Читать книгу Held des Weltraums: Mark Tolins Band 1-17 - Die ganze Serie - W. W. Shols - Страница 66
Bin ich meines Bruders Hüter?
ОглавлениеDie Newport-Street in Brooklyn ist eine verhältnismäßig breite Straße, die zum Hafen hinunterführt, eine schmutzige, verwohnte Straße zwischen grauen, vernachlässigten Mietskasernen, eine Straße voll kleiner Geschäfte, Kellerkneipen und Bars, eine Straße mit Toreinfahrten, müllverseuchten Höfen und trostlosen Hinterhäusern, eine Straße voller Kinder und Jugendlicher, Nichtstuer und Arbeiter und trübseliger Frauen beim Einkaufen. Es gibt bei weitem schönere Straßen als die Newport-Street, aber andererseits gibt es Tausende solcher Straßen, in denen eine billige Bürgerlichkeit die äußere Armut und die innere Armseligkeit nicht mehr decken will.
Betty Darcay wohnte im zweiten Stock in Untermiete. Ihr Name stand handgeschrieben auf einem Stück Karton, der mit Reißnägeln an der Tür befestigt war. Die Tür hatte seit Jahren keine Seife mehr bekommen, ein Schicksal, das sie mit dem ganzen Treppenhaus teilte. Die Luft roch wie in allen Mietskasernen nach Armut und Schmutz, Kraut und Windeln.
Biggy drückte auf die Klingel. Er hatte sich so unauffällig wie möglich angezogen, sah aber trotzdem viel zu sauber und zu seriös aus. Ein Ringelpullover hätte besser in diese Umgebung gepasst als ein weißer Kragen.
Eine ältere Frau öffnete und musterte ihn neugierig. Sie war schlampig angezogen und hatte schon lange keinen Frisör besucht, aber in ihrem Gesicht lag eine müde Freundlichkeit.
»Mrs. Darcay?«, tippte Biggy, während er höflich seinen Hut hob und seine tadellose Frisur entblößte.
»Bin ich nicht«, kam eine vorsichtige Antwort. »Wenn Sie zu Betty wollen - Miss Darcay ...«
»Gewiss.«
»Aber wir geben nichts«, sagte die Frau entschieden und holte die Tür wieder heran. »Wir brauchen unser Geld selbst. Und überhaupt ist Betty eben erst nach Hause gekommen. Und für Predigten ist sie auch nicht zu haben. Oder bringen Sie was?«
»Ich bin der Weihnachtsmann«, erwiderte Biggy mild. »Stoßen Sie sich nicht an meinem Aufzug. Der Bart ist in Reparatur, und außerhalb der Festtage trage ich ohnehin immer Zivil. Man kann nicht das ganze Jahr als Weihnachtsmann herumlaufen, denn das würde die Kinder durcheinander bringen.«
Die Frau starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Na, Sie sind aber ein Komischer! Der Weihnachtsmann in Zivil? Also mich geht das ja nichts an, aber wenn Sie hier Quatsch machen, rufe ich das ganze Haus zusammen. Die zweite Tür rechts. Betty! Besuch für Sie!«
Es war alles drin, Der Besucher war ihr nicht geheuer, aber sie ließ ihn über die Schwelle. Sie versäumte jedoch auch nicht, ihre Untermieterin zu alarmieren. Betty Darcay erschien denn auch, bevor Biggy ihre Tür erreicht hatte.
Sie war eine Überraschung. Sie war noch nicht viel über die Zwanzig hinaus, wirkte sauber und intelligent, war mindestens durchschnittlich hübsch und machte einen angenehmen Eindruck. Vermutlich hatte sie eine gute Portion menschlicher Wärme an sich, die sie allerdings im Augenblick hinter einem wachsamen Misstrauen zu verbergen suchte.
»Sie wollen zu mir?«
»Miss Betty Darcay?«, vergewisserte sich Biggy. »Wellington ist mein Name, ganz schlicht und einfach Archibald Wellington. Falls Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben sollten ...«
»Um was handelt es sich?«, fragte Betty Darcay ohne merkliches Entgegenkommen.
»Er sagt, er wäre der Weihnachtsmann in Zivil«, erläuterte die Wirtin, aber Biggy hielt sich an das junge Mädchen.
