jahren erlebe ich zunehmend, dass eine regelrechte Angst und auch Selbstentwertungen auftreten, sobald der Jugendliche als durchschnittlich betrachtet werden könnte. In einer Gesellschaft mit Selbstoptimierung wird eine Zuordnung zum Durchschnitt bedrohlich, ein Gefühl von Minderwertigkeit stellt sich ein. Das Ideal zeichnet sich dem gegenüber vor allem in Form einer künstlichen Attraktivität ohne Makel aus, wenn beispielsweise schon Minderjährige sich ästhetisch-chirurgisch behandeln lassen oder Erwachsene ihr Leben vollständig auf eine erfolgreiche Karriereleiter nach oben ausrichten. Wer sich dem nicht zu- oder unterordnet, steht schnell außerhalb der Norm. Meine Patienten berichten im Praxisalltag inzwischen häufig von Freunden, die in entfernten Städten oder gar im Ausland wohnen. Früher spürte ich bei meinen jugendlichen Patienten dagegen nicht selten ein Gefühl von Peinlichkeit, wenn sie mir berichteten, dass sie im Internet jemanden kennengelernt hatten. Heute wird es mehr und mehr zur Gewohnheit, soziale Kontakte über das Internet zu knüpfen, auch allgemein sozial zurückgezogene Jugendliche sind hier aktiv.

Meine Bewertung entsprechender Phänomene hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Covid-19-Pandemie, verändert. In Zeiten weitgehender Beschränkungen war es den Jugendlichen möglich, mit anderen in Kontakt zu treten und zu bleiben. In jüngster Zeit entstehen vermehrt Untersuchungen, die diesen Teil des In-Beziehung-Seins untersuchen. Bonaminio (2016; vgl. auch Lemma & Caparrotta, 2016) fordert die eigene psychotherapeutische Berufsgruppe dazu auf, der veränderten Gesellschaft gegenüber aufgeschlossen zu sein. Das Auftauchen neuer Krankheitsbilder müsse verstanden werden, ohne sie gewaltsam in alte Denk- und Handlungsmuster einzupassen (ebd., S. 158ff). Der Psychoanalytiker sei Teil der Gesellschaft, müsse sich als solcher verstehen und stünde nicht außerhalb von dieser. Deshalb erscheine es sinnvoll, über neue Konzepte der virtuellen Realität innerhalb der psychotherapeutischen Behandlung nachzudenken. Bonaminio beschreibt die vielfältigen Veränderungsprozesse, die vor allem auf Jugendliche einwirken und unsere Sicht als Psychoanalytiker zu entsprechenden Anpassungsprozessen der Jugendlichen.

Selina, heute 19 Jahre, ist seit zwei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Sie hatte keine sozialen Kontakte, fühlte sich ausgegrenzt, zog sich zurück, konnte ihren Schulalltag nicht bewältigen. Sie machte die Nacht zum Tag, saß vor ihrem PC, der zum wichtigsten Objekt in ihrem Leben wurde. Sie unterzog sich dem gesamten Spektrum therapeutisch/psychiatrischer Maßnahmen, einschließlich Klinikaufenthalt und medikamentöser Behandlung. Eine Auswirkung auf ihren Lebenszusammenhang war nicht erkennbar. Eines hatte ich als Therapeut wohl am Anfang übersehen: Selina entzog sich aus meiner damaligen Sicht durch ihren PC der realen Welt, was ich damals als kritisch betrachtete. Meine bewertende Haltung hinsichtlich ihrer Kontakte im Netz veranlasste sie, sich von mir stärker zurückzuziehen. Ich befürchtete, dass sie sich in Traumwelten flüchtete und keine Grenzen setzte. Tatsächlich konnte sich Selina jedoch im Netz sehr gut positionieren, war wortgewandt und perfektionierte zudem ihre Englischkenntnisse. Über weite Strecken berichtete sie mir kaum etwas davon, da ich mit meiner therapeutischen Sicht und Position scheinbar weit von ihrer Welt entfernt war. Selina lernte über das Netz einen jungen Mann aus England in ihrem Alter kennen, der ihr Selbstbewusstsein erheblich stabilisierte. Sie überraschte mich mit einem Flug nach England, brachte daraufhin ihren Freund mit nach Deutschland und präsentierte ihn stolz in einer Therapiestunde. Selina öffnete sich anderen sozialen Kontakten, nahm eine Ausbildung zur Webdesignerin auf.

