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1.1 Gesellschaft und Krankheit

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Finzen (2018) beschreibt die unübersichtliche Fülle von Definitionen und Kategorien des Begriffes Krankheit, vor allem im psychiatrischen Bereich. Der Krankheitsbegriff steht unmittelbar in einem Wechselspiel zur jeweiligen gesellschaftlichen Realität. Krankheit impliziert die jeweilige aktuelle Definition von Gesundheit, Gesundheit wiederum die Zuschreibung von Normalität. Diese Kategorien unterscheiden bzw. verändern sich entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihres Kontextes. Auffälliges Verhalten wird zunächst durch ein Verständnis von Normalität beschrieben (ebd., S. 34).

Christa, 19 Jahre, befindet sich seit einiger Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Ihr vorheriger Klinikaufenthalt attestierte ihr als Diagnose eine schwere Depression. Eine niedergelassene Psychiaterin, die die Patientin während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufsuchte, äußerte, bei Christa keine Depression diagnostizieren zu können. Christa hatte große Schwierigkeiten, ihren Lebensalltag zu meistern und ihren Entwicklungsaufgaben nachzukommen. Sie erlebte sich völlig antriebslos, hatte massive Probleme, eine Arbeitsmaßnahme des Arbeitsamtes zu absolvieren und wirkte in der Regel sehr gereizt. Ein Internist kam auf die Idee, dass die Antriebslosigkeit somatischer Herkunft sei. Diese blieb in der Folge jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse. Christa konsultierte weiterhin verschiedene Ärzte, da sie kaum mit ihrer psychischen Problematik zurechtkam. Ihre Umwelt grenzte sie zusehends aus. Ihre Mutter meinte, sie solle sich zusammenreißen, früher ins Bett gehen und motiviert aufstehen. Sie selbst, so berichtet die Mutter, habe zeitweise keine Lust, ihrer Arbeit nachzugehen, dennoch müsse sie ihre Verpflichtungen erfüllen. Christa selbst kam zusehends unter Druck aufgrund der Reaktionen ihrer Umwelt.

Ich möchte dieses Beispiel anführen, um zu zeigen, wie unterschiedlich psychische Krankheit bewertet wird. In der Familie wird Christa als unmotiviert wahrgenommen, die es nicht gelernt hat, den Regeln oder Pflichten des Lebens nachzukommen. Auch in der Fachwelt gibt es, wie Christas Beispiel zeigt, keine eindeutige Diagnostik, sie ist scheinbar abhängig von Profession, Kenntnisstand und persönlicher Bewertung. Die Frage der Auffälligkeit oder der Normalität nimmt auch in der Fachwelt ideologisch gefärbte Beschreibungen an, das Beispiel des ADHS-Störungsbildes bestätigt dies. In einer Zeit der Individualisierung erscheint im Gegenzug die Individualität des Kindes mehr als ein Phänomen der Grenzenlosigkeit, der übersteigerten Emotionalität und der Gefahr, den Erwartungen der Gesellschaft nicht mehr entsprechen zu können. Anscheinend ist heute mehr denn je die Befürchtung der Ausgrenzung und des Versagens vorherrschend. Keupp (2007) verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Ideal der Autonomie und dem Zwang der Konformität. Göppel (1989) stellt in seinem Buch die kindlichen Auffälligkeiten vor dem Hintergrund der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Ausgehend von den Geschichten des Struwwelpeters versucht er eine Linie des auffälligen Kindes durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte zu zeichnen.

»Jederzeit und jede Gesellschaft bringt ihre eigenen Widersprüche und Belastungen hervor, die das gedeihliche Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gefährden. Jede neue Generation entwickelt ihre eigenen Probleme, Widerstände und Störungen in Auseinandersetzung mit den kulturellen Gegebenheiten und Forderungen, die sie vorfindet.« (ebd., S. 8)

Maria, 18 Jahre, bestach durch ihre ausgezeichneten Leistungen in der Schule. Je näher das Abitur rückte, umso mehr löste sie ihre bisherigen Beziehungen auf. Ihr Wunsch war ein Studium, dessen Zugangsvoraussetzungen vom Notendurchschnitt des Abiturs das schwierigste Studienfach darstellte. Erfolg und Attraktivität durch ihre besonderen Leistungen waren die Maxime ihres Lebens. Zusehends erlebte sie ihre Umwelt als Hemmschuh ihrer persönlichen Entwicklung, Freundschaften wurden aufgekündigt, um des eigenen Zieles willen. Maria hatte einen Abiturdurchschnitt von 1,0, Begeisterung und Idealismus fehlte in ihrer Reaktion. Ihre Beziehungen prägten sich jedoch zunehmend, gewissermaßen oberflächlich. Sie spürte für Momente ein Gefühl der Einsamkeit, stets durch ein maskenhaftes Auftreten kaschiert. Sie befand sich in einem massiven Konflikt. Maria brach ihre Psychotherapie ab, da sie auch ihren therapeutischen Prozess als Hindernis ihrer Leitidee, um jeden Preis souverän und erfolgreich zu sein, erlebte. Sehnsüchte nach Geborgenheit und Halt, die Suche nach der eigenen Identität und ihres Kontinuums in der Lebensgeschichte wurden von ihr abgewehrt.

Marias Fall zeigt eine Schattenseite unserer heutigen Zeit. Beziehungen, in denen gemeinsame Lebenswege reflektiert werden können und sich der Einzelne der geschützten Betrachtung von außen unterziehen kann, treten in den Hintergrund. Wir würden diesen Fall heute den narzisstischen Störungsbildern zuordnen.

Das soziale Umfeld in seiner Bewertung von Krankheit und in der Beteiligung krankheitsverursachender Faktoren stellt ein sehr komplexes Thema dar, das den Rahmen hier sprengen würde. Ich möchte dies zur Vereinfachung am Beispiel ADHS skizzieren. Die Diskussion um dieses Störungsbild spaltet die Öffentlichkeit grundsätzlich in Gruppen, die jeweils die Wahrheit für sich reklamieren. Besonders interessant erscheint die Bewertung und Interpretation dieses Störungsbildes über die Jahrzehnte hinweg, dessen sich Göppel (1989) angenommen hat. Kritisch an diesem Krankheitsmodell ist die mittlerweile inflationäre Einbettung von Auffälligkeiten in die ADHS-Diagnostik zu sehen, die es mit sich bringt, kindlich/jugendliches Verhalten zunehmend als abweichend und störend zu bestimmen. Lebensgeschichtliche Faktoren finden in der Regel keinen Eingang in die Diagnostik, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie z. B. die Reduktion des Kindes in der Schule ausschließlich auf seine Leistung oder die Veränderung traditioneller Familienformen (z. B. der fehlende Dritte), sind bei der Diagnosestellung im herkömmlichen Sinn nicht relevant.

Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen

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