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5.

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Die Welt ist verwandelt. Sie scheint nur mehr Männer zu tragen — und Rosse.

Männer. Wohin das Auge blickt, branden sie heran. Im Gewand ihres Alltags. In unübersehbaren Fluten durchstrudeln sie die Straßen, in hartem Kolonnentritt, zu dröhnendem Gesang. Neben der Bluse der Bratenrock, neben dem Försterflausch der Bauernkittel. Die Kasernentore schlucken sie ein.

Drinnen verwandeln sie sich. Sie streifen das Werkeltagskleid ab und hüllen die festen Knochen in die eine, die gleiche Farbe: das stumpfe, herbe Grau des neuen Krieges. Komische, zwerchfellkitzelnde Bilder des Übergangs. Reservistenbäuche, zu denen kein Koppel passen will. Quadratschädel, auf denen die viel zu enge Feldmütze hockt wie ein Studentenzerevis. Der Regimentskommandeur reitet über den Hof. Oberst von Reuter. Ich melde mich „ganz gehorsamst gemäß Mobilmachungsbefehl beim Regiment eingetroffen und mit Führung der zweiten Kompagnie beauftragt“. Er begrüßt mich in seiner ernsten, fast finstern Art. „Darf ich meinen ganz gehorsamsten Glückwunsch aussprechen, dass Herr Oberst nun die Ehre haben werden, das gleiche stolze Regiment an den Feind zu führen, an dessen Spitze der Vater von Herrn Oberst bei Spichern gefallen ist!“

Ein ekstatisches Leuchten geht über die bronzenen Züge. Ich fühle, dass er sich nichts Stolzeres wünscht und hofft, als den gleichen köstlichen Soldatentod. Ich verehre ihn um dieses Leuchtens willen.

Männer. Jeder neue Schwall, der in die Pforte der Grenadierkaserne droben an der Freienwalder Landstraße hineindrängt, spaltet auch einen Zufluss für meine Schar ab. Es werden immer mehr, immer mehr. Vizefeldwebel Döring, mein Kammerunteroffizier, kommt aus seinem von Kampfer und altem Schweiß durchdunsteten Bau nicht mehr heraus. Unter seinen Händen verwandeln sich die alten Reservisten wieder in junge Grenadiere.

Dazwischen: Begrüßung, Willkommen, leuchtende Augen, erregt schnarrende Stimmen, rasselnde Säbel, braune Handschuhe zum Mützensaum emporfahrend und gleich darauf zu heftigem Händedruck einander sich entgegenstreckend. Kameraden — bald in Wahrheit Waffengefährten. Am engsten schließen sich sofort die Bataillonskameraden zusammen. Die vier Kompagnieführer. Spiegel, alter Ostafrikaner, schon vom Aufstand 1905/6 her das schwarzweiße Band im Knopfloch: ein ausgekochter Kriegsgesell, um seiner Felderfahrung willen unser aller beneidetes Vorbild — wortkarg, überlegen, bestimmt: der Kompagniechef der Ersten. Graf Reventlow, ruhig, heiter, freundlich, sarkastisch, unpathetisch und doch voll inneren Schwunges: seit Jahren Häuptling der Dritten. Der Führer der Vierten gleich mir dem Beurlaubtenstande angehörig.

— Rosse. Auf allen Straßen schnauben sie, Hadern sie, stampfen sie daher. Stämmige Bauerngäule, reckenhafte Spediteurpferde, schlanke Traber aus Herrschaftsställen, tänzelnde Vollblüter, der Hindernisbahn kundig. Eine Flut von Braunen und Rappen und Füchsen und Isabellen. Das ungewohnte Beisammensein in solchen Riesenmassen, der Eisenbahntransport, das ganze seltsam fremde Geschehen macht die Nachdenklichen, Regelgewohnten wirr und erregt. Es gibt Ausbrecher, Starrköpfe, die nicht weitermögen. Mürrisches, verstörtes, verschrecktes Gewieher und Geschniefe. Peitschenklatschen, rauer Zuruf, Zaumzerren, Schweiß und Zank.

Rosse — was ihr uns geworden seid im Kriege — wer könnte das zu Ende singen und sagen? In euch wie in uns ist eine Kriegerseele. Ihr versteht, fühlt, leidet und triumphiert mit uns. Es gibt brave Durchschnittskämpfer unter euch und erlesene Helden. Freunde, Kameraden seid ihr uns alle.

Noch wälzen sie sich als formloser Strom wellenliniger Rücken, schaumbeflockter Flanken, mähnenumbuschter nickender Hälse an mir vorüber, ein Bild unerschöpflicher, heißaufwogender Urkraft.