»Vermutlich eine private Angelegenheit, Miss Darcay.«
»Ich habe keine privaten Angelegenheiten.«
»Nun, wir wollen nicht gleich übertreiben«, riet Biggy sanft. »Private Angelegenheiten lassen sich nie ganz vermeiden. Ich könnte natürlich die Polizei bitten, sich darum zu kümmern, aber ich dachte, es wäre besser ...«
»Kommen Sie herein!«, unterbrach sie schroff und trat zurück.
»Weihnachtsmann!«, beklagte sich die Wirtin.
Das Zimmer war groß und billig, aber nett eingerichtet. Hinter zwei Plastikvorhängen konnte Biggy eine Dusche und eine Kochnische bemerken.
»Nehmen Sie bitte Platz«, forderte Betty Darcay auf, während sie die Tür abschloss. »Sagen Sie, was Sie von mir wollen, aber sprechen Sie nicht so laut, dass man es durch die Tür hindurch hört. Hier wohnen lauter anständige Leute, aber die wollen alle nichts mit der Polizei zu tun haben. Sie kommen wegen Jim, nicht wahr?«
»Vielleicht«, blieb Biggy vorsichtig, während er sich auf einen der Stühle setzte. »Ihr Freund?«
»Jim? Jim ist mein Bruder. Wussten Sie das nicht?«
Sie stand schon wieder unter Alarm. Er konnte es ihr nicht verdenken. Vielleicht war es besser, ein oder zwei Karten auf den Tisch zu legen. Sie sah ziemlich vernünftig aus.
»Ich wusste es nicht, Miss Darcay«, gab er zu. »Ich weiß so wenig, dass ich zu Ihnen gekommen bin, um einiges zu erfahren. Vielleicht sollte ich Ihnen einfach erzählen, was vorliegt.«
»Das wäre das Beste«, nickte sie, ohne den Blick von seinem Gesicht zu nehmen. Sie schien darauf trainiert zu sein, sich Menschen genau anzusehen.
»Also, es handelt sich um einen Gepäckschein, Miss Darcay. Ich habe ihn gefunden. Auf der Rückseite stand Ihre Adresse.«
»Und?«
»Ich bin der neugierige Typ«, gestand Biggy bescheiden. »Es hätte ja immerhin ein ungültiger Schein sein können, nicht wahr? Und zufällig war der Zentralbahnhof ganz in der Nähe. Da habe ich mir eben einmal den Spaß gemacht. Ich denke, mich trifft der Schlag, als der Mann tatsächlich einen Koffer vor mich hinstellt - nicht groß, ziemlich schäbig und eigentlich überhaupt nicht der Rede wert, aber immerhin ein Koffer. Was sollte ich tun? Gleich wieder zurückgeben? Für wen hätte mich der Angestellte gehalten? Vielleicht für einen Verrückten oder gar für einen Gauner, dem der Koffer gar nicht gehört.«
»Er gehörte Ihnen ja auch nicht«, nagelte sie ihn rücksichtslos fest. »Aber weiter.«
»Nichts weiter«, seufzte Biggy. »Natürlich ist es ein alter Koffer, und die Schlösser an diesen Plastikkoffern taugen schon nichts, wenn sie neu sind. Wahrscheinlich muss ich ungeschickt mit ihm angestoßen sein, so dass er aufgesprungen ist.«
Sie trat einen Schritt in Richtung Tür zurück. Ihre Stimme kam aus dem Kühlschrank.
»Ich verstehe. Sie haben widerrechtlich einen fremden Koffer an sich gebracht und ihn widerrechtlich geöffnet. Was hat das nun mit mir oder meinem Bruder zu tun?«
»Die Adresse auf dem Gepäckschein, Miss Darcay.«
»Wichtigkeit!«, lehnte sie ab. »Wenn Sie etwa glauben. Sie könnten mich oder Jim für den Koffer verantwortlich machen, haben Sie sich getäuscht. Verkaufen Sie meinetwegen das Werkzeug, aber versuchen Sie lieber nicht, Geld aus mir herauszuholen.«
»Sie müssen vorsichtiger sein«, empfahl Biggy sanft. »Von dem Einbruchs-Werkzeug hatte ich noch gar nichts erwähnt.«
Sie presste die Lippen zusammen. Er fuhr fort:
»Es ist sehr großzügig von Ihnen, dass Sie mir das Werkzeug überlassen wollen; aber wie steht es um diese zweitausend Dollar, die sich in dem Koffer befanden?«
Das riss sie aus der Reserve heraus.
