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Kapitel 4 – Eine private Affäre wird zum politischen Konflikt
ОглавлениеBeim Hexenprozess gegen Anna Göldi ging es anfänglich nicht um Hexerei und Zauberei, es ging vielmehr um ganz weltliche und durchaus menschliche Vorgänge – um «verbotenen fleischlichen Umgang», wie ausserehelicher Beischlaf damals hiess.
Ausgelöst wurde das Verfahren von Anna Göldi selbst, als sie sich am 26. Oktober 1781 – einen Tag nach ihrer Entlassung als Hausangestellte – an Landammann Johann Heinrich Tschudi und Pfarrer Johann Jakob Tschudi wandte und sich über ihren Dienstherrn beklagte. Der Landammann amtierte als Präsident des Chorgerichtes, das über familiäre und sittliche Angelegenheiten entschied, der Pfarrer als gewichtiges Mitglied derselben Behörde. Beide waren oberste Sittenwächter des Landes Glarus.
Der genaue Inhalt der Klage von Anna Göldi ist unklar, da die Akten zu diesem Teil des Verfahrens grösstenteils verschollen sind. Doch offenkundig ist, dass ihre Intervention behördliche Ermittlungen auslöste und sowohl die Magd als auch Doktor Tschudi zu den Vorwürfen sexueller Verfehlungen und einer ausserehelichen Schwangerschaft mehrmals befragt wurden.
Als der Fall in Gang kam, versah der 34-jährige Doktor Johann Jakob Tschudi bereits hohe Ämter. Er war Mitglied des evangelischen Rates, der die oberste exekutive Gewalt ausübte, vergleichbar mit dem heutigen Regierungsrat. Zudem sass er im Fünfergericht, das über Nachbarstreitigkeiten und Schuldforderungen entschied, sowie im Neunergericht, das zuständig war für Erb- und Eigentumsstreitigkeiten. Und schliesslich war er Mitglied des evangelischen Chorgerichtes. Er gehörte also ebenfalls zu den höchsten Sittenwächtern des Landes.
Umso schwerer wogen die Vorwürfe gegen ihn. Ausgerechnet dieser angesehene Familienvater, Arzt, Politiker und Richter sollte seine Ehefrau betrogen haben? Und erst noch mit seiner Dienstmagd?
Ehebruch galt nicht nur als anstössig und unstatthaft, sondern als eines der schlimmsten Delikte. Dieses wurde gemäss damaliger Rechtsauffassung meistens nicht von Männern, sondern von Frauen begangen. Die Rechtsprechung ging vor allem von ledigen Frauen als Übeltäterinnen aus, die verheiratete Männer verführten.
Das hatte für diese Frauen – als «Huren», «schlimme Weibspersonen» und «Hudelgesind» beschimpft – schwerwiegende Konsequenzen. Sie mussten zur Unterscheidung von ihren rechtschaffenen Geschlechtsgenossinnen rote Kappen tragen, wurden an den Pranger gestellt oder des Landes verwiesen.
Während die Katholiken an dieser frauenfeindlichen Praxis festhielten, verschärften die Protestanten im 18. Jahrhundert die Ehebruchsregelung für Männer. Nach dem Recht des evangelischen Landesteiles konnten sich auch Männer des Ehebruchs schuldig machen. Männer, die bei Seitensprüngen ertappt wurden, mussten mit harten Geldstrafen rechnen und den Degen, das Ehrenzeichen an der Landsgemeinde, abgeben.
Im Mai 1773 wurde diese Bestimmung sogar noch weiter verschärft. Bedrohlich wirkte sich für den protestantischen Doktor Tschudi ein Beschluss der Landsgemeinde aus, der für Amtsträger eine spezielle Ehebruchsklausel einführte. Seither mussten Ratsmitglieder, die fremdgingen, von allen Ämtern zurücktreten und sie waren generell im Land nicht mehr wählbar.