Nach den Rossen wieder Männer. Wenn du zu Fuß zur Kaserne gehst, bekommst du die Hand nicht vom Mützenschirm. Jeder grüßt. Auch die noch in bürgerlicher Kleidung sind. Alle sind sie ja willens, sich einzugliedern in den Riesenorganismus, der sich zusammenschließt mit Rätselkraft. Unzählige Male wird man angesprochen.

„Herr Hauptmann, können Sie mir wohl sagen, wie ich’s anfangen kann, das; Ihr Regiment mich als Freiwilligen annimmt? Meine Frau ist tot, meine beiden Jung’s sind eingezogen, mein Schwiegersohn auch! Ich bin schon bei drei Regimentern gewesen, keins will mich haben, ich wär’ zu alt! Sechsundfünfzig, und zu alt! Wollen Sie mal meine Muskeln fühlen, Herr Hauptmann?“

„Nicht nötig, Kamerad. Ich brauch’ Ihnen nur ins Auge zu sehen: gehen Sie auf den Kasernenhof und warten Sie auf mich, will sehen, dass Sie wenigstens vorgemerkt werden.“

Ein Jungchen, kaum der Schulbank entronnen, tritt mir keck in den Weg, haut die Hacken zusammen wie ’n Alter. „Herr Offizier, ick will mit.“

„Du? und der Vater, Schlingel, was sagt der?“

„Ick darf. Ick habe ’t schriftlich.“ Er hält mir einen Brief unter die Nase. „Vom Ollen.“

Es ist zum Lachen und zum Weinen.

Ein junger Kamerad, Leutnant Egon von Münch, spricht ein hübsches Wort.

„Herr Hauptmann!“ sagt er blitzenden Auges, „nun haben wir so viele Jahre lang Regimentsgeschichte instruiert: jetzt woll’n wir mal selber welche machen!“

— Heut ist Pferdeverteilung. Da gilt’s sich dazuzuhalten. Pferde sind Schicksale.

In drei Reihen sind sie aufgebaut — die Pferde für’s erste Bataillon. Der Oberst, der Regimentsadjutant, der schmucke Oberleutnant Tronje Hagen; der Bataillonskommandeur und sein Adjutant, die Kompagnieführer, die Feldwebel, alles gespannt, gewinnsüchtig. Jeder findet, für ihn sei das Beste gerade gut genug.

Nun werden sie vorgeführt — die Schicksale. Sie haben die Bahnfahrt noch in den Knochen — sind rein des Deibels.

Ich denke, ich werde gut abgeschnitten haben. Einen Braunen bekomm’ ich, der an Kruppe und Flanken ein paar abgewetzte Stellen zeigt: ein Wagenpferd, aber ein erstklassiges. Er soll Alfred heißen, nach dem jungen Freiwilligen in der Trilogie. Und einen höchstens vierjährigen Falben, ein bissel klein für mich, noch ungeritten, sogar unbeschlagen. Wird Arbeit geben. Ich taufe ihn Werner, nach dem „krassen Fuchs“.

„Weise, verpassen Sie zunächst mal für den Braunen Sattel- und Zaumzeug.“

Inzwischen hat sich eine Zeremonie vollzogen, der ich leider nicht habe beiwohnen können, so fest ich mir’s vorgenommen: das Säbelschleifen. Seit Frühjahr 1892 hab’ ich die Waffe getragen, wann immer es dem Vizefeldwebel der Reserve, dem Sommerleutnant geziemte. Auf Übung wochenlang. Durch fünf Manöver. Zu Kaiser-Geburtstag-Feiern und Denkmalenthüllungen. Beim Kaiserbesuch. Zu zahllosen Ehrenrats-Sitzungen. Immer mit dem Gedanken: ob du wohl noch mal geschliffen wirst?

Nun ist sie geschliffen — die blanke Klinge, haarscharf. Die Blutrinnen funkeln gierig. Ob sie Blut zu trinken bekommen werden? Mit seltsamen Gefühlen häng’ ich sie an die Seite. Abends wieder bei Oberregierungsrats am gastlichen Tische. Manöverbild. Aber keine Manöverstimmung. Der Hausherr hat Zeitungen mitgebracht. Seltsame Nachrichten: Sir Edward Grey hat in der Sitzung des Unterhauses vom 3. August wunderliche Reden geführt: Wenn eine fremde Flotte Frankreichs ungeschützte Küste angreifen würde, könne England nicht ruhig zusehen. Wenn England mit seiner mächtigen Flotte an dem Kriege teilnehme, werde es wenig mehr zu leiden haben, als wenn es ihm untätig zusähe . . .

Das bedeutet also . . . Herrgott! noch ein Feind . . .