»Zweitausend Dollar?«
»Genau. Wenn Sie mir das Geld ebenfalls schenken wollen ...«
»Ich denke nicht daran!«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Der Koffer geht Sie überhaupt nichts an. Er gehört Jim. Ich weiß nicht, was er wieder angestellt hat, aber Sie sind nicht berechtigt, ihm seinen Koffer und sein Geld wegzunehmen.«
»Welches Glück, dass ich nicht die Absicht hatte.«
»Das sagen Sie jetzt.«
»Ich meine es sogar. Sie können den Koffer jederzeit haben. Das Geld habe ich sogar gleich mitgebracht. Bitte.«
Er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche und wedelte damit. Sie griff nicht zu, aber ihr Blick ging zwischen dem Geld und seinem Gesicht hin und her. Nach einer Pause fragte sie beherrscht:
»Was wollen Sie eigentlich?«
»Hm, um es genau zu sagen: Auskünfte über Ihren Bruder.«
»Polizei?«
»Nein.«
Sie schwieg wieder. Abermals nach einer Pause sagte sie unruhig, aber auch nachdenklich:
»Ich komme mit Ihnen nicht zurecht. Ich bin Sekretärin in einem Reisebüro und sehe täglich eine Menge Menschen, so dass ich mich ein bisschen auskenne, aber ich kann mit Ihnen nichts anfangen. Wollen Sie tatsächlich das Geld abliefern, oder wollen Sie mich und Jim hineinlegen? Und wenn Sie nicht von der Polizei sind - welches Interesse haben Sie an Jim? Wer sind Sie überhaupt?«
Biggy lächelte väterlich.
»Archibald Wellington, wie ich schon erwähnte, Miss Darcay. Ich hoffe, Sie stoßen sich nicht an dem berühmten Namen, zumal er möglicherweise ohnehin falsch ist. Im Übrigen glaube ich, dass jetzt der historische Moment gekommen ist, in dem Sie sich setzen sollten. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich weder von der Polizei bin noch beabsichtige, Sie oder Ihren Bruder zu schädigen. Ich möchte mich mit Ihnen nur über Ihren Bruder unterhalten. Vielleicht können Sie inzwischen das Geld an sich nehmen.«
Sie kam zögernd heran, streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück.
»Nein! Ich will nichts damit zu tun haben. Machen Sie das mit Jim aus.«
»Sie wissen, wo er sich aufhält?« Sie setzte sich auf den zweiten Stuhl, tastete noch einmal prüfend sein Gesicht ab und antwortete dann ruhig:
»Nein. Sie sind an der falschen Adresse. Ich kann Ihnen über Jim nicht mehr sagen, als Sie für fünf Dollar auch von meiner Wirtin oder anderen Leuten auf der Straße erfahren können. Er ist ein paar Jahre älter als ich und befand sich schon auf der schiefen Bahn, bevor ich Verstand genug hatte, um es zu sehen. Er ist ein kleiner Einbrecher wie mancher andere, hat schon zwei Vorstrafen und begreift trotzdem nicht, wie idiotisch er sich benimmt. Ich bin mit ihm auseinander, nachdem alles nichts genützt hat. Ich will mir mein Leben nicht auch noch verderben lassen, auch wenn es nicht viel hergibt. Das ist alles. Wenn Sie Jim brauchen, müssen Sie in den Kneipen nach ihm suchen.«
»Sie haben ihn lange nicht gesehen?«
»Er kommt nicht mehr hierher. Vor einer Woche bin ich ihm zufällig auf der Straße begegnet. Das war das letzte Mal.«
»Wo wohnt er?«
»Ich weiß es nicht. Fragen Sie in den Kneipen.«
»Keine schwesterlichen Sorgen, was?«
»Ich bin nicht meines Bruders Hüter«, parierte sie scharf. »Er ist selbst erwachsen genug.«
Er hielt ihr ein Bild hin.
»Ist er das?«
Sie beugte sich vor und ruckte gleich darauf zurück. Ihr Gesicht verlor das bisschen Farbe.
»Ja. Was - ist er tot?«
»Ja.«
Sie bemühte sich stumm um ihr Gleichgewicht. So ganz gleichgültig schien ihr der Bruder doch nicht zu sein, sie fing sich jedoch bald ab. Nur ihre Stimme blieb verklemmt.
