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II.

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Graber überlegte schon eine ganze Weile, wie er mit dieser Klientin fertig werden sollte. Sie war nicht nur äußerst aufgebracht und redete dauernd dazwischen, sondern sie ließ ihren Sohn, um den es doch eigentlich ging, kaum zu Wort kommen, schon gar nicht, wenn er den eigentlichen Sachverhalt schildern sollte. Ein im Grunde ziemlich harmloser Ladendiebstahl, der von einem Kaufhausdetektiv beobachtet worden war, hatte in einem wüsten Gerangel bei der Aufnahme der Personalien im Büro geendet. Sowohl der Detektiv wie auch der Delinquent hatten erhebliche Blessuren davongetragen und beschuldigten sich nun gegenseitig der Körperverletzung.

Der Sohn, gerade noch minderjährig, von schlaksiger, aber sportlicher Gestalt, grinste vor sich hin, schien die Sache nicht sehr ernst zu nehmen und zeigte eine leicht verächtliche Distanz zu seiner Mutter. Frau Müller, eine kleine, etwas korpulente Beamtenwitwe, drückte schon durch die Art, wie sie sich breit auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch platzierte und ihren Sohn, der schräg hinter ihr saß, fast verdeckte, deutlich genug aus, wer hier das Sagen haben sollte. Als sie aber schon am Beginn der Schilderung der Vorfälle, auf die es doch ankam, wenn eine Verteidigungsstrategie sinnvoll entwickelt werden sollte, resolut dazwischenfuhr »Sei still, Bub!« und dann mit einem so plastischen Bericht anhob, als sei sie selbst dabei gewesen, reichte es Graber und er bat sie, draußen zu warten.

Er selbst schloss hinter ihr die Tür, nicht ohne vorher seiner Bürovorsteherin einen sprechenden Blick zuzuwerfen, den sie nur mit einem kaum merklichen Kopfnicken beantwortete. Die Verständigung zwischen Graber und ihr konnte sich in solchen Situationen mit knappsten Zeichen begnügen. Sie waren ein langjährig eingespieltes Team von zwar sehr unterschiedlicher Wesensart, aber beide in dem Ziel vereint, eine recht und schlecht laufende Anwaltspraxis einigermaßen über die Runden zu bringen. Er nannte sie seit jeher Elfi, obschon sie eigentlich Elfriede hieß, aber das klang doch allzu altmodisch. So hatte sich diese Verkürzung längst unter allen ihren Freunden und Bekannten durchgesetzt, obschon sie nichts Elfenhaftes an sich hatte.

Frau Müller maulte wieder los:

»Ihr Chef hat mich nicht einmal ausreden lassen.«

Aber Elfi traf offenbar den richtigen Punkt, als sie antwortete:

»Vor Gericht steht Ihr Sohn allein, da werden Sie ihm kaum helfen können. Und wenn Sie vor dem Richter dazwischenquatschen, werden Sie ohnehin auf den Flur verbannt. Da kann nur noch einer helfen und das ist der Anwalt. Und ich sagen Ihnen, Herr Graber setzt sich für ihn ein, das werden Sie sehen.« Jedenfalls beruhigte sich Frau Müller allmählich und nahm neben dem missmutigen älteren Herrn Platz, der bereits im Wartebereich der kleinen Kanzlei saß. So konnte Elfi sich wieder dem Computer zuwenden, neben sich eine aufgeschlagene Akte, an der anderen Seite das Telefon, hinter sich die Tür zum Büro, links vor sich der Garderobenständer neben dem Eingang und rechts dahinter die Flurerweiterung mit der Sitzecke. Sie hatte alles im Blick.

Der Vormittag war ruhig angelaufen. Graber, der ohnehin meist erst spät in die Praxis kam, hatte um zehn Uhr einen Gerichtstermin gehabt, eine Strafsache, aber da eine Schöffin krank geworden und der Ersatzschöffe so schnell nicht aufzufinden war, wurde die Verhandlung zum Ärger des Richters kurzfristig verschoben. Angemeldet war nur noch Herr Keilholz, der bereits wartete, – eine unangenehme Mietsache, bei der ein Räumungsbefehl beantragt war. Dabei hatte der Hausbesitzer allerdings völlig überzogen. Zwar war der arbeitslose Keilholz bereits sieben Monate im Mietrückstand und hatte weder auf die Mahnungen noch auf die Kündigung reagiert, zugleich hatte er aber Hauswartsaufgaben übernommen, zwar ohne Vertrag, doch stets bezahlt und insofern wohl zufriedenstellend ausgeführt. Mit solchen Dingen sich herumzuschlagen, machte viel Arbeit und meist lief es darauf hinaus, die Räumung noch einmal abzuwenden, also auf irgendeine Art von Vergleich, jedenfalls nichts, an dem etwas zu verdienen war. Eher so etwas wie Sozialarbeit. Aber hätte man Keilholz abwimmeln sollen? Oder auch nur können?

