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Kapitel 5 – Die glarnerische Familien­herrschaft: Herren und Untertanen

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Die 13 alten Orte der Eidgenossenschaft waren Oli­garchien, in denen ein paar wenige einflussreiche und vermögende Familien regierten. Normalsterbliche Menschen hatten keine Freiheitsrechte, keine Religions- und keine Gewissensfreiheit. Sie durften ihre Meinung nicht frei äussern, geschweige denn Kritik üben.

Dieses oligarchische Herrschaftssystem praktizierten auch «Landsgemeinde-Demokratien» wie das Land Glarus, das seit 1683 konfessionell gespalten war. Auf evangelischer wie katholischer Seite teilten sich je nur etwa zehn Bürgerfamilien die Macht unter sich auf. Die bekanntesten protestantischen Familien hiessen Heer, Blumer, Tschudi und Zwicky. Die Zwickys besetzten im 18. Jahrhundert die meisten wichtigen Landesämter und wurden zur mächtigsten Familie.

Diese Familien trafen die wichtigsten Entscheidungen in Justiz und Politik. Gewaltenteilung gab es nicht: Mitglie­der des Rates waren in der Rechtsprechung tätig, Richter nahmen auch Regierungsgeschäfte wahr. Der Landammann und obers­te Regierungsvertreter war zugleich höchster Richter und Vorsitzender in den meisten Gerichten.

Wer ein Amt übernahm, behielt es gewöhnlich ein Leben lang und war niemandem ausser Gott Rechenschaft schuldig. Besonders deutlich brachte der Diakon von Schwanden dieses Gottesgnadentum zum Ausdruck, als er in seiner Landsge­mein­depredigt von 1780 die göttliche Ordnung erklärte. Diese unterscheide zwei Klassen von Menschen: die mächtigen «Oberen» und die zu Gehorsam verpflichteten Unterta­nen.

Wie kaum ein anderer verkörperte dieses ständestaatliche Machtverständnis Gottesmann Tschudi, damals der bedeu­tendste evangelische Geistliche im Land Glarus. Als Pfarrer des Hauptortes hatte er eine traditionell starke Stellung. Seit Ulrich Zwingli (1484–1531), der noch vor der Reformation Glarner Pfarrer war zwischen 1506 und 1516, hatte kein anderer Priester das kulturelle und politische Leben des Landes Glarus so geprägt wie der begnadete Kanzelredner und charis­matische Tschudi. Im Jahr des Göldi-Prozesses stieg er zum Camerarius auf, zum obersten Geschäftsführer der evangelischen Landeskirche.

Sein grosses Vorbild war Aegidius, genannt Gilg, Tschudi (1505–1572), der mächtige Übervater der Tschudi-Familie, der als Geschichtsforscher, Wissenschaftler und Politiker zu den bedeutendsten Figuren der Alten Eidgenossenschaft gehörte. Er war Glarner Landammann und eidgenössischer Landvogt in den Gemeinen Herrschaften Sargans und Baden. Zudem unternahm er für die damalige Zeit weite Reisen über die Alpenpässe, besuchte antike Städte wie etwa Florenz oder Rom und entwarf eine für ihre Genauigkeit gerühmte Lan­des­­­karte der Alten Eidgenossenschaft. Seine grösste wissenschaftliche Leistung vollbrachte er als Verfasser des Chronikon Helvetikum, in dem er den heldenhaften Freiheitskampf der Alten Eidgenossen gegen die Habsburger schilderte, angefangen bei der Legende von Wilhelm Tell, über den Rütlischwur bis hin zu den siegreichen Schlachten von Morgarten, Sempach und Näfels. Auch wenn Tschudi die historischen Fakten frei interpretierte und mit Anekdoten und Sagen ausschmückte, ist das «Chronikon» bis heute das bedeutends­te Werk über die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft geblieben. Tschudi begründete damit seinen Ruf als «Vater der Schweizer Geschichte» und legte den Grundstein für den Mythos einer starken und unabhängigen helvetischen Nation.

Zweihundert Jahre später führte der Glarner Pfarrherr Camerarius Tschudi, nebenbei ein leidenschaftlicher Geschichts- und Familienforscher, das Erbe des berühmten Übervaters weiter. In zwanzig Bänden beschrieb er die Geschichte des von Gott auserwählten «uralten adelichen Geschlechts». Sei­ne Mission: die Erinnerung an die grosse Lichtgestalt Aegidius Tschudi auferstehen lassen und der Tschudi-Dynastie neuen Glanz und Ruhm verleihen.