»Wie ist es passiert? Und was geht es Sie an?«
»Ich habe ihn gefunden, Miss Darcay. Es war alles sehr merkwürdig, und er hätte mich in Ungelegenheiten bringen können. Deshalb hielt ich es für besser, die Polizei aus dem Spiel zu lassen und mich selbst umzutun. Sie wissen, wie es manchmal zugeht.«
»Ich weiß es«, bestätigte sie bitter. »Und was wollen Sie nun?«
»Das Geld abliefern, Miss Darcay. Nach dem Tod Ihres Bruders wird es Ihnen gehören. Das Werkzeug können Sie auch bekommen. Ich hoffte, im Gegendienst von Ihnen einige Hinweise zu erhalten, die mir helfen, das Schicksal Ihres Bruders aufzuklären.«
»Welches Interesse haben Sie daran?«
Sie verstand sich auch ganz schön auf das Festnageln, aber Biggy lächelte nur sanft dazu.
»Wir wollen nicht gleich alle unsere kleinen Geheimnisse verraten, sonst haben wir uns später nichts mehr zu erzählen. Mit ein paar Hinweisen wäre ich für heute zufrieden - seine Freunde und Freundinnen, Wohnung, Beschäftigung und andere Kleinigkeiten. Übrigens - interessiert er sich zufällig für Raumfahrt?«
»Für was?«, wunderte sie sich. »Für Raumfahrt? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht! Jim hat nie - oh, das ist aber sonderbar!«
Irgendetwas war ihr eingefallen. Sie wog es ab, bevor sie damit herauskam.
»Sie wissen bestimmt schon mehr als ich, sonst kämen Sie nicht damit. Tatsächlich hat er bei unserer letzten Begegnung ein paar sonderbare Bemerkungen gemacht. Ich habe ihn natürlich zur Rede gestellt und ihn gebeten, endlich ein anständiges Leben anzufangen.
Daraufhin hat er gesagt, mit der Einbrecherei wäre es jetzt ohnehin vorbei, und er wüsste einen Weg, wie man. viel leichter zu Geld kommt, und man müsste sich an die Leute halten, denen es auf ein paar Millionen nicht ankommt Ja, und dann kam das Merkwürdige. Er sagte, es wird ihnen nichts nützen, wenn sie sich auf dem Mond oder sonst wo verstecken. Er wüsste, was mit Joff passiert ist, und Joff wäre bestimmt nicht der einzige, der bei diesen Raum-1euten draufgegangen wäre. Ja, so war es. Ich habe nichts darauf gegeben. Jim spielte sich auf, wo er konnte.«
»Hat er noch etwas über diese Raumleute gesagt?«
»Nein. Oder doch. Er erwähnte etwas von einem verrückten Alten, falls Ihnen das weiterhilft.«
»Vielleicht. Wer ist Joff?«
»Einer von Jims Freunden. Fragen Sie in der Bar ›Zum stillen Anker‹ nach ihm. Sie ist nur ein paar Häuser von hier entfernt. Nehmen Sie sich aber Rückendeckung mit. Neugierige sind dort nicht beliebt.«
»Herzlichen Dank, Miss Darcay«, murmelte Biggy und stand auf. »Ich bringe Ihnen den Koffer mit dem Werkzeug auch noch vorbei. Vielleicht ist Ihnen bis dahin noch etwas eingefallen.«
»Das Geld!«
»Mir gehört es nicht. Sie können es ja notfalls der Heilsarmee stiften.«
»Bin ich verrückt?«, fragte sie nüchtern. »Aber Sie können die Hälfte davon haben. Wenn Sie es nicht abgeliefert hätten ...«
»Mein Charakter!«, seufzte Biggy, Während er sich zur Tür zurückzog. »Ein Geburtsfehler, aber gegen einen anständigen Charakter ist man machtlos. Ich habe sogar einmal ein Gebiss abgeliefert, obgleich das der Dame peinlich war. Auf die Dauer wird es sich einfach nicht vermeiden lassen, unter der Rubrik ›Ehrlicher Finder‹ in die Zeitung zu kommen. Empfehlen Sie mich bitte Ihrer verehrten Wirtin, die so eifrig am Schlüsselloch gelauscht hat.«
»Weihnachtsmann!«, zischte die Wirtin verächtlich, als er über die Schwelle kam und sie beiseite schob.