Und mit Herrn Öcalan, dessen Akte Elfi aufgeschlagen hatte, war es nicht viel anders, ein Kurde, bei dessen Namen allein vermutlich schon sämtliche Alarmglocken in der Ausländerbehörde losbimmelten. Er war ständig von der Abschiebung bedroht, nicht einmal eine formelle Duldung hatte er bisher erreicht. Seine einzige Chance bestand darin, dass man der Ausländerbehörde irgendeinen Verfahrensfehler nachweisen konnte, der einen neuen kleinen Aufschub bedeuten konnte. Aber trotz der ökonomischen Katastrophe, die solche Fälle für die Kanzlei bedeuteten, verschafften sie doch eine tiefe moralische Befriedigung, wenn es gelang, sie von Quartal zu Quartal am Köcheln zu halten. Was nicht endgültig entschieden wurde, war schon ein halber Sieg, bedeutete es doch für die Mandanten, dass wenigstens eine endgültige Niederlage abgewendet wurde, die nur ausweglose Schicksalsschläge zur Folge haben konnte.

Aber darin waren Graber und Elfi sich völlig einig, dass sie dieses Anwaltsbüro nicht allein zum Geldverdienen betrieben, sondern mit dem Anspruch, Leuten zum Recht zu verhelfen, die auf ihre Hilfe angewiesen waren. Nicht weil sie unschuldig wären, sondern weil das Recht immer bedroht ist, sei es von der Bürokratie, einer eigensinnigen Staatsverwaltung, sogar von der Justiz selbst, sei es von der Macht des Geldes. Das Recht aber ist das Zentrum aller demokratischen und sozialen Errungenschaften, ist ihr Garant. Dies war die unausgesprochene politische Philosophie, die sie teilten, ein nicht zu verachtender Rest, der von den Träumen von einer besseren, freieren und gerechteren Welt übrig geblieben war. Sie beide hatten sich schon im Studium kennengelernt, einem Studium, das noch von der Aufbruchsstimmung der 68er-Zeit geprägt war, auch wenn sie der Generation danach angehörten. Damals waren sie einige Zeit eng zusammen gewesen, hatten zwar ihr Lager geteilt, es aber nie bis zu einer gemeinsamen Wohnung gebracht. Schließlich war die Sympathie wärmebeständiger geblieben als die Liebe. Beide hatten sie noch in der Volkszählungskampagne mitgewirkt, aber Elfi war dann andere Wege gegangen, hatte noch vor dem Juraexamen ihr Studium abgebrochen, war nach Frankfurt gezogen, hatte einige Jahre in Galerien gejobbt. Erst Jahre später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen, beide nicht gerade vom Erfolg verwöhnt, von Karriere konnte man ohnehin nicht sprechen. Graber hatte es in einigen Kanzleien als Anwalt versucht, sich aber nie wohlgefühlt und manchmal hatte er auch den Eindruck, dass ihm die lukrativeren Fälle immer von den Kollegen weggeschnappt wurden. So hatte er den riskanten Entschluss gefasst, lieber allein im eigenen Büro zu arbeiten. Elfi, ein paar Jahre jünger als Graber, nun Mitte 40, suchte gerade eine Veränderung und hatte sich bereit erklärt, Graber das Büro zu führen. Er hätte keine Bessere dafür finden können.

