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Kapitel 6 – Gufenspucken statt Ehebruch: Das Opfer wird zur Täterin

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Im Dezember 1781 trat in der Causa Anna Göldi eine überraschende Wende ein. Der Arzt und Richter Johann Jakob Tschudi brachte plötzlich eine neue, mysteriöse Darstellung ins Spiel. Sie sollte ihn entlasten und stattdessen Anna Göldi belasten.

Die neuen Vorwürfe erhob Tschudi gemeinsam mit seiner Ehefrau Elsbeth – und zwar rückwirkend. Sie bezogen sich auf Oktober 1781, als es zur sofortigen Entlassung von Anna Göldi gekommen war. Auf ein Ereignis also, das zum Zeitpunkt dieser Gegenklage schon einige Wochen zurücklag.

Demnach soll im Oktober 1781 die Magd dem Kind Annamiggeli mehrmals Gufen – also Stecknadeln – in die Milchtasse gelegt haben. Und später soll das Kind begonnen haben, diese Gufen und dann auch andere Metallstücke wie Eisendrähte und Nägel auszuspucken.

Zwar waren damit die Vorwürfe wegen Ehebruchs nicht vom Tisch und gaben weiterhin zu reden. Doch die Geschichte von der seltsamen Erkrankung des Kindes rückte mehr und mehr in den Vordergrund und warf ein neues Licht auf die Vorgänge um die Entlassung der Magd. Nach dieser neuen Version der Tschudis haben nicht sexuelle Verfehlungen zum Zerwürfnis mit Anna Göldi geführt, sondern deren Übergriffe auf das unschuldige Kind.

So drehte Doktor Tschudi den Spiess um und schuf eine völlig neue Ausgangslage mit vertauschten Rollen. Der des Ehebruchs und der ausserehelichen Zeugung eines Kindes bezichtigte Arzt und Richter war nicht mehr der Hauptbeschuldigte, er stellte sich jetzt im Gegenteil als Opfer dar. Anna Göldi, Wochen zuvor noch in der Rolle der Anzeigeerstatterin und Klägerin auf «Reparation» beziehungsweise Schadenersatz oder Wiedergutmachung, wurde zur Beklag­ten, zu einer Übeltäterin, die Tschudis Kind Annamiggeli verletzen, vielleicht sogar töten wollte.

Seltsamerweise hatten die Tschudis Wochen zuvor, im Oktober 1781, als diese Vorfälle passiert sein sollen, nicht rea­giert. Warum gelangten die Tschudis nicht schon früher an die Behörden und meldeten die angeblichen schlimmen Übergriffe der Magd auf das Kind? Warum schwiegen sie fast zwei Monate lang über das Drama?

Die Ehefrau des Arztes und Mutter des Kindes äusserte sich erstmals am 13. Dezember 1781 zu den Vorkommnissen – also rund sieben Wochen nach der Entlassung der Magd. Sie schilderte, dass die Magd Annamiggeli mehrmals Gegenstände in die Milchtasse gelegt habe – erstmals am 19. Oktober, eine Woche vor ihrer Entlassung. Zunächst habe die Mutter dem Vorfall keine Bedeutung beigemessen, weil sie gedacht habe, das Kind selbst habe eine Gufe in die Tasse fallen lassen.

In den folgenden Tagen sei sie aber stutzig geworden, weil sich die Vorfälle wiederholten. Innerhalb von fünf Tagen habe sie neunmal Gufen in der Milchtasse von Annamiggeli vorgefunden. Ihr Verdacht sei auf die Magd gefallen, weil die­se in der Küche die Milch gekocht und in die Tassen gegossen habe. Als sie die Magd zur Rede gestellt habe, habe diese den Vorwurf gar nicht ernst genommen und scherzhaft entgeg­net, woher sie denn die Gufen hätte hernehmen sollen – sie hätte ja gar keine Gufen. Ein anderes Mal, als der Dienstherr sie mit dem Vorwurf konfrontierte, habe die Magd geant­wortet: Mit den Händen habe sie es nicht getan, es müsse der Teufel gewesen sein.