Andern morgens früh heraus. Auf dem Kasernenhof das immer gleiche rastlose Treiben. Mitten zwischen dem Gewühl der einströmenden, im Einkleidungsgeschäft begriffenen Mannschaften tummelt Willy Weise kräftig den „Werner“.

„Na, wie geht er?“

„Ganz roh, Herr Hauptmann“ Pferd und Reiter triefen. Wird Mühe kosten.

Auf dem Hofe stehen meine Kompagniewagen aufgebaut. Funkelnagelneu, blitzsauber lackiert. Patronenwagen, Gepäckwagen, Lebensmittelwagen. Und die Bagagepferde werden verteilt, die Trainsoldaten, die Feldküchen. Nach unsäglicher Mühe ist alles bewusst, die Bagage des ganzen Bataillons rollt zur Fahrübung aus dem Kasernentor. Nach ein paar Minuten kommt ein wildes Vorwärtspreschen in die Kolonne. Wie die höllische Jagd braust der rasselnde Tross von dannen. Wenn das man gut geht.

Meine Männer sind nun vollzählig beisammen, stehen zum Appell angetreten. Mit stolzverlegenem Schmunzeln meldet mir Ahlert: „Es sind vierzig Mann zu viel.“

Vierzig Mann zu viel!

„Wie ist das möglich, Ahlert?“

„Es sind eine ganze Menge ehemaliger Leute von der Kompagnie unter den Reservisten, die Einberufung nach Cottbus zum Reserveregiment haben. Aber sie sagen: sie blieben hier. Sie gehörten zur zweiten Kompagnie — und Herr Hauptmann müssten sie mitnehmen.“

Ich trete heran. Am linken Flügel sind, noch ganz in Zivil, die „Ungebetenen“.

„Kinder, das ist mir ’ne schöne Geschichte! Ihr gehört ganz woanders hin — und ich soll euch mitnehmen?“

„Jawoll, Herr Hauptmann — wir jehören mang de Zweete.“

„Seht mal, euren alten Hauptmann, den findet ihr doch nicht. Der ist beim Reserveregiment. Und mich kennt ihr nicht.“

„Ja ejal, Herr Hauptmann. Wir jehören mang de Zweete. Und Herr Hauptmann wird det schonst machen. Wir bleiben bei de Zweete!“ Irgendetwas Warmes, Auflösendes steigt in mir auf und drängt mein Herz diesen fremden Männern entgegen. „Seht mal, Jungens, wenn ich euch auch mitnehmen wollte — ich kann nicht. Ich hab ja gar keine Sachen für euch.“

„Det macht nischt, Herr Hauptmann. Wir jehn eenfach vorläufig in Siffiel mit. Et werden schonst bald welche zu liegen kommen. Den’ ihre Sachen gibt Herr Hauptmann uns dann.“

Herrgott . . . keinen von euch möcht’ ich missen — keinen.

Ich trete mit Ahlert zur Seite. Wir beraten. Vielleicht könnte man wenigstens einigen helfen. Da sind noch etliche zwanzig, die zwar zum Regiment einberufen, aber aus andern Regimentern hervorgegangen sind. Wenn man die — mit Genehmigung des Kommandeurs — austauschte?

Es ist gemacht worden. Unter den zwei-, dreiundzwanzig alten Kerls von der Zweiten sind ein paar meiner Besten gewesen.

Ein Zug junger, blutjunger Bürschchen in Drillich trudelt über den Hof, von einem grauschnurrbärtigen Feldwebel geführt. Noch ist keine Form drin — kein Zusammenschluss. Nur: die feinen Köpfe überm groben Leinen! die blanken, verlangenden Augen! Die knisternde Begeisterung unterm Kittel! Unsere Freiwilligen. Alle Geschäftszimmer sind von ihnen überlaufen.

Welch ein Volk! welch ein Volk!

Am Nachmittag stell’ ich, was eingekleidet ist von der Kompagnie, zum ersten Male zum Exerzieren zusammen. Mit siedendem Stolz in der Seele reit’ ich auf „Alfred“ vor die Mitte der Kompagnie, zieh’ den Säbel — gebe das erste Kommando:

„Stillgestanden! Das Gewehr — über!“

Auf einmal bin ich — ganz woanders. Alfred, der nie zuvor Soldat war, hat einen fürchterlichen Satz gemacht und rast mit mir von dannen. Der ganze Kasernenhof kommt in Aufruhr — alles grinst. Ich fühle, wie mir die Glut in die Stirn quillt.


Ins Feld! Fotogr. Scherl



Vorwärts ohne Rast! Fotogr. Scherl

Mit Müh und Not zwing’ ich den zitternden, schäumenden Gaul. Aber er ist nicht wieder an die silberschillernde Linie der Gewehrläufe heranzubringen.