Frau Müller rutschte unruhig auf ihrem Stühlchen herum, wahrscheinlich wäre sie am liebsten wieder in das Büro gestürmt und hätte das Wort an sich gerissen. Elfi beobachtete sie unauffällig und war zu jeder Schlichtung bereit, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie meldete sich mit dem ausgeleierten Sprüchlein, das ihr gedankenlos aus dem Mund flutschte:

»Anwaltspraxis Graber. Sie sprechen mit Elfriede Schamberger. Was kann ich für Sie tun?«

Eine geschmeidige Stimme meldete sich mit überdeutlicher Aussprache:

»H-ü-b-n-e-r. Kann ich Herrn Kollegen Graber sprechen?«

Sie war bei unbekannten Anrufern von größter Aufmerksamkeit und das Wort ›Kollege‹ hatte sie nicht überhört. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Gedächtnis zu kramen, um dann nachzufragen:

»Darf ich fragen, sind Sie Herr von Hübner?«

»Ganz recht.«

Es war nicht so, dass ihm der zusätzliche Namensbestandteil unwichtig gewesen wäre, er legte sogar großen Wert darauf, dennoch meldete er sich am Telefon stets nur mit ›Hübner‹, nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern sogar gänzlich unbescheiden. Denn im Grunde erwartete er, dass man ihn kannte und ihn sogleich ›vollständig‹ anredete. Kam es einmal vor, aber das war selten genug, dass er in einer ihm fremden Umgebung gezwungen war, sich selbst vorzustellen, pflegte er überdeutlich zu sagen: »Hübner, Otto von Hübner.« Es sollten keine Missverständnisse aufkommen.

»Einen Moment bitte, ich verbinde.«

Doch zunächst drückte sie auf die Unterbrechertaste und meldete sich bei Graber:

»Da ist ein Herr von Hübner in der Leitung.«

»Kenn ich nicht.«

»Vorsicht! Erzähle ich dir später. Wirtschaftsanwalt, ein hohes Tier.« Sie hatte sehr verhalten ins Telefon gesprochen, merkte aber, dass Frau Müller aufmerksam herübergeschaut hatte.

Graber war nicht ganz schlau geworden, was dieser Kollege wirklich von ihm wollte, es schien um einen Verkehrsunfall zu gehen und darum, dass er um die Mittagszeit zufällig in der Stadt sei und in der Kanzlei vorbeischauen könne. Natürlich wollte er keinen Termin vereinbaren (so sind solche Herren, aber das Wartezimmer mögen sie auch nicht, sondern rauschen am liebsten gleich ins Büro durch, ›nur auf ein Wort‹). Andererseits konnte es ein neues Mandat bedeuten, immerhin einen ordentlichen Versicherungsfall, und da soll man sich nicht anstellen. Natürlich hatte er Zeit (und würde notfalls sogar auf ihn warten).

Das musste er aber keineswegs. Gerade nachdem Graber Herrn Öcalan mit aufmunternden Worten verabschiedet hatte, kurz nach halb eins, kam Herr von Hübner ins Büro. Ganz gegen ihre Gewohnheit fragte Elfi weder nach Namen noch nach Begehr, sondern nahm ihm nach der Begrüßung sogleich den Staubmantel ab und öffnete die Tür zum Büro. Verwechslungen waren nicht möglich, ein solcher Besucher hatte sich noch nie in ihre Kanzlei verirrt. Die ganze imposante Erscheinung, groß, würdevoll, dabei aber höchst umgänglich und mit heiterem Strahlen im Gesicht, spiegelte einfach eine andere Liga als das sonstige Publikum. Sie hatte Graber schon zuvor instruiert mit allem, was ihr aus ihrer Frankfurter Galerienzeit erinnerlich war, und das war eigentlich nur vom Hörensagen. Natürlich vorwiegend aus der Museums- und Kunstszene. Und dass er mit wirklich allen führenden Wirtschaftsleuten persönlich bekannt sei. Rechtsanwalt, ja, aber ohne eigene Kanzlei. Was er tatsächlich arbeite und für wen, das wisse niemand. Da müsse schon eine Menge Kohle sein, jedenfalls gelte er als ein großer Kunstmäzen.

Elfi ging vor, Hübner folgte nur zögerlich, weil er sich ungeniert umsehen und einen optischen Eindruck von der Kanzlei gewinnen wollte, dann stellte sie Graber den Gast vor (statt umgekehrt). Sie dachte, dass es so richtig und geboten sei, schließlich kam er als Mandant, und selbst ein sehr bescheidenes Anwaltsbüro müsse auch eine gewisse Selbstsicherheit ausstrahlen. Die unverkennbare Verlegenheit Grabers, die sie sogleich bemerkte, überspielte sie, indem sie dem Besucher einen Kaffee anbot.

