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ОглавлениеUm neun Uhr abends hatten wir in Berlin sein sollen: sechs Uhr früh ist’s geworden.
Nach einem schrecklichen Kampf um Gepäck, Droschke, Dienstleute, Bahnbeförderung komme ich nachmittags um vier in Frankfurt an.
Hochbepackt rumpelt die Kalesche durch die vertrauten Straßen. Hält endlich vor dem Kasernentor.
Leutnant Maron kommt mir entgegen, der junge, schlanke, prächtige, liebe Gesell.
„Herr Hauptmann — wer hätte das vor vierzehn Tagen gedacht!“
„Ja, mein lieber Maron — jetzt wird’s ernst!“
„Jawoll! die zweite Kompagnie wartet drinnen bereits mit Schmerzen auf Herrn Hauptmann!“
„Die zweite! — und ihr Chef — Hauptmann Gebhard?“
„Kommt zum Reserveregiment.“
„Und Sie?“
„Ordonnanzoffizier beim Regimentsstab.“
„Gratuliere! Na, wird’ ich mal gleich meinen Feldwebel aufsuchen. Wiedersehen!“
„Wiedersehen, Herr Hauptmann!“
Ich suche das Geschäftszimmer des ersten Bataillons auf. Treffe Leutnant Stumpff, den jungen, rosigen Adjutanten — der sich noch vorm Ausrücken mit der Schwester unseres Kameraden Grapow kriegstrauen lassen wird. Melde mich bei Major von Kleist. Überall die gleiche herzliche Aufnahme, der gleiche fröhliche, gesammelte Ernst.
„Sie werden in den nächsten Tagen alle Hände voll zu tun bekommen“, sagt der Kommandeur. „Ihre beiden Offiziere, Leutnant von der Osten und Leutnant der Reserve Grabert, sind auf Kommando, holen Reservistentransporte. Die ganze Mobilmachung müssen Sie allein mit dem Feldwebel machen. Aber Ahlert ist ja tüchtig, wie Sie wissen.“
Und bald steh’ ich in der Schreibstube „meiner“ Kompagnie, „meinem“ Feldwebel gegenüber. Kompagnievater und Kompagniemutter. Ein noch junger, kräftiger Mann mit blitzenden Soldatenaugen im runden Braungesicht, dessen Oberlippe ein weiches Schnurrbärtchen antuscht. Wir schütteln uns kräftig die Hand — versprechen uns gute Kameradschaft und vertrauenvolles Zusammenarbeiten. Wir haben’s gehalten.
„Wollen Herr Hauptmann die Kompagnie gleich mal sprechen? Es sind schon etwa fünfzig Mann Reserve eingetroffen.“
Ich will. Ahlert lässt antreten. Ich schlendre auf die sich ausrichtende Front meiner künftigen Waffengefährten zu.
In mir singt ein wildes Jubellied.
„Stillgestanden! Richt’ euch!“
Mit der gemessenen Lebhaftigkeit des altgedienten Unteroffiziers geht Ahlert auf den rechten Flügel, nimmt sich ein paar Sekunden Zeit, die Richtung zu verbessern.
„Augen gerade — aus! Augen — rechts!
Nun steht er kerzengerade vor mir, Aug’ in Auge:
„Kompagnie zur Stelle mit vierzehn Unteroffizieren, hundertzweiundsechzig Mann!“
Aller Augen sind auf mich gerichtet, neugierig, prüfend, durchdringend. Und mein Herz gelobt euch stumm die Treue, ihr fremden Hundertsechsundsiebzig.
„’Tag, zweite Kompagnie!“
„’Tag, Herr Hauptmann!“
Ein Schrei ist das, wie ein Schlachtruf: die vier Wände der Kaserne geben Echo.
