Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 7
Vorwort
ОглавлениеEs gibt eine Ungewaltsamkeit hingebend hörender Haltung bei Unbeirrbarkeit des Grundes.
Karl Jaspers
Auf dieses Buch haben viele von uns seit Jahrzehnten gewartet – auf ein solches Buch!
Walter Dahlhaus schreibt über seelische Erkrankungen bei Menschen mit »kognitiven Einschränkungen«, oder anders: bei »Seelenpflege-bedürftigen Menschen« (Rudolf Steiner). Er schreibt aus »eingehenden persönlichen Erfahrungen« und einer umfassenden Kenntnis heraus, jedoch in einfacher, verständlicher Sprache, in einer Sprache, die uns allen zugänglich ist, Angehörigen und Betroffenen, Begleitern, Studenten, Therapeuten und Ärzten. Vor dem staunenden Blick des Lesers entfaltet sich ein Lehrbuch, wie es zuvor noch keines gegeben hat. Es vermittelt grundlegende Kenntnisse psychiatrischer Erkrankungen und heilpädagogischer Syndrome, ohne je die »Frage nach dem grundsätzlich Menschlichen« (Karl Jaspers), ja, ohne den konkreten Menschen je aus dem Blick zu verlieren. Er bleibt vielmehr in lebendiger Anschauung als Betroffener stets gegenwärtig. Das Buch weist den Weg, wie auch in sogenannten »Verhaltensstörungen« die Sprache des ringenden Menschen vernehmbar, »lesbar« und verstehbar ist oder werden kann. Die krankhaften Erscheinungen sind, in einem solchen Verständniszugang, nicht lediglich Abweichungen von der gesunden Norm, sondern werden, so Wolfgang Blankenburg, »in den Bedingungen ihrer Möglichkeit positiv aus dem Wesen des Menschen« deutlich, d.h. aus den konstituierenden Momenten des menschlichen Daseins. Die auffälligen Erscheinungen sind in gewisser Weise Leistungen, aktive Versuche der Selbstbehauptung in krisenhaften Situationen. Lernen wir, sie tiefer zu verstehen, so beginnen wir, den betroffenen Menschen anders zu erleben, und können anders mit ihm umgehen, unsere innere Haltung zu ihm neu justieren. »Man kann kaum einem Menschen seelisch etwas sein, in dessen Innenlage man sich nicht versetzen kann«, so zitiert Walter Dahlhaus Rudolf Steiner. Aus der neuen Erkenntnis und veränderten Haltung aber ergeben sich auch neue Weisen des Umgangs und der Förderung, der Bejahung, »Bestätigung« (Martin Buber) und Unterstützung. Das Buch ist ein Handbuch für eine neue, veränderte Praxis – und es weist auf, wie vielfältig diese Förderung sein kann, sofern »Therapie« im griechischen Wortsinn als »Dienst« am anderen neu verstanden wird, an seinem Werden, seiner Entwicklung und Entfaltung. Walter Dahlhaus schuf nichts weniger als ein Schulungsbuch, auf der methodischen Suche nach dem »inneren Ort« des anderen, des »gemeinten Menschen« in seiner »geheimen Gestalt« (Viktor Frankl). »Es kommt darauf an, etwas bis dahin Unbeachtetes beachtlich zu finden, den Blick auf Möglichkeiten zu lenken«, schrieb einst der Psychiater Karl Jaspers in der Einführung zu seiner Allgemeinen Psychopathologie.
Das Werk ist zutiefst ermutigend. Es weist nach, wie weit man im Verstehen des vordergründig Unverständlichen und Fremden kommen kann und welche Möglichkeiten der neuen »Beheimatung« sich dadurch erschließen, in einer gemeinsamen, menschlichen Welt. Als Betroffene, Angehörige, Begleiter und Therapeuten ergeben sich uns vor diesem Hintergrund Perspektiven, mit denen wir praktisch arbeiten und in die Zukunft gehen können. Die Salutogenese-Kategorien von Aaron Antonovsky wendet die vorliegende Schrift daher vollkommen zu Recht auch auf diejenigen an, die sich, solchermaßen mit neuen Grundlagen versehen, in der Begleitung und Förderung der Betroffenen engagieren, mit einem neuen »Gefühl der Verstehbarkeit«, der »Handhabbarkeit« und »Sinnhaftigkeit«. Walter Dahlhaus steht in seiner ärztlichen und psychotherapeutischen Arbeit nicht nur seit Jahrzehnten erkrankten oder bedürftigen Menschen und ihren Freunden und Angehörigen bei, sondern auch den therapeutischen Gemeinschaften, die sich um sie kümmern. In dem Buch wird für alle Leser fassbar, was er ihnen zu geben vermag – oder anders: was eine vertiefte Menschenerkenntnis und Beziehungsbereitschaft zu geben vermag.
Ein zentrales, wenn auch nur verhalten ausgesprochenes Anliegen des Buches ist es, Seelenpflege-bedürftige Menschen in krankheitsbedingten Lage-Zuspitzungen an ihrem Ort, ihrem zur Heimat gewordenen Ort halten zu können. Wir können lernen, ihr herausforderndes Verhalten in Krisenlagen besser zu verstehen und ihnen anders beizustehen. Sie sind gefährdeter in ihrer Konstitution und es gehört viel Erfahrung, aber auch ein »in Liebe vertiefter Blick« (Steiner) dazu, ihnen in Notlagen gerecht zu werden, ihre »Verhaltensstörung« nachvollziehen und behandeln zu können, ihnen die Treue zu halten. Folgt man den Ratschlägen dieses Buches, so wird dies in sehr vielen Fällen in Zukunft möglich sein.
Die Würdigung des Werkes sollte vor dem Hintergrund einer Jahrhundertgeschichtsschreibung erfolgen – was für ein Weg von Alfred Hoches und Karl Bindings Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens (1920) zu diesem Buch, einem Buch der Auferstehung aus schwersten Niederungen, des Genozids und der Krankenmorde. »Die Begründung des Lebenswertes liegt im Leben selbst«, betont der Autor, und nicht zuletzt seine »menschenkundlichen Reflexionen« zeigen auf, welchen Fortschritt die Humanität in den letzten Jahrzehnten, nach furchtbaren Verfinsterungen, genommen hat. Auf der anderen Seite ist uns deutlich, wie gefährdet und bedroht humanistische Positionen in einer technisierten Hochleistungsgesellschaft noch immer sind, die nur sehr bedingt Abstand vom Selektionsprinzip genommen hat. Das große »Ja des Sein-Dürfens«, das dem Menschen »nur von menschlicher Person zu menschlicher Person gewährt werden kann« (Buber), braucht in der Gegenwart wache und mutige Befürworter. Die Geschichten von Einzelnen, die in die Kapitel des Buches eingefügt sind, handeln in oft tief berührender Weise davon. Sie handeln letztlich von der unantastbaren Würde des Menschen, jedes Menschen in jeder Gestalt. »Die Gesellschaft sollte ihre Meinung gegenüber Menschen mit einer Schwäche überdenken«, so zitiert Walter Dahlhaus aus dem Text eines Betroffenen, einem der vielen »Lehrmeister von Eindeutigkeit und Aufrichtigkeit«.
Freiburg, Februar 2020
Peter Selg