»Das ist reizend von Ihnen, vielen Dank, aber so kurz vor dem Mittagessen …«

Die Erzählung Herrn von Hübners von der eindeutig provozierten Beschädigung seines Autos am Vortag war sehr anschaulich durch blumige Ausschmückungen. Insbesondere das vulgäre Benehmen des bulligen Fahrers – »Silberkette und Gefängnishaarschnitt« – schilderte er mit köstlichem Humor. Er zeigte sich dabei keineswegs beunruhigt, nahm es eher als einen Ganovenstreich von Leuten, mit denen er sich eigentlich nicht abzugeben pflege oder gemeinmachen wolle, aber ganz durchgehen lassen könne man so etwas natürlich auch nicht. Graber versuchte, sich die Szene vorzustellen, war sich aber nicht sicher, ob er an seiner Stelle nicht in panische Angst geraten wäre. Aber dann interessierte ihn vor allem, wer dahinterstecken könnte. Wenn es keine persönlichen Feinde gab, wie Herr von Hübner versicherte, müsse man vielleicht an einen terroristischen Hintergrund denken. Indem er es aussprach, erschrak Graber sogleich, dass er selbst ein so abgedroschenes Vorurteil, wie es sich nur die Boulevardpresse ausdenken konnte, ins Gespräch brachte. Er bekam auch sogleich eine Abfuhr:

»Unsinn. Entschuldigen Sie, das halte ich für gänzlich abwegig. Das hieße nur, ein Schreckgespenst an die Wand zu malen.«

Graber lachte etwas gekünstelt auf, um seine Bemerkung selbst damit als Scherz zu entwerten.

»Sie haben völlig recht, diese Art Terrorismus gibt es bei uns zum Glück nicht. Wir leben doch in einer ziemlich friedlichen Ecke und nicht in Moskau.«

Noch so ein pauschales Vorurteil, das ihm da rausgerutscht war. Graber nahm sich vor, sich besser zu kon­trollieren.

»Sehen Sie, ich will mich damit nicht weiter ins Gespräch bringen. Und deshalb will ich auch nicht die Polizei einschalten. Wenn die das nämlich richtig ernst nähme, und das müsste sie doch wohl, dann ginge das womöglich los mit verstärkter Bewachung und Personenschutz und ähnlichen Vorstellungen. Dann würde ständig eine Polizeistreife da oben, wo ich wohne, herumspazieren und das ganze Umfeld aufgeschreckt werden. Unter Umständen gäbe es sogar einen Artikel in der Zeitung. Nein, danke. Das möchte ich niemandem von meinen Nachbarn zumuten, mir selbst auch nicht.«

»Sie wohnen am Lorettoberg?«

»Ja, kennen Sie die Gegend?«

»Nein, nicht so genau.«

»Es ist sehr ruhig da oben. Ziemlich alte Villen in großen Grundstücken. Und es wohnen auch hauptsächlich ältere Herrschaften dort, Rentner und Pensionäre. Ein sehr seriöser Umkreis. Im Allgemeinen wenigstens. Mein neuer Nachbar wird sich da hoffentlich gut einfügen.«

»Darf ich fragen, wer das ist?«

»Ach, wie heißt er noch? Fällt mir im Moment nicht ein. Dieser bekannte Hamburger Modeunternehmer. Von dem haben Sie sicher schon gehört. Er hat gerade sein Unternehmen verkauft und will sich jetzt hierher zurückziehen. In der Presse wurde über ihn und seine legendären Feste und Partys immer sehr spektakulär berichtet. Ein richtiger Sonnyboy. Da kam immer die ganze High Society, die Stars und die Sternchen und aufregende Models natürlich und der ganze Regenbogenverein. Aber das wird ja nun vorbei sein. Eine solche Gesellschaft haben wir ja hier gar nicht. Zum Glück.«

»Und so jemand will sich nun hier ansiedeln?«

»Er ist schon da. Ich habe aber wenig von ihm bemerkt, an seinem Haus wurde lange renoviert, eine recht große, alte Villa. Er soll eine umfangreiche Kunstsammlung haben, moderne Kunst. Platz genug wird dort sein. Allein der Eingangsbereich mit einem riesigen Treppenhaus, – da lässt sich einiges unterbringen. Eine schöne Altersresidenz. Wissen Sie, dies ist eine beliebte Gegend. Das beste Wetter von ganz Deutschland, wenigstens das wärmste. Hervorragende Restaurants, gute Weine. Die Nähe zu Frankreich und der Schweiz. Hier haben sich schon immer vermögende Pensionäre gerne zur Ruhe gesetzt. Und um auf unsere Geschichte zurückzukommen: Mir liegt daran, dass es bei uns dort oben so ruhig bleibt. Deshalb möchte ich auch kein großes Aufhebens machen.«