Das Kind hatte nach Angaben von Frau Doktor Tschudi Angstzustände. Am Samstag, zwei Tage vor der Entlassung der Magd, sei es um halb sechs Uhr früh wach geworden – «unter grosser Forcht» und unter starkem «Schlottern und Zittern». Es habe um Hilfe geschrien, «es seyen Mannen da», einer in einem «weissen Tschöpli und Bäntzle [Kittel und Rock]». Nach diesem Vorfall habe die Tochter vier Tage nichts mehr zu sich genommen ausser einem Löffelchen Tee.

Elsbeth Tschudi begründete die Entlassung der Magd wie folgt: An diesem Tag habe sich Anna Göldi geweigert, die Frühstücksmilch in die Tasse des Kindes zu giessen. Sie habe dies der Dienstherrin überlassen wollen, damit sie nicht wieder in Verdacht komme, Gufen in die Milchtasse zu legen. Darauf, so Elsbeth Tschudi, habe sie erneut eine Gufe gefun­den, diesmal aber nicht in der Milch, sondern in einem Brotbrocken, den Anna Göldi geschnitten habe. Doktor Tschudi sei wütend geworden, habe der Magd schwere Vorwürfe gemacht und sie noch am gleichen Tag entlassen.

Unmittelbar nach dem Eklat hatten die Tschudis nichts unternommen, sondern geschwiegen. Auf die Frage, weshalb sie sich nicht sofort an die Behörden gewandt hätten, gaben die Eheleute Tschudi an, sie seien im Glauben gewesen, Anna­miggeli habe die «Angriffe» der Magd unbeschadet überstan­den. Erst später hätten sie realisiert, was passiert sei.

Das Ausmass der Krankheit von Annamiggeli wurde gemäss Frau Tschudi erst sichtbar, als das Kind plötzlich Gufen ausgespuckt habe. 18 Tage nach der Entlassung der Magd, also Mitte November, sei «die erste Gufe von dem Kind gegangen». Das Kind habe an einem Tag sechs, später zehn und zwölf und an einem anderen Tag sogar 22 Gufen ausgespuckt, gerade, gekrümmte, kleinere und grössere, insgesamt über hundert Gufen. «Und die meisten Guffen kommen mit dem Spiz zum Mund hinaus» – mit einer Art Husten, gefolgt von Blut.

Tschudis Geschichte des gufenspeienden Kindes wurde immer dramatischer und ausgeschmückter. Nach Darstellung der Eltern spuckte Annamiggeli in den Monaten November und Dezember 1781 nicht nur Gufen, sondern auch Eisendrähte und Nägel aus. Am Tag, an dem das Kind Eisennägel aus dem Mund hergab, sei es fast erwürgt worden und erstickt.

Am 10. März 1782 wurde Elsbeth Tschudi nochmals befragt. In diesem zweiten Verhör erklärte Elsbeth Tschudi, seit dem ersten Verhör vom 13. Dezember 1781 seien noch einige Stecknadeln, ein kleiner und zwei grössere Nägel und dazu drei Stücke Draht aus dem Mund des Kindes gekommen. Annamiggeli habe beim Gufenspeien entsetzliche Schmerzen gehabt und an «gichterischen Zuckungen» gelitten. Seine Glieder seien so starr, dass es weder Arme noch Beine noch den Kopf bewegen könne. Auch sei sein linkes Bein kürzer als das rechte. Das Kind könne nicht selbständig gehen, es müsse getragen werden, beschrieb Elsbeth Tschudi den ge­gen­­über Dezember 1781 deutlich verschlimmerten Gesundheitszustand.

Doktor Tschudi erklärte, er stehe als Arzt vor einem Rätsel. Zu den Symptomen gehörten auch Ohnmachtsanfälle, Schmer­zen in den Gliedern und Krämpfe – vor allem im linken Bein – sowie das Spucken von Metallstücken. Er habe dem Kind zunächst «Palliativmittel» wie Melissen- und Lin­denblütentee verabreicht. Später habe er mit Brechmittel nachgeholfen. Dadurch seien vom Kind «gelbe Materie und Schleim wie Samen» sowie «Materie aus Kupfer» abgesondert worden.

