Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 16
Biografische Entwicklung bei Menschen mit Assistenzbedarf
ОглавлениеVertrautes loslassen
Fast in jeder Biografie geht es, einmal oder mehrmals, darum, Vertrautes loszulassen. Gerade die wesentlichen Entwicklungsschritte bedürfen oft dieses Loslassens – manchmal gar eines wirklichen Sprungs in gänzlich Neues, Unbekanntes und Herausforderndes.
In seinem West-östlichen Divan beschreibt Goethe das folgendermaßen:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.9
Mut zu Neuem
Dieses »Stirb und werde« vollzieht sich in der Biografie von Menschen mit Intelligenzminderung auf unterschiedlichste Weise. Sei es das Verlassen des Elternhauses, der Umzug in eine andere Einrichtung, ein Werkstattwechsel, sei es der Umgang mit einer Krankheit, das Lösen einer Beziehung, was ja beim Wechsel von Bezugspersonen recht häufig notwendig ist – immer wird es das Loslassen von Vertrautem beinhalten und den Mut zu Neuem erfordern, den Mut des Betroffenen, aber auch den der Begleiter.
Erika, eine 34-jährige Frau mit Down-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, lebte seit 15 Jahren in einer Lebensgemeinschaft. Sie lernte einen Mann aus einem benachbarten Dorf kennen, einen Arbeiter ohne Intelligenzminderung – wie sich später zeigte, ein Alkoholiker. Nach langem Ringen und Widerständen der Mitarbeitenden in der Einrichtung und der rechtlichen Betreuerin wurde ihr zugestimmt, zu ihm zu ziehen. Wenig später erlitt er einen Schlaganfall. Sie pflegte ihn ein Jahr lang bis zu seinem Tod. Dann gliederte sie sich im Rahmen eines betreuten Einzelwohnens wieder an die Gemeinschaft an. Beeindruckend war ihre gerade auch in dieser herausfordernden Zeit erworbene tiefe Reife und Persönlichkeitsentwicklung sowie eine neue Eigenständigkeit, die sie im Weiteren prägte.
beeinträchtigte Entfaltung der Biografie
Das »Verpassen« der eigenen Biografie, möglicherweise bedingt durch die Angst vor dem Schritt in etwas Neues hinein, kann etwas Schmerzliches sein. Und es kann die Ursache seelischer Krisen und seelischer Erkrankungen darstellen. Nicht nur, aber gerade auch depressive Zustände können Folge einer verhinderten oder beeinträchtigten Entfaltung der Biografie sein.
In bedrängender Weise schildert Franz Kafka dies in mancher seiner Kurzgeschichten: beispielsweise wie ein Mensch vor einer Tür stehen bleibt, die nur für ihn selbst bestimmt ist und vor der ein »Wächter« (vielleicht die Personifizierung der Angst?) steht, der vermeintlich den Eintritt verwehrt – aber eigentlich ist diese Tür offen und bereit, durchschritten zu werden.10
Biografiearbeit als Hilfe
Biografiearbeit als adäquate Form der Psychotherapie
In der Sozialtherapie kann diese Aufmerksamkeit auf mögliche individuelle wie übergeordnete Entwicklungsschritte und die Hemmnisse davor wesentlich sein. »Biografiearbeit«, d. h. die Reflexion der individuellen Vergangenheit einer Person unter Berücksichtigung allgemeingültiger biografischer Rhythmen, stellt oft ein wesentliches, hilfreiches therapeutisches Mittel dar. In der Biografiearbeit kann ein Bewusstsein für den eigenen Lebensweg entwickelt werden. Menschen mit Intelligenzminderung können hier, wenn sie entsprechend unterstützt werden, erleben: »Ja! Ich bin auf einem Weg – und zwar auf meinem!« Das kann dann ermöglichen, im Fluss des eigenen Lebens nicht nur mitzuschwimmen, sondern auch einmal herauszutreten, um den Fluss vom Ufer aus zu betrachten. Oder bei der Wanderung auf dem eigenen Lebensweg über schwindelnde Höhen und durch tiefe Abgründe, durch weites und offenes, helles Gelände und durch finstere Schluchten einmal innezuhalten und einen Turm zu besteigen. Und von dort aus kann dieser Lebensweg rück- und vielleicht auch vorausblickend angeschaut werden. In diesem Sinne ist Biografiearbeit oft eine sehr adäquate Form der Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung.11