Für Doktor Tschudi wäre das eine Schmach gewesen. Wäre er des Ehebruchs oder gar der ausserehelichen Zeugung eines Kindes überführt worden, hätte er seine politischen und richterlichen Ämter für immer niederlegen müssen – das abrupte Ende seiner politischen Karriere.
Anna Göldi brachte mit ihrer Intervention nicht nur sich selbst und Doktor Tschudi in Bedrängnis, sondern versetzte auch Landammann Tschudi und Pfarrer Tschudi in Aufruhr. Denn die beiden trugen nicht nur den gleichen Nachnamen wie der Arzt, alle drei Männer waren auch sehr eng miteinander verbunden.
Der Pfarrer war mit der Familie von Doktor Tschudi verwandt und ihr intimer Vertrauter. Beide hatten den gleichen Urgrossvater, waren also entfernte Cousins. Zudem war der Gottesmann Onkel von Doktor Tschudis Ehefrau, der Bruder ihrer Mutter. Mit der Arztfamilie unterhielt er eine intensive Freundschaft. Er war Pate und geistiger Ziehvater von Doktor Tschudi, hatte ihn seinerzeit getauft und ihn in Griechisch und Latein unterrichtet. Später wurde er auch «Götti» von Susanna, der ältesten Tochter der Arztfamilie.
Weiterer Berührungspunkt: Doktor Tschudi war als Mitglied des Chorgerichtes auch ein Richterkollege von Landammann Tschudi und Pfarrer Tschudi. Nun sollten ausgerechnet diese beiden in einem delikaten Fall gegen ihn ermitteln.
Die Frage, was die Magd aus Sennwald dazu bewogen hatte, an die obersten Sittenwächter des Landes Glarus zu gelangen, gehört zu den grossen Mysterien des Anna-Göldi-Falles. Warum informierte sie den Landammann und den Pfarrherrn über angebliche Verfehlungen von Doktor Tschudi? Hätte sie nicht damit rechnen müssen, dass sich ihre Beschwerde als Bumerang erweisen würde?
Offenbar musste aus Sicht von Anna Göldi etwas Gravierendes vorliegen. Trieb sie Wut, pure Verzweiflung an oder der verletzte Stolz einer Frau, die erniedrigt, missbraucht und vielleicht sogar vergewaltigt worden war?
Der Prozessverlauf wirft eine weitere Frage auf: Warum waren nicht nur Anna Göldi und Doktor Tschudi ein Thema, sondern auch das Kind Annamiggeli? War Annamiggeli Opfer von Übergriffen geworden? Letzteres zu bejahen, wäre reine Spekulation und geht aus den Akten keinesfalls hervor. Und Doktor Tschudi bestritt stets jeglichen «fleischlichen Umgang» und bezeichnete Göldis Vorwürfe als «teuflische Anspinnungen».
Vermutlich wollte Anna Göldi gar kein förmliches Verfahren gegen ihren Dienstherrn, sondern suchte nur vertrauensvoll die Hilfe der beiden Amtsträger. Doch als sie am 26. Oktober 1781 ihr Leid klagte, handelten beide entsetzt und panisch. Für den Landammann und den Pfarrer stand nicht nur die Ehre von Doktor Tschudi, sondern auch jene der ganzen Aristokratenfamilie und des Landes Glarus auf dem Spiel.
Während Anna Göldi, des Landes verwiesen, auf der Flucht war, verstummten die Gerüchte nicht, wonach die Magd von Tschudi schwanger geworden sei. Darum nahm im Land Glarus der öffentliche Druck auf den Arzt und Politiker von Woche zu Woche zu.
Lange hatte Doktor Tschudi geschwiegen, doch dann ging er in die Offensive und legte sein gesamtes politisches und gesellschaftliches Gewicht in die Waagschale. Am 9. Dezember 1781 bestritt er vor dem evangelischen Rat, die Magd geschwängert zu haben. Zugleich kündigte er an, alle Prozesskosten zu übernehmen und von allen Ämtern zurückzutreten, sollten sich die Vorwürfe gegen ihn bewahrheiten. Die Rettung seiner Ehre gehe ihm «über alles», sagte Tschudi.