Die Frage blieb freilich im Raum und es dauerte recht lange, bis Graber sie beantwortet bekam, weil er sich nicht traute, sie direkt zu stellen: was er als Anwalt denn nun eigentlich dabei tun könne. Es lief darauf hinaus, die Sache mit der Versicherung zu regeln. Graber wagte nicht einzuwenden, dass dies vermutlich nur bedeute, den Schaden zu melden und bestenfalls einige Nachfragen zu beantworten. Gewiss, ein hochvermögender Wirtschaftsanwalt schlägt sich nicht gerne mit Versicherungen herum, das war Kleinkram, den man andere erledigen ließ. Und so fragte er zunächst nur, wie er denn auf ihn gekommen sei.

»Sie wurden mir von einem Kollegen aus der Anwaltskammer genannt. Ich fragte nach einem jungen, handsamen Anwalt, der auf dem Quivive ist, auch Strafsachen bearbeitet und noch nicht überlastet ist.«

Graber wunderte sich über die Ausdrucksweise. Vor allem das Wort ›handsam‹ überraschte ihn, es konnte nur so etwas wie ›zahm‹ bedeuten. Aber doch sicher nicht gegenüber der Versicherung? Da müsste er allerdings ›auf dem Quivive‹ sein. Also ›handsam‹ gegenüber Herrn von Hübner? Oder anders gesagt, er solle nach seiner Pfeife tanzen? Und dazu hatte man ausgerechnet ihn empfohlen? Einen Augenblick überlegte er, ob er diesen ohnehin lächerlichen Auftrag nicht ablehnen sollte. Andererseits konnte der Kontakt zu einem offenbar so bekannten und einflussreichen Herrn nur von Nutzen sein. Wofür auch immer, das ließ sich noch nicht absehen. Und so gab er sich ›handsam‹ und wartete ab, was weiter gemeint war.

Mit einiger Umständlichkeit schälte sich heraus, dass er zunächst bei der Straßenverkehrsbehörde herausbekommen solle, – als Strafverteidiger habe man doch gewiss Kontakte dorthin (eine merkwürdige Unterstellung) –, wer hier oder in der näheren Umgebung ein solch ungewöhnliches Fahrzeug fahre. Er selbst kenne sich mit Autofabrikaten nicht aus. Er malte auf einem der leeren Notizzettel, die auf dem Schreibtisch lagen, ein Gebilde, das wie das Zeichen der Londoner U-Bahn aussah, und schrieb ›Pat…‹ dazu. Ob dann ein Strafantrag gestellt werden solle, müsse man sehen, je nachdem. (Was solche Herren sich nur vorstellen, er ist doch kein Detektivbüro.) Graber blickte etwas verlegen auf die ungelenke Zeichnung vor ihm, ließ sich das schwarze Auto noch einmal genauer beschreiben und meinte dann lakonisch:

»Ein Nissan Patrol.«

Der alte Herr sah ihn bewundernd an, lachte vergnügt auf und rief:

»Großartig! Sie kennen sich offenbar bestens in dieser Szene aus. Sie sind der richtige Mann für mich.«

Ob er Graber damit als einen Anwalt solch düsterer Gestalten wie der an seinem Überfall beteiligten identifiziert haben wollte, blieb unklar. Meinte er etwa, unter seinen Klienten könnten diese beiden zu finden sein? Wollte er ihn gar nur ausforschen? Graber wurde zunehmend etwas misstrauisch, worum es eigentlich ging, verscheuchte diese Gedanken aber wieder, als der Ehrfurcht gebietende Kollege unbekümmert fortfuhr, es könne sein, dass er mit der Zeit noch einige Aufträge mehr für ihn habe. Mit Alltagsdingen habe er keinerlei Erfahrung. (Was waren denn juristische Alltagsdinge?) Er brauche einen versierten Allrounder und wolle es gerne mit ihm, Graber, versuchen. (Ein etwas seltsames Mandat, aber, na schön.)