„Feldwebel, setzen Sie die Kompagnie nach dem Exerzierplatz in Marsch!“

Mit ein paar festen Sporenhieben such’ ich den Gaul zur Vernunft zu bringen. Endlich hab’ ich ihn wieder in der Hand, bringe den ängstlich Schielenden zum Kasernentor hinaus, an der Marschkolonne vorüber, setze mich an ihre Spitze. Alfred trieft — ich auch.

Wir sind auf dem „Nuhnen“. Auf mein Kommando schwenkt die Kompagnie zur Linie ein — steht regungslos.

„Gewehr — ab!“

Rrrtt —

Wie hätt’ ich mich über den Griff gefreut — wenn ich ihn noch gesehen hätte. Aber ich bin schon weit, weit weg. Alfred rast von dannen, wie mit glühenden Ketten gepeitscht.

Kein Halten. Wir überqueren in tollster Peese den weiten Platz, fegen in mächtigem Satz über einen Graben, eine Chaussee, noch einen Graben — ein Stacheldrahtzaun gebietet endlich Halt.

Ich sitze ab — versuche den Gaul am Zaum auf den Platz zurückzubringen, nachdem alle Versuche, ihm vom Sattel aus die Nase ’rumzudrehen, kläglich gescheitert sind. Er mag das Entsetzliche nicht mal von weitem sehen.

„Pferdehalter her!“ schrei“ ich über einen Kilometer.

Ein Soldat löst sich aus dem Klumpen, schnauft heran. Ein älterer Reservist: ein brauner Kerl mit einem ungeheuren schwarzen Schnurrbart, Augen wie Kohle. Hinter furchterregender Maske ohne ich unsägliche Gutmütigkeit.

„Wie heißen Sie?“

„Reservist Müssigbrodt.“

„Verstehen Sie was von Pferden?“

Er grinst vertrauenerweckend. „Jawoll, Herr Hauptmann.“

Er nimmt die dargereichten Zügel, klopft dem Pferde den weißbeflockten Hals, lacht mich an.

„Det Ferd is jut, Herr Hauptmann. Det is man det Unjewohnte.“

Ich lache auch. Eine Kameradschaft ist geschlossen. Sie hat gehalten.

Zu Fuß leite ich das Exerzieren: freue mich, wie die Reservisten mit den Rekruten um die Wette im Einzelmarsch die eingerosteten Knochen strecken. Dämmerung goldet um die Strampelwiese, als ich Einrücken befehle.

Müssigbrodt bringt mir das Pferd: aber kaum sitz’ ich oben, da rast der Gaul wieder von dannen, von den grässlichen Soldaten weg. Und in ganz, ganz weitem Umweg nur hab’ ich ihn um den verhassten Platz herumbringen können. In den Kasernenhof geht er hinein, obwohl schaudernd. Drinnen wittert er ja den Stall.

Graf Reventlow begegnet mir auf dem Kasernenhof. Ich erzähle mein Pech. Mit seiner prachtvoll beruhigenden tiefen Stimme tröstet er mich:

„Lassen Sie den mal drei Tage mit der Nase auf ein Kochgeschirr unterwegs sein: dann bringen Sie ihn von den Soldaten gar nicht mehr weg.“

— Und noch ein Tag. Die Stammrollen werden aufgenommen: an langen Tischen schwitzt ein halb Dutzend Schreiber. Ich muss zweihundertfünfzigmal meinen Namen schreiben.

Und heute kommt der erste Brief von Hause — von ihr — von den Kindern. So gut, so stolz, so deutsch . . .

Am Nachmittag meldet sich bei mir der erste meiner Zugführer: Vizefeldwebel Schüler, ein schlankes, feines Jungchen, seines bürgerlichen Zeichens Beamter der Deutschen Bank in Berlin; auf dem Achselstück trägt er die Kriegstressen des Offizierstellvertreters. Ich habe für den Spätnachmittag einen großen Übungsmarsch der nunmehr zusammengestellten Kompagnie angesetzt. Dann gab’s noch massenhafte Büroarbeit. Spät in der Nacht kam ich in meinem Quartier an, völlig zerschlagen, konnte nur mit Mühe dem Bericht des Oberregierungsrats über die Entwicklung der Ereignisse da draußen lauschen. Der umfasste furchtbar ernste Dinge, aber ich konnte sie nicht mehr so richtig im Schädel unterbringen. Nur eins rumorte mir in allen Nerven und Knochen, als ich ins weiche Bett fiel — zum letzten Mal, ohne dass ich’s ahnte — dies eine:

England hat uns den Krieg erklärt.

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