Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 13
ОглавлениеJede Biografie, jede biografische Entwicklung ist einmalig und einzigartig. Jeder Mensch bemüht sich um ein »Gelingen«, ein »Bewältigen« seiner Biografie. Manche Menschen ringen darum.
Es gibt keine äußeren Anhaltspunkte, an denen sich festmachen ließe, ob dieses »Bewältigen« gelungen ist oder unvollständig bzw. unerfüllt bleibt.
Gefühl von Stimmigkeit
Letztlich wird allein ein Gefühl von Stimmigkeit, von Kohärenz hier entscheidend sein. Ob dieses gelebte Leben dem eigenen »Schicksal« entspricht, das eigene Schicksal erfüllt – ob es »mein Leben« ist, das kann nur der jeweilige Mensch selbst spüren.
Dazu ein Gedanke aus der Schrift Die Lebensalter von Romano Guardini: »Die menschliche Existenz kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie unter keinem zu erschöpfen ist. […] Der Mensch charakterisiert sich immer neu. Seine körperlich-seelischen Zustände wechseln beständig. […] Trotzdem ist es immer der gleiche Mensch, um den es sich handelt. Die Verschiedenheit der Zustände hebt die Einheit nicht auf, sondern diese behauptet sich in jener. Noch in der scheinbaren Zerstörung ist sie durch das Moment des Schicksals zu ahnen.«3
Bejahung der Bedingungen
Die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich belastenden, herausfordernden oder auch widrig erscheinenden Bedingungen des eigenen Lebens zu stellen, kann entscheidend sein. In der Möglichkeit der Anerkennung und vielleicht auch der Bejahung der Bedingungen liegt eine unerschöpfliche Kraft. Damit ist in keinem Fall ein resignatives Hinnehmen gemeint im Sinne von »Ich kann ja sowieso nichts daran ändern«, sondern die Befähigung, sich innerlich aktiv den gegebenen Bedingungen zu stellen, soweit wir sie nicht zu verändern vermögen. Das Wort »Schicksalsakzeptanz« mag diesen aktiven Prozess beschreiben. Oder wie es der schon schwer erkrankte Dichter Christian Morgenstern in seinem Tagebuch festhielt: »Kein Augenblick ohne ein Ja!«4
das eigene Schicksal finden
Es ist die vorrangige ärztliche wie therapeutische Aufgabe, dem anvertrauten Menschen zu helfen, »sein Schicksal« zu finden. Und Krankheit verhindert nicht dieses Schicksal – sondern ist Teil desselben!
Menschen mit Assistenzbedarf brauchen im tiefsten Sinne dieses Wortes gerade hier Unterstützung, bis hin zur Eröffnung neuer und erweiternder Blickwinkel. Ich empfinde es immer wieder als tief berührend, wenn Menschen mit ausgeprägten kognitiven, neurologischen, motorischen oder auch anderen Beeinträchtigungen eine solche Schicksals- und damit Selbstakzeptanz ausstrahlen – und dabei häufig durchaus auch ansteckend wirken. Darin können uns diese Menschen oft ein leuchtendes Vorbild sein.
Dies scheint mir wesentlich zu sein: Seelische Gesundheit ist stark mit der Bewältigung bzw. Akzeptanz der eigenen Biografie verbunden.
belastete Persönlichkeitsentwicklung
Die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit Intelligenzminderung ist hier oft in einem besonderen Maße belastet. Viele der Betroffenen erleben schon früh eine geringe Akzeptanz und Wertschätzung, was oft zu Abwertungen und Ausgrenzungen führt und in der Folge zu einer ausgeprägten Fremdbestimmung. Das Selbstwertgefühl wird beeinträchtigt. Die gerade im Hinblick auf die eigene biografische Entwicklung so wesentliche Selbstwahrnehmung wird überschattet und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eingeschränkt.
Umso wesentlicher ist – gerade unter dem Aspekt einer gelingenden Biografie – das Bemühen um eine umfassende und anhaltende Förderung. Die Stärkung der Resilienz, der »seelischen Widerstandskraft«, aufbauend auf versichernde Bindung und ermutigende Beziehungsgestaltung, wird zum zentralen Anliegen heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Begleitung.
Einzigartigkeit jeder Biografie
Die Besonderheit und Unverwechselbarkeit jeder Biografie hat Viktor E. Frankl eindrücklich beschrieben: »Der Mensch muss sich auch dem Leid gegenüber zu dem Bewusstsein durchringen, dass er mit diesem leidvollen Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt [oder darin begleitet wird, Anm. d.V.], darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung.«5
Es gibt viele Wege, einen Zugang zur menschlichen Biografie zu finden, ihre Bedingungen zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen. Ein für mich wesentlicher Zugang sind die einer Biografie zugrunde liegenden Rhythmen und inneren Bedingungen, wie sie der anthroposophisch orientierte Ansatz eröffnet.
biografische Rhythmen
Neben einem eigenen, inneren – vielleicht auch einsamen – Weg gibt es für die Entfaltung der Biografie noch übergeordnete Faktoren. In seiner anthroposophisch begründeten Menschenkunde beschreibt Rudolf Steiner diese Entwicklungsgesetze allgemeiner, überpersönlicher Art: neben anderen Rhythmen vor allem das Prinzip der Siebenjahresrhythmen (»Jahrsiebte«) und der »Mondknoten« (siehe das folgende Kapitel). Wer mit diesen Gedankengängen nicht bereits vertraut ist, kann sie unvoreingenommen auf ihre Plausibilität prüfen und die eigene Entwicklung und die nahe stehender anderer Menschen unter diesen Gesichtspunkten anschauen.
In jeder einzelnen menschlichen Biografie existiert ein individueller Spielraum, der das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und individueller Ausprägung sichtbar werden lässt.