Unter diesen Umständen das Beste war freilich, dass Herr von Hübner erklärte, nun gerne eine Kleinigkeit essen zu wollen, und fragte, ob Graber ihn nicht begleiten wolle. Vielleicht habe er ja auch eine Idee, wo man hier in der Nähe hingehen könne. Graber vermutete, dass dies auf eine Einladung hinausliefe und überlegte kurz, bevor er den Vorschlag machte, die ›Osteria Oporto‹ aufzusuchen. Er war sich sicher, dass dort um diese Zeit vor allem Anwaltskollegen verkehrten. Und mit Herrn von Hübner zusammen dort gesehen zu werden, machte sich sicher nicht schlecht fürs Renommee.

Elfi wollte dem ungewöhnlichen Besucher in den Mantel helfen, aber der nahm ihn ihr dankend aus der Hand und zog ihn sich allein über. Dabei sah er sie so überaus freundlich an, als wollte er sagen, dass er solche Hilfe von einer so reizenden Dame nicht annehmen könne. Graber stand wie ein hilfloser Stoffel daneben. Schließlich verabschiedete er sich sogar noch mit einem feinfühligen Handschlag. So etwas kam in dieser Kanzlei höchst selten vor. Aber Elfi benahm sich dabei, als wäre es eine gewohnte Selbstverständlichkeit. Graber öffnete wenigstens mit komplimentierender Geste die Türe.

*

Noch während man ihre Schritte auf der knarzenden Treppe nach unten hörte, klingelte das Telefon. Elfi erkannte, bevor sie den Hörer abnahm, auf dem Display sogleich die Nummer und flötete los:

»Das ist lieb, dass du anrufst. Gerade, als hättest du deine Augen überall. Eben sind alle gegangen und ich kann Pause machen.«

»Schön für dich. Bei mir ist es wie im Taubenschlag. Ich kann auch nur ganz kurz sprechen. Sehen wir uns heute Abend?«

»Wenn du magst.«

»Ich möchte dich unbedingt sehen. Und vielleicht eine Kleinigkeit kochen. Du weißt, wie mir der Kantinenfraß zum Hals raushängt. Kannst du nicht schnell noch auf dem Markt vorbeigehen und etwas Gemüse besorgen? Was dir gefällt. Alles andere habe ich.«

»Hast du spezielle Wünsche?«

»Nun, irgendetwas für eine kleine Gemüsepfanne, wir werden schon etwas daraus zaubern. Ich möchte spätestens um sechs hier Schluss machen.«

»Wenn nur nicht wieder etwas dazwischenkommt.«

»Heute nicht.«

»Bist du so sicher? Wenn wieder ein Mord passiert?«

»Heute auf keinen Fall. Ich hab das im Gefühl. Heut ist kein Wetter dafür.«

»Dein Wort in Gottes Ohr. Ich komme dann gegen halb sieben. Tschüs, mein Lieber.«

»Ciao, Bella.«

Elfi verstand dies weniger als schmeichelndes Kompliment, sondern als einen Ausdruck stiller Sehnsucht, der auch in ihr sogleich ein unbestimmtes Verlangen weckte. Ein stets präsentes Gefühl der Zugehörigkeit verband sie mit ihrem Freund Wolfgang Grabowski, etwas Selbstverständliches, das zu seiner Festigkeit keiner ständigen Beteuerungen und fortlaufenden Versicherungen durch schöne Worte bedurfte. Aus dem Alter waren sie beide heraus. Jedoch konnte sie – und er wahrscheinlich auch – aus allen gegenseitigen Worten, diesen vielstimmigen Akkorden des Alltags mit seinen Melodien aus Belanglosem und Bedeutungsvollem, stets die Grundstimme heraushören, die Nähe oder Weite ausdrückte, Wunsch oder Widerstreben, Begierde oder Erschöpfung. Dieser basso continuo begleitete sie beide und drückte eine Zugehörigkeit aus, die in ihrem realen Leben keineswegs für jeden sichtbar war. Denn sie lebten nicht zusammen, sondern jeder für sich und demonstrierten auch keine Auftritte als Paar. Das fiel ihnen leicht, denn gemeinsame Freunde hatten sie nicht, im Übrigen entgingen sie damit auch jeglichem Gerede. (Natürlich wusste Graber davon, der Uralt-Freund von Elfi, vor dem sie keinerlei Geheimnisse hatte.) Aber Grabowski schirmte sein Privatleben sorgfältig vor den Kollegen ab, er nannte das seine Berufshygiene. Sie beide genossen, ihren gereiften Jahren entsprechend, in ihrer Zuneigung auch ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, weil sie vielleicht ahnten, dass zu große Nähe dem gemeinsamen Band die Spannung genommen hätte. Sie mussten sich immer wieder zusammensuchen, aber darin lag nichts Beunruhigendes, weil sie sich insgeheim sicher waren, sich jederzeit erneut zu entdecken. Und es brauchte nie sehr viel, um aus Sehnsucht Begierde entstehen zu lassen und den Weg zu finden in ausgiebige Erfüllung und Sättigung.