„Zum Kreise rechts und links schwenkt — marsch!“
Ich stehe inmitten „meiner“ Kompagnie. Ich halte ihr eine Rede — die erste von vielen. Noch nie in meinem Leben, so etwa wird’ ich gesagt haben, hab’ ich einen stolzeren Augenblick erlebt als diesen, da es mir vergönnt ist, mich an die Spitze der zweiten Kompagnie unseres altberühmten, herrlichen zwölften Grenadierregiments zu stellen. Und ich weiß: euch allen geht’s nicht anders. Von Ost und West dräut der Feind heran, unser liebes Vaterland zu zerschmettern. Und uns ist es vergönnt, des deutschen Mannes höchste, heiligste Ehrenpflicht zu erfüllen: für Heimat, Weib und Kind die Waffen zu erheben. Euch allen hat der Krieg als erstes Erlebnis eine schwere Enttäuschung gebracht. Jeder von euch hat gehofft, ins Feld ziehen zu dürfen unter der Führung seines alten Kompagniechefs, des Hauptmanns Gebhard, der seit Jahren die Kompagnie geführt und zu dem gemacht hat, was sie ist. Und nun hat der Befehl des Königs ihm die schwerere Aufgabe zugedacht: eine neue Kompagnie beim Reserveregiment aufzustellen und zu führen. Ihr aber seht an eurer Spitze einen Reserveoffizier, den keiner von euch kennt. Ich habe heute noch kein Recht, Vertrauen von euch zu erwarten. Aber ich verspreche euch, nicht zu rasten und zu ruhen, bis ich mir’s verdient habe. Mehr brauche ich euch nicht zu sagen: märkische Grenadiere wissen, was ihre Pflicht ist, wenn ihr König sie zu den Waffen ruft. An den nächsten Tagen werden wir uns noch über mancherlei verständigen. Heute sage ich nur das eine: lasst uns gute Kameradschaft halten in frohen und schlimmen Tagen! Das sei unser Gelöbnis, und wir bekräftigen es mit dem Rufe:
„Seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser, König und oberste: Kriegsherr — hurra! hurra! hurra!“
— Zurück zur Kompagniestube und dort mit Ahlert das Arbeitsprogramm für die nächsten Tage durchgesprochen. Drei Tage nur werden wir voraussichtlich noch zur Verfügung haben: vom siebenten Abends an ist das Regiment marschbereit! Und was muss in den drei Tagen alles noch geschehen! Aber ein Blick in des Feldwebels ruhig — feste Augen sagt mir: der schafft’s. Und ich will’s an nichts fehlen lassen.
Mein Bursche meldet sich bei mir: der Grenadier Weise. Ein Landwirtssohn mit guten, verlässlichen Augen. Er verstaut meine Pferdekisten im Kompagniezimmer, wird mein Gepäck in mein Quartier besorgen. Ich werde in einem Privathause einquartiert, bei Oberregierungsrat K.
Die Villa liegt abseits, in einem köstlich stillen Garten. Der Hausherr heißt mich willkommen, einer seiner Söhne steht bereits als Kriegsfreiwilliger bei den Fürstenwalder Ulanen, der andre kommt vom Dienst nach Hause, Rekrut bei unserm achtzehnten Feldartillerieregiment. Alles fiebert, jedes Wort, jeder Gedanke heißt: Krieg.
Abendtafel wie in einem Manöverquartier. Jeder sucht die tiefe Erregung des Innern durch heitere Ruhe zu übertünchen. Vergebens. Der Oberregierungsrat erzählt, die Stadt Frankfurt habe Anweisung bekommen, für dreißigtausend Flüchtlinge aus Ostpreußen Quartier bereitzustellen. Die Abendzeitungen melden, dass unsere Truppen die belgische Grenze überschritten haben, der belgischen Neutralität nicht achtend. Wie wird England sich stellen? Die letzten Telegramme erzählen von der wundervollen Reichstagssitzung des heutigen Morgens. Von des Kaisers Wort: keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Die Sozialdemokraten haben die Kriegskredite bewilligt. Wir sind ein einzig Volk von Brüdern.
In der Nacht, im fremden Bette, wird’ ich wach. Irgendwo in der Ferne hallt der Schritt marschierender Scharen. Dazu klingt Gesang:
„Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!“
Tausendmal hat man diese Weise gesungen im Frieden . . . Und in meinen Dichterträumen hab’ ich sie noch anders vernommen: durchschüttert vom Erzklang kriegerischer Wirklichkeit. So hab’ ich versucht, sie in meine Dichtung von Siebzig hineinzuweben. So klingt sie nun in mein Erwachen hinein: in feierlicher Wirklichkeit.