Selina ist damit ein Beispiel einer Jugendlichen, die das Netz sozusagen als Übergangsraum verwenden konnte. Erfahrungen wie diese lassen mich dafür plädieren, diese Lebenswelten der jugendlichen oder kindlichen Patienten nicht von vornherein negativ zu bewerten, sondern sie mehr in den therapeutischen Prozess einzubinden.

In vielen Familien gerät der innerfamiliäre Dialog in den Hintergrund. Daraus ergeben sich Folgen und Aufgaben, denen sich Kinderanalytiker in Zukunft mehr widmen müssen. Zudem wünsche ich mir eine zunehmende Berücksichtigung gesellschaftlicher Strömungen und Veränderungen in die Gesamtarrangements einer Therapie. Einelternfamilien, Ganztagesschulen, Druck der Arbeitswelt bei Beurlaubung der Eltern aufgrund von Therapieterminen stellen Herausforderungen für den Praxisalltag dar, die jedoch weder fachintern noch extern in grundlegende Diskussionen münden. Der gesellschaftliche Druck, der auf Familien lastet, kann kaum psychotherapeutisch als innerer Konflikt behandelt werden, sondern muss im Zusammenspiel zwischen Kinderanalytiker, Patient und seiner Familie gut und kompromisshaft ausgehandelt werden. Reflektieren wir unsere Kontaktaufnahmen mit öffentlichen Institutionen, Mitbehandlern, Kliniken und anderen, merken wir, dass wir kaum noch persönlich mit diesen Institutionen in Kontakt treten.

Unsere Welt hat sich verändert, wir werden das Rad nicht zurückdrehen. Ich persönlich plädiere für eine ausgewogene Haltung zwischen traditionellen Werten und zeitgemäßen Neuerungen. Ich selbst muss mir bewusst sein, dass Jugendliche ihre eigene Welt erschaffen, dass diese Welten mir davoneilen und dass ich sie auf diesem Weg begleiten möchte. Die damit verbundenen Kränkungen müssen ertragen werden, pädagogische Lehrmeisterei hilft keinem, die Betroffenen werden ansonsten nicht erreicht.

Die grundsätzliche Kritik am kindlich/jugendlichen Gebrauch digitaler Medien setzt sofort Abwehrprozesse in Kraft. Grundsätzlich geben Kinder und Jugendliche weniger Zeit für den Konsum digitaler Medien an, als sie tatsächlich dafür verwenden. Dies überträgt sich auch auf die therapeutische Situation. Die eigene Kontrolle über den Gebrauch ist zeitweise außer Kraft gesetzt, das verführerische Medium lässt jeglichen Sinn für die Realität ausblenden. Andererseits steigt die Zahl der Kinder oder Jugendlichen, die mittlerweile exzessiven Gebrauch von den digitalen Medien machen. Nicht selten steht der Missbrauch solcher Medien im Mittelpunkt der Anmeldung, der Konfliktsituation des Kindes oder Jugendlichen. Ein ausgewogenes Verhältnis, auch beim Schreiben hierzu einzunehmen, ist schwierig, die öffentliche Diskussion ist polarisiert. Der schlichte Versuch mancher Berufsgruppen, die mit Jugendlichen und Kindern beschäftigt sind, den Gebrauch pädagogisch zu bewerten bzw. zu verordnen, schlägt fehl. Auch hier wird die Seite der Erwachsenenwelt häufig außer Acht gelassen. Wie viele Eltern nutzen selbst diese Medien und wären gut beraten, dies selbst zu reflektieren? Kritisch betrachte ich die Nutzung solcher Medien im kinderanalytischen Alltag.