Sie hatten einen gemeinsamen Abend vor sich, ungestört und ganz für sich selbst, angefangen mit einem leichten Essen, zu dem Elfi vom Markt noch einiges Frisches mitbringen sollte. Von der Herrenstraße bog sie ab, schlenderte auf der Nordseite des Münsters zwischen den Ständen herum. Es war immer noch sehr voll, obwohl einige Händler bereits die Körbe und Gemüsekisten zusammenstapelten, denn pünktlich um zwei Uhr mussten die Karren und Auslagen den Platz räumen, um den Fahrzeugen der Stadtreinigung Platz zu machen. Bei einem Marktstand aus Eichstätten, der immer besonders schönes Gemüse hatte, fand sie einen Bund junger Möhren, ungespritzt, wie bei allen Bauern dieser Kaiserstühler Gemeinde, und jungen Spinat.

Dann fiel ihr ein, vielleicht noch ihre Freundin Monique zu treffen, die um diese Mittagszeit meist im ›Café Wiener‹ saß. Natürlich hieß sie eigentlich Monika, aber das war nun wirklich demodé, zumal wenn man eine Modeboutique besaß. Elfi schlängelte sich durch den lebhaften Fußgängerverkehr am Bertoldsbrunnen, wo offenbar um diese Zeit alle Schüler Freiburgs sich trafen oder zumindest auf ihrem Nachhauseweg umsteigen mussten, lief durchs Martinstor zum Café und sah schon vom Eingang aus ihre Freundin auf ihrem mittäglichen Stammplatz.

»Du siehst wieder toll aus. Der Shawl steht dir super.«

»Finde ich auch. Genau meine Farben.«

»Ist der von euch?«

»Na klar. Ist gerade erst hereingekommen. Du musst einfach mal wieder in den Laden kommen. Wir haben wunderschöne Sachen jetzt. Etwas abgetönt, nicht so laut, mehr dezent, aber ganz tolle Farben. Dinge, die man wirklich tragen kann. Und trotzdem sehr modisch. Würde ich dir gerne zeigen.«

»Ich bin schon lange nicht mehr richtig shoppen gewesen. Hier und da mal ein kleines Teil, aber eigentlich habe ich nichts Richtiges mehr anzuziehen, muss mich mal rundum erneuern, gerade jetzt, wo der Sommer kommt.«

»Das musst du aber bald machen, ist schon ziemlich ausgesucht. Obwohl, deine Größe«, sie schaute etwas abschätzend auf Elfis schmale Figur, »da lässt sich noch etwas finden.«

Beide schauten in die bereitliegenden Karten.

»Ich weiß schon, was ich nehme.«

Elfi zögerte noch, sah dann ihr Gegenüber fragend an.

»Einen Apfelstrudel mit Vanillesoße. Wir haben als Kinder immer Familiensoße dazu gesagt. Habe ich jetzt richtig Lust darauf.«

»Na gut. Nehme ich auch. Und einen Espresso danach.«

»Du, ich muss dir was erzählen. Ganz neu. Du kennst doch Legrand?«

»Nein, wer ist das?«

»Ich bitte dich, Legrand, der Modemacher, den kennt doch jeder.«

»Ach, der? Aber den kennst du doch nicht persönlich?«

»Nein, natürlich nicht. Bis jetzt wenigstens.«

Der Kellner kam vorbei und Elfi fragte, ob der Apfelstrudel warm sei.

Auf sein zerstreutes Nicken hin bestellten beide das Gleiche.