Camerarius Johann Jakob Tschudi (1722‒1784). Landesarchiv des ­Kantons Glarus, Glarus.

Doch die Zeit der Familienherrschaft ging ihrem Ende entgegen. Im 18. Jahrhundert bahnten sich als Folge der Aufklä­rung in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen an. Denker wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Voltaire (1694 bis 1778) rüttelten an jahrhundertealten Dogmen und stellten die «gottgewollte» Weltordnung in Frage, die Menschen von Geburt an in Herrscher und Untertanen einteilte. Sie entwarfen neue Gesellschaftsmodelle, die den Menschen ein Mindestmass an demokratischer Mitbestimmung und Grund­rechten zuerkannten. Dazu gehörten etwa die Meinungsäusserungs- und Religionsfreiheit sowie die Rechtsgleichheit: Jede Person sollte – unabhängig von ihrer familiären Abstam­mung und sozialen Stellung – gleiche Rechte haben.

Das revolutionäre Gedankengut breitete sich rasch in ganz Europa aus und fiel auch in der Eidgenossenschaft auf fruchtbaren Boden. Nicht nur das Volk war für die neuen Parolen empfänglich. Es gab auch unter den Aristokraten besonnene Leute wie Gottlieb Emanuel von Haller in Bern (1735–1786), Johann Caspar Lavater (1741–1801) in Zürich oder den Glarner Altlandammann Cosmus Heer (1727–1791), die liberal dachten und gesellschaftliche und politische Reformen begrüssten. Heer war Gründer von Lesegesellschaften, in denen humanistisch gebildete Bürger über die Ideen der Aufklärung diskutierten. Diese freiheitlich gesinnten Aristokraten erkannten, dass Zugeständnisse an das Volk unumgänglich waren und die alte Ordnung mit sturem Festhalten an Macht und Privilegien nicht mehr zu retten war.

Der Grossteil der Machthaber sperrte sich jedoch gegen noch so massvolle Neuerungen. Statt Kompromisse zu schlies­­­sen, krallten sie sich an ihrer Macht fest und setzten alles daran, die Freiheitsbestrebungen im Volk zu unterdrücken. Noch nach der Französischen Revolution von 1789 und fast bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft im Jahr 1798 stellten sich die Regenten auf den Standpunkt, die Herrschaftsverhältnisse hätten sich bewährt und die Forderungen nach persönlicher Freiheit und Demokratie seien «ein Muster von Unsittlichkeit und Verletzung allen Anstandes». Das Volk sei «blind in die kleinsten Freiheitsgenüsse verliebt», klagte der mächtige Pfarrherr und Camerarius Tschudi.

In dieser turbulenten Zeit wurde in der Eidgenossenschaft eine Reihe politisch motivierter Todesurteile gefällt. Je mehr die Herrscher in Bedrängnis kamen, umso mehr benutzten sie die Justiz als Mittel zur Machterhaltung und gingen gegen Regimekritiker unerbittlich vor. Sie liessen wegen Verrates und aufrührerischer Umtriebe unzählige Oppositionelle oder Andersdenkende verfolgen, foltern und hinrichten. Enormes Aufsehen erregte der Fall des wegen Pressedelikten ange­klag­ten Zürcher Pfarrers Johann Heinrich Waser, der 1780 als Landesverräter hingerichtet wurde.

Immer vehementer erhoben andererseits die Menschen in den von eidgenössischen Orten kontrollierten Untertanengebieten ihre Forderungen nach Freiheit und Unabhängigkeit. Sie hatten die Stellung von Knechten und Hörigen, die ihren Herren hohe Abgaben entrichten und Huldigungen entgegenbringen mussten. So zum Beispiel in der Herrschaft Werdenberg im heutigen St. Galler Rheintal, wo die Glarner Vögte mit harter Hand regierten.

Die in unmittelbarer Nachbarschaft von Werdenberg aufgewachsene Anna Göldi nannte die Vertreter der Oberschicht ehrfurchtsvoll «Herren». Die soziale Kluft zwischen ihr und ihrem Dienstherrn Tschudi hätte nicht grösser sein können. Doktor Tschudi war Ratsherr, Mitglied der Ehrenfamilie Tschudi, freier Bürger des Standes Glarus. Anna Göldi war auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung. Eine «fremde Person», eine ledige Magd aus Sennwald, eine Frau ohne Recht und Würde.

Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet

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