Kurz gesagt, unsere Welt bietet zu wenig Räume, in denen Kinder spontan vital und leidenschaftlich ihre Welt erforschen und erkunden können, deshalb ist die Erwachsenenwelt aufgefordert, dem entgegenzusteuern. Die mittlerweile übliche Freizeitgestaltung von Kindern ist das Spiel mit der Konsole, bei Jugendlichen der Online-Chat in den sozialen Medien. Die heutige Lebenswelt gestaltet sich hochambivalent, gesellschaftliche, familiäre Anforderungen an den Einzelnen müssen offenbar durch Besuch diverser mittlerweile nach kommerziellen Gesichtspunkten eingeführten Freizeitangebote (Fitnessstudio, Indoorspielplätze, Lasertag etc.) kompensiert werden. Der mediale Begleiter in Form eines Smartphones scheint heute bereits für viele jüngere Kinder zur Grundausstattung zu gehören, ihr Tagesablauf wird von diesem mitbestimmt. Erziehung setzt ein beziehungsdynamisches Modell voraus, dass auf den verschiedenen Ebenen reflektiert werden muss. Vielen Eltern fällt es jedoch heutzutage sehr schwer, sich Zeit zu nehmen und familiäre Interaktionsmuster zu hinterfragen. Auch Eltern geraten zunehmend unter Druck, kompetent und anpassungsfähig mit den gesellschaftlichen Vorgaben umzugehen.

Ein zehnjähriger Patient, gekennzeichnet vor allem durch seine tägliche Unlust und Langeweile, thematisiert in einer Therapiestunde mit gewissem Stolz, endlich den Anforderungen, sicherlich auch meinen, zu entsprechen und Sport zu treiben. Er spiele jetzt Tennis. Ich empfinde gegenüber dieser plötzlichen Veränderung meines Patienten sehr positive Gefühle und bin stolz darauf, den Bann gebrochen zu haben. Meine Enttäuschung folgt zugleich, als er mir darlegt, das Tennisspiel auf der Konsole perfekt zu spielen.

Was mich an dieser Szene nachträglich beschäftigt, ist die Selbstverständlichkeit des Jungen, mir seine »sportliche« Aktivität tatsächlich als Errungenschaft und Anpassung an die Erwartungen seiner Umwelt darzustellen. Weshalb geraten hier meine Betrachtungen seiner Aktivitäten in eine Diskrepanz? Einerseits befürchte ich, dass die Wahrnehmung seiner Aktivitäten sich zunehmend verzerrt, er in der Auseinandersetzung mit sich und seinem Körper zunehmend Schwierigkeiten zeigt. Nebenbei überlege ich mir, ob es heute noch passende Angebote im sportlichen Bereich für Jugendliche, die nicht »leistungsoptimiert« sind, gibt. Er hat das Gefühl, tatsächlich endlich etwas gefunden zu haben, was ihm entspricht und er regelmäßig ausführt, ohne es abzubrechen. Keiner kritisiert ihn, keiner schaut verächtlich aufgrund seiner Körperfülle. Bislang war Sport für ihn ein Ziel, an dem er scheiterte.

Was bedeutet dies nun für uns als Praktiker? Ich denke, nur über den Weg sich in die heutigen Lebenswelten der Kinder einzufühlen, können Möglichkeiten zum Verständnis und auch der Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen gelingen. Dies bedeutet eine intensive Selbstreflexion über das eigene Verständnis zur Digitalisierung und den entsprechenden Medien. Dies bedeutet auch, heutige Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen zu erforschen und zu erkunden, ohne im Vorfeld bereits durch eine kritische Sichtweise den Zugang zu der jüngeren Generation zu versperren.

Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen

Подняться наверх