»Was ist nun mit diesem Legrand?«

»Der zieht nach Freiburg, stell dir das vor. Die Firma hat er ja verkauft, die geht jetzt zu …, na, fällt mir gerade nicht ein, das kommt gleich wieder. Also, der zieht nach Freiburg, für ganz, hat eine Villa am Lorettoberg gekauft. Und da gibt es demnächst eine riesige Einweihungsparty. Kommst du mit? Wir könnten zusammen dahin gehen.«

»Aber geht denn das? Ich kenne den doch gar nicht.«

»Das macht doch nichts. Ich nehme dich einfach mit. Da kommt die ganze Freiburger Modeszene hin, sind alle eingeladen. Und sonst werden auch noch eine Menge Leute da sein. Seine Feste in Hamburg sind legendär. Ich bin zwar noch nie dabei gewesen, kann ja meistens hier nicht weg«, sie redete sich jetzt richtig in Fahrt und malte sich aus, was der eigenen Anschauung fehlte, »aber du hast ja sicher schon Bilder davon gesehen, in der ›Bunten‹ und der ›Gala‹ und solchen Zeitschriften. Natürlich Schicki-Micki bis zum geht nicht mehr. Immer viel Prominenz, all die Leute, die seine Sachen tragen, Filmstars, Fernsehen, Krethi und Plethi.«

»Du glaubst doch nicht, dass die nun alle hierher kommen.«

»Warum denn nicht? In Hamburg kamen sie auch immer von weit her, aus Berlin, München, Düsseldorf, teilweise mit dem Privat-Jet. Bei solchen Festen schrecken die vor nichts zurück. Das sind nationale Ereignisse. Sonst wäre ja auch nicht so viel Presse dabei. Die wollen doch alle gesehen und fotografiert werden. Hast du noch nie gehört, was für schicke Kleider die da vorführen? Sündhaft teure Roben, ganz toll gestyltes Outfit, und immer den letzten Schrei. Die neuesten Modelle eben von den großen internationalen Marken, die wollen alle dabei sein, ist halt so ein Showlaufen. Und dann ist es auch Werbung. Das zahlt natürlich die Firma.«

»Könnte ganz interessant sein. Man kennt so etwas schließlich nur von Bildern. Die alle einmal live zu erleben …«

»Und stell dir vor, so etwas bekommen wir jetzt hier in Freiburg. Endlich mal was los hier. Das können wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Also abgemacht? Wir gehen zusammen hin.«

Elfi erkundigte sich etwas zögerlich: »Wann soll denn das sein?«

»Ende April. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, an Walpurgisnacht, also am Abend vor dem 1. Mai. Ist ein Feiertag danach, da können wir prima ausschlafen. Ich möchte mal wieder so richtig abtanzen bis zum Umfallen, die ganze Nacht durchmachen. Das ist schließlich was anderes als Disco. Auf so einem Fest«, sie lachte schrill auf, um gleich danach leise raunend fortzufahren, »da gibt es noch richtige Männer. Die können wirklich tanzen, die Modewelt eben. Hat viel mehr mit Theater und Film zu tun. Nicht diese schrecklichen Bubis von der unteren Etage mit gegeltem Haar, wie im ›Kagan‹, die sich schon super finden, wenn sie nur einmal mit dem Lift ganz nach oben fahren dürfen. Da geh ich auch nicht mehr hin. Aber das hier, das ist wirklich klasse, kannst du gar nicht vergleichen.« Sie holte tief Luft nach so viel Emphase und fügte zerstreut an: »Ich ruf dich noch an und sag dir Bescheid.«

Mittlerweile war der Apfelstrudel gekommen und dampfte vor sich hin.

Elfi, immer noch skeptisch, grübelte: »Und was ziehe ich da an?«

»Da werden wir schon etwas finden. Ich habe mir auch noch nichts überlegt. Wir werden irgendetwas Verrücktes kombinieren. Oder selbst erfinden. Das ist die Gelegenheit. Je verrückter, je toller. Auffallen muss man schon, das ist schließlich der Hauptspaß dabei. Und das hier in dem ständig so zurückhaltenden Freiburg. Wo die ganze Mischpoke immer so auf gediegen mimt. Das muss man mal richtig aufmischen. Komm doch in den nächsten Tagen einfach in den Laden, aber ruf mich sicherheitshalber vorher an. Damit wir nicht dauernd gestört werden. Das wird ein Heidenspaß.«

Lorettoberg

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