Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 9

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Vor dem Hintergrund meiner Tätigkeit als Heilpädagoge sowie meiner daran anschließenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Ausbildung stellt die Behandlung von Menschen mit Assistenzbedarf, die zusätzlich an einer seelischen Erkrankung leiden, seit mehr als zwanzig Jahren den Schwerpunkt meiner ärztlich-psychiatrischen Praxis dar. So durfte ich einen großen Kreis Betroffener – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – kennenlernen und als Arzt begleiten. Wichtige Erfahrungen eröffnete mir dabei die häufig langjährige, zum Teil jahrzehntelange Begleitung dieser Menschen.

besonderes Umfeld

Die oft große Not vieler dieser Menschen hat mich betroffen gemacht. Menschen mit Assistenzbedarf leben praktisch immer in einem besonderen Umfeld – in einem heilpädagogischen Rahmen wie Kindergarten oder Schule oder im sozialtherapeutischen Bereich bzw. im Zusammenhang einer WfbM, einer Werkstatt für behinderte Menschen. Zusätzlich steht dieser Personenkreis in einem weiteren unterstützenden Bezugsrahmen wie Heim, Tagesstätte oder betreuten Wohnstrukturen. Daneben gibt es noch das familiäre Umfeld. Hier habe ich unterschiedliche Beziehungsstrukturen kennengelernt. Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Assistenzbedarf erfahren teilweise durch Eltern und Geschwister eine entscheidende Förderung und Unterstützung. Gerade auch bedingt durch den Umstand, dass Mitarbeiter heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Institutionen häufig nur begrenzte Zeit verweilen, kann der familiäre Hintergrund oft Garant von Kontinuität sein.

Überforderung von Angehörigen

Daneben habe ich wiederum Angehörige erlebt, die durch das So-Sein der Betroffenen – gerade auch wenn zusätzlich eine seelische Erkrankung besteht – überfordert waren.

Dies bedingt, dass ich die betroffenen Menschen fast ausschließlich im Zusammenhang mit ihren Begleitern aus dem fachlich-institutionellen wie auch aus dem familiären Hintergrund betreue.

Not der Begleiter

Die Not der Erkrankten ist fast immer auch eine Not der Begleiter. Dies führte in den vergangenen Jahren dazu, dass ich für Kollegien heilpädagogischsozialtherapeutischer Einrichtungen, auf Fortbildungen und Tagungen sowie in Ausbildungsstätten vermehrt Weiterbildungsangebote über den Zusammenhang »seelische Erkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung« gestaltet habe.

hilfreiche Strukturen schaffen

Es galt und gilt, für diese Thematik zu sensibilisieren – um darauf aufbauend anzuregen und zu unterstützen, dass hilfreiche Strukturen geschaffen werden können, die den Bedürfnissen der Betroffenen angemessen sind. Auf diesem Boden können dann weitere therapeutische Maßnahmen angewendet werden.

Die in diesem Zusammenhang in mehr als 20 Jahren gesammelten Erfahrungen sind in dieses Buch eingeflossen.

Mein Schreiben ist getragen von der Hoffnung, dass ein größeres Wissen über seelische Erkrankungen helfen kann, sich entwickelnde Krankheiten früher zu erkennen, um möglichst früh möglichst hilfreiche Bedingungen – persönlicher wie struktureller Art – für die Betroffenen wie auch für die Begleiter gestalten zu können.

Allzu lange ist dieser Zusammenhang – das gleichzeitige Auftreten von intellektueller Beeinträchtigung und psychischer Erkrankung – nicht hinreichend wahrgenommen worden. Viele herausfordernde Verhaltensweisen von Betroffenen wurden unter dem Begriff der »Verhaltensstörung« be- und verurteilt. So wurde oft versäumt, die wirklichen Ursachen, den zielführenden Grund des Verhaltens, aufzusuchen, um adäquate Hilfen, Therapien und positive Strukturen anzubieten und aufzubauen. Oft ist übersehen worden, dass für viele Menschen mit kommunikativer und intellektueller Beeinträchtigung das jeweilige Verhalten die einzige zur Verfügung stehende »Sprache« ist.

Verhalten als »Sprache«

Gemeint ist damit Folgendes: Wie soll sich ein Mensch, der sich sprachlichkommunikativ nicht ausdrücken kann, der nicht über konstruktive Äußerungsmöglichkeiten wie Gebärdensprache, Bilder oder andere Formen einer »Unterstützten Kommunikation« (UK) verfügt, anders ausdrücken als über sein Verhalten?

Wir können als Menschen nicht nicht kommunizieren, wie es einmal benannt wurde.1 So können wir jedes Verhalten als Kommunikation verstehen – Rückzug, scheinbar situationsinadäquate Verhaltensweisen, expansivaggressive Zustände … alles, ohne Ausnahme, ist Kommunikation, oder anders ausgedrückt: »Sprache«. Es obliegt den Begleitern, zu versuchen, dieses jeweilige Verhalten zu »lesen«, diese »Sprache« nach und nach zu erlernen, also hinreichend zu verstehen. Und es gibt viele dieser Sprachen!

Entscheidend ist, diesen Zugang zu einem Verständnis nicht zu früh und zu schnell durch ein Urteil (beispielsweise, indem man den Begriff »Verhaltensstörung« ins Spiel bringt) zu verschließen.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung

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