Für Doktor Tschudi stand fest, dass das Gufenspucken und die Krankheit des Mädchens durch die Magd verursacht worden seien. Nur sie habe Milch angerichtet, «und Kühe spucken keine Gufen aus», meinte er lakonisch.

Das Kind Annamiggeliwar damals neun Jahre alt. Es war das Sorgenkind der Familie und galt als ungezogen und verwöhnt. In einem der Verhöre sagte Anna Göldi, Annamiggeli sei «das meisterloseste» der Tschudi-Kinder.

Ein Motiv für eine so hinterhältige und verwerfliche Tat gab es allerdings nicht. Im Gegenteil schien das Verhältnis zwischen der Magd und der Familie vorher ungetrübt. Die Magd hatte ihre Arbeit stets zur Zufriedenheit der Doktorsfamilie verrichtet und zu keinerlei Klagen Anlass gegeben. Auch das Verhältnis zwischen der Magd und dem Kind schien völlig unbelastet.


Annamiggeli Tschudi (1773‒1810), etwa 8-jährig. Landesarchiv des ­Kantons Glarus, Glarus.

Nur einmal sei es zu einem Zwischenfall gekommen, den die Tschudis wie folgt schilderten: Kurz vor ihrer Entlassung seien die Magd und das Kind in der Küche aneinandergeraten. Annamiggeli habe der Magd mehrmals die Haube vom Kopf gerissen, worauf die Magd dem Kind ein «Püffli» versetzt habe. Susanna, die ältere Schwester von Annamiggeli, habe den Vorfall der Mutter gemeldet. Doch diese habe Annamiggeli ungestraft gelassen und stattdessen Susanna dafür getadelt, dass sie Annamiggeli bei der Mutter angeschwärzt habe. Der Vorfall war eine Bagatelle, er wurde aber von den Tschudis im Verlauf des Verfahrens zum Drama und zum eigentlichen Tatmotiv emporstilisiert.

Angebliche Zeugen bestärkten die Vorwürfe. Die befrag­ten Personen waren jedoch keineswegs neutral und unab­hängig, sondern Hausangestellte, Verwandte und Freunde der Familie. Peter Tschudi, der Bruder des Arztes, sagte, er habe dem Kind die Gufen «aus den Zähnen herausreissen» müssen, wenn es im «Delirio» gewesen sei. Bei vollem Verstand jedoch habe das Kind die Gufen «in seine Hände wie hinaus gebla­sen» – mit Husten und mit Schleim.

Die Hausangestellte Anna Schuler erklärte, sie habe oft gesehen, wie das Kind mit seinen eigenen Fingern die Gufen aus dem Mund geholt habe. Dabei habe es entsetzlich geschrien. Die Zeugin will zudem beobachtet haben, wie das Kind einen Eisendraht ausgespuckt habe.

Auch Schützenmeister Balthasar Tschudi, ein Freund der Familie, sagte, er habe beobachtet, wie das Kind «Gufen und anderes Zeug» gespien habe.

Nachdem Anna Göldi im Februar 1782 in Degersheim gefangen genommen und nach Glarus geschafft worden war, befand sie sich in einer verzweifelten Lage. Als «fremde Person» aus Sennwald, ohne jegliche fremde Hilfe, sass sie im Gefängnis, belastet mit dem Vorwurf, schwere kriminelle Handlungen am unschuldigen Kind Annamiggeli begangen zu haben. Als Angeklagte in Gefangenschaft realisierte sie, dass sich jedes falsche Wort als verhängnisvoll erweisen könn­te. Darum nahm sie die Vorwürfe gegen Doktor Tschudi zurück und entlastete ihn sogar. Angesprochen auf die Gerüchte in der Bevölkerung, sagte sie am 21. März 1782 im Verhör: «Nein, das ist nicht im Geringsten wahr.» Sie sei nicht schwanger ausser Landes gegangen. Und zwei Tage später ergänzte sie gegenüber der Strafbehörde, Doktor Tschudi habe sie «mit keiner Hand angerührt».

Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet

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