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Zugänge zur dreigliedrigen menschlichen Organisation

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»Systeme« der menschlichen Organisation

Die Gliederung der menschlichen Organisation in drei unterschiedliche »Ebenen« bildet einen zentralen Ansatz Rudolf Steiners Menschenkunde ab. Sie stellt ein Nerven-Sinnes-System (NSS) einem rhythmischen System (RS) und einem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (SGS) gegenüber. Dabei umfasst das NSS neben seinem vorrangigen Pol des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark) alle auf neuronalen Strukturen fußenden Bereiche. Das RS beschreibt vorrangig die Bereiche im mittleren Menschen – in erster Linie die Herz- und Lungentätigkeit mit dem entsprechenden Puls- und dem Atemrhythmus, aber auch alle anderen rhythmischen Vorgänge im Organismus. Der dritte Bereich, das SGS, schließt alle Bereiche im Organismus ein, die der Tätigkeit dienen, also die Glieder, aber auch alle dem Stoffwechsel dienenden Organe.

Grundlage seelischer Prozesse

Rudolf Steiner führt im Zusammenhang mit diesem wesentlichen und originären menschenkundlichen Ansatz aus, wie diese unterschiedlich gegliederten Bereiche des menschlichen Organismus Grundlage differenzierter seelischer Prozesse sind: Unser Denken, also die bewusste, reflektierende Auseinandersetzung mit der Welt, stützt sich auf das NSS; die ihm angegliederten Sinnesorgane, unser Fühlen, fußt auf dem RS; mit dem SGS werden wir tätig, es dient unserem Willen, unserer Handlungsfähigkeit. Der Fähigkeit des wachen Bewusstseins im NSS steht eine eher dem Traum ähnliche Bewusstseinslage im RS gegenüber; die Vorgänge im SGS sind uns, ähnlich denjenigen während des Schlafes, nicht bewusst.20

Ein weiterer Bezug wird formuliert: Das Denken richtet sich am Gewordenen, an der Vergangenheit aus; mit dem Gefühl stehen wir in der unmittelbaren Gegenwart; mit dem Willen wenden wir uns dem zu, was werden will, der Zukunft.21

Gleichgewicht der Kräfte

Das Bemühen um ein jeweils individuelles Gleichgewicht dieser Kräfte ist zentrales Anliegen von anthroposophischer Pädagogik und Medizin.

Michael, bei der Aufnahme acht Jahre alt, verhält sich ausgeprägt ängstlich und unruhig. Er ist ein Kind, das zu früh mit zu viel konfrontiert wurde – mit mehr, als es verarbeiten konnte –, und das dabei alleingelassen wurde. So leidet Michael an einer komplexen Traumatisierung. Durch zu früh erzwungenes »Aufwachen« lebt er stark im Nerven-Sinnes-Bereich.

Der therapeutische Ansatz sucht den Ausgleich, die Stärkung der Stoffwechsel-Gliedmaßen-Region; Ziel ist es, Michael zu helfen, mehr in seinen Leib, »zu sich« zu kommen, also durch eine Stärkung dieser Funktionen die Überwachheit in der Nerven-Sinnes-Region zu beruhigen.

Zugang wird zunächst durch eine Haltung gesucht, die in allem ausdrücken möchte: »Es ist gut, du musst keine Angst haben, ich bin da!« Dies wird verstärkt durch die Prinzipien einer sicheren Bindung, d.h. Verzicht auf Willkür, Schaffen von Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Weiterhin werden Maßnahmen zur Beruhigung der Sinnesfunktionen vorgenommen, unter anderem, indem der Gebrauch von Medien stark eingeschränkt und die Sinneseindrücke generell begrenzt werden. Hinzu kommt eine Stärkung des Stoffwechselbereichs durch Wärmung, enstsprechende Ernährung, Massage, heileurythmische Übungen (vor allem »B« und »A«) oder Substanzen mit dem Schwerpunkt Silber und Bryophyllum.

In jahrelanger Begleitung wich die Angst einer wachsenden Sicherheit. Mit dem Ausgleich der beiden Pole stärkte sich auch der mittlere, der »rhythmische« Bereich: Der Schlaf vertiefte sich, die zunächst hohe Pulsfrequenz beruhigte sich, ebenso die Atemfrequenz. Die Fähigkeit zur Ausdauer, die Aufmerksamkeitsspanne, nahm deutlich zu.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung

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