Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 23
Menschenkundliche Diagnostik
ОглавлениеDenn darauf kommt es an, dass man es in seiner Macht hat, sich herauszureißen aus der einen Welt und sich hineinzufinden in die andere Welt. Und das ist überhaupt der Anfang alles Aufrufens innerer Kräfte.
Rudolf Steiner16
Anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und Sozialtherapie verstehen sich als Erweiterung der Verstehens- wie der therapeutischen Zugänge. Hinsichtlich der Diagnosefindung wollen sie keine Alternative zu dem bisher Beschriebenen sein. Aber sie beziehen wesentliche weitere Ebenen mit ein.
Existenz eines »unkrankbaren Wesenskerns«
Grundlage dieses Ansatzes ist die Existenz eines individuellen »unkrankbaren« Kerns, eines »Wesenskerns«, eines Ichs des Menschen. Dieser Kern ist geistiger Natur. Heilpädagogisches Tun in all seinen Facetten ist bemüht, diesen Kern zur Entfaltung zu bringen.
vertiefte Persönlichkeitsentwicklung
Es liegt im Wesen einer durch Anthroposophie erweiterten Diagnostik, dass diese sich nicht an äußeren Kriterien orientiert, sondern erweiterte Erkenntniszugänge beim Untersucher voraussetzt. Entsprechend einem Wort von Johann Wolfgang von Goethe kann »das Gleiche […] nur vom Gleichen erkannt werden«.17 Das bedeutet, dass ich als Untersucher mit meinen sinnlich unterstützten Erkenntnismöglichkeiten auch nur das sinnlich erfassbare erkennen kann, also zum Beispiel Größe, Augenfarbe, äußere Konstitution usw. Je tiefer meine um erkennendes Verstehen bemühte Diagnostik zum Wesen des anderen vordringen möchte, umso tiefer setzt dies eine eigene Vorbereitung voraus. Im Sinne einer »Erweiterung« geht es bei der hier gemeinten Vorbereitung um eine Entwicklung und Ausbildung meiner eigenen seelischen Fähigkeiten, der vertieften Persönlichkeitsentwicklung des Heilpädagogen bzw. der Sozialtherapeutin. Rudolf Steiner hat einen solchen Weg der »Selbsterziehung« an verschiedenen Stellen seines Werkes ausführlich beschrieben.18 Im Einzelnen sind dies hier die Erkenntnismöglichkeiten, die in stufenweiser Folge mit den Begriffen »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« umschrieben werden. Letztlich beschreibt dies Stufen eines immer vertiefteren Vordringens in einen geistig-spirituellen Bereich.
tieferes Verbundensein
Das Besondere dieses erweiterten diagnostischen Zugangs ist, dass es den Untersucher bzw. Begleiter und den anderen auf der jeweiligen Ebene tiefer verbindet: Der andere bleibt nicht nur ein beschreibbares Gegenüber, sondern ich weiß mich ihm in den tieferen Ebenen meines Menschseins verbunden.
Meditation und künstlerische Tätigkeit
Ermöglicht wird dieser Zugang zum einen durch eigenes spirituell-meditatives Bemühen, zum anderen ist es auch die künstlerische Tätigkeit, die hilft, entsprechende Wahrnehmungs-»Organe« zu entwickeln. Es ist ein Anliegen anthroposophisch orientierter Ausbildungsstätten, diesen künstlerischen Ansatz zu fördern.
Im engeren Sinn entwickelte Rudolf Steiner diesen erweiterten Ansatz in dem zum Ende seines letzten Wirkensjahres 1924 gehaltenen Heilpädagogischen Kurs.19 Dieser baut auf seinem in den vorangegangenen Jahrzehnten kontinuierlich ausgearbeiteten Modell einer »Menschenkunde« auf.
Zentrale Ansatzpunkte eines solchermaßen diagnostischen und damit auch erweiterten therapeutischen Zugangs sind folgende Ebenen:
•die dreigliedrige menschliche Organisation,
•die viergliedrige menschliche Organisation,
•polare Krankheitstendenzen und das Bedürfnis nach Ausgleich,
•die psychische Auswirkung der funktionellen Organtätigkeit.