Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 32
Angst als begleitendes Symptom seelischer Erkrankungen
ОглавлениеAngst begleitet fast alle wesentlichen seelischen Erkrankungen und stellt dabei oft ein zentrales Symptom dieser jeweiligen Erkrankung dar. Angst tritt aber auch bei körperlichen Erkrankungen auf und als Teil von Syndromen von Menschen mit einer intellektuellen Einschränkung.
umfassendes Symptom bei jeder seelischen Erkrankung
Im Einzelnen wird dies bei den jeweiligen Krankheitsbildern beschrieben und vertieft abgehandelt. Hier soll nur kursorisch und mit entsprechenden Hinweisen angeführt werden, dass Angst ein umfassendes Symptom ist, das bei jeder seelischen Erkrankung eine wichtige Rolle spielt.
Psychose
So kann ein Mensch im psychotischen Erleben schwere wahnhafte Ängste erleiden, insbesondere paranoide, also Verfolgungsängste. Eine solche Angst kann Teil der erlebten »Grenzauflösung« sein. Dies bedingt dann einen zunehmenden und letztlich umfassenden Verlust an Schutz durch Abgrenzung.
Das für unsere Sicherheit so grundlegende Wissen »Hier bin ich und dort ist der andere, hier bin ich und dort ist die Welt« kann für den Betroffenen verloren gehen. Ein psychotisch erlebender Mensch kann sich ungeschützt und elementarsten Kräften ausgeliefert erleben. In der akuten Psychose können schwerste Ängste auftreten, bis hin zu einer Todesangst und tiefster Isolation: ein letztlich absolutes Bedroht-Sein. »Der Mensch, das Selbst, die Person, der andere, die Welt haben keine Grenzen mehr bzw. die Grenzen verschwimmen.«35
Depression
In der Depression kann ein Mensch mit den Urängsten menschlichen Erlebens konfrontiert sein. Mit der Angst, Schuld auf sich geladen oder sich »versündigt« zu haben, mit der Angst vor Verarmung oder schwerer unerkannter Erkrankung. Mit der Angst, ausgestoßen zu sein und damit vereinsamen zu müssen, und letztlich der Angst, nicht geliebt zu werden.
Die Angst ist stark mit der Depression verbunden – sie kann so im Vordergrund stehen, dass die Depression dahinter nicht gesehen werden kann.
Neurotische Angst setzt gewissermaßen bei dem an, was Fritz Riemann ausgeführt hat: Diese Angst kann entstehen, wenn Entwicklungsschritte nicht angegangen oder bewältigt werden und ein Mensch vor den Herausforderungen stehen bleibt, die sein Leben ihm stellt. Ein englisches Wort mag dies erläutern: »A ship in a harbour is safe – but this is not what ships are built for« (Ein Schiff im Hafen ist sicher – aber dafür ist es nicht gebaut!). Stehen zu bleiben kann vielleicht vordergründig Sicherheit bedeuten, letztlich aber führt das Verharren, der mangelnde Mut, Schritte im eigenen Leben zu gehen, zu einem ausgeprägten Leiden.
Letztlich ist der Kern dieser Angst ein Zurückschrecken vor der eigenen Entwicklung, die Angst vor der »Individuation« (nach C. G. Jung).36
Borderline-Syndrom
Das Borderline-Syndrom kann von schweren Ängsten begleitet werden, die im Grunde diese Erkrankung prägen. Die Ängste kreisen hierbei um ein chronisches Gefühl der Leere und Langeweile und ein oft unerträgliches Empfinden innerer Orientierungslosigkeit. Dies bedingt die affektive Instabilität mit sowie das verzweifelte Bemühen, ein tatsächliches oder vermutetes Verlassen-Werden zu verhindern. Darin besteht vor allem der Kern dieser tiefen Angst. Der Versuch, dieser oft als gänzlich unerträglich empfundenen Angst auszuweichen, kann hinter den meisten der vielfältigen Symptome dieses Syndroms erkannt werden.
Demenz
Gerade am Beginn einer Demenz erlebt der Mensch seine nachlassende Orientierungsfähigkeit. Der damit einhergehende Verlust und die zunehmend erzwungene Aufgabe von Autonomie kann zunächst eine Quelle tiefer Angst sein. Im weiteren Verlauf der Erkrankung wird letztlich alles immer wieder neu und unüberschaubar für die Betroffenen. Sie können nicht auf Erfahrungen und erworbene Bewältigungsstrategien von Aufgaben und Herausforderungen zurückgreifen. Dies verunsichert einen Menschen zutiefst und führt zu extremster Angst. Das damit einhergehende Ausgeliefertsein verstärkt diese Angst.
Posttraumatische Belastungsstörung
Auch die Symptomatik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder auch Traumafolgestörung ist geprägt durch Angst. Hintergrund dieser wesentlichen seelischen Erkrankung ist eine massive Überforderung, ein Ausgeliefertsein, erlittene Gewalt oder Ähnliches. Ursache ist ein einmal oder anhaltend erlittener Einbruch in schützende Hüllen – seien dies Hüllen der umgebenden Personen, seien es eigene seelische Hüllen. Die PTBS ist gekennzeichnet durch fehlende Hilfe, vermissten Schutz, Ohnmacht, Ausgeliefertsein und Entgrenzung.
Angst ist ein zentrales begleitendes Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung. Eine frühe schwere Traumatisierung kann die Ausbildung und Funktion von Gehirnstrukturen beeinträchtigen, die mit Angstentstehung, Angstwahrnehmung und Angstbewältigung grundlegend verbunden sind (siehe das Kapitel über die PTBS, Seite 80 ff.).
Anorexie
Ess-Störungen werden geprägt und verursacht durch Angstphänomene. So verbirgt sich hinter der Anorexie, insbesondere der Pubertätsmagersucht, die Angst vor der Selbstwerdung, vor der eigenen Persönlichkeitsreifung, insbesondere auch der Ausbildung einer sexuellen Identität. All dies steht hinter der Angst vor einer Gewichtszunahme – die in der Selbstwahrnehmung äußerer Ausdruck dieser »Selbstwerdung« ist.
Bulimie
Bei Menschen, die eine Bulimie entwickeln, zeigt sich oft hinter einer äußeren »Fassade« eine tiefe Selbstunsicherheit: die Angst, als der Mensch »entdeckt zu werden«, der man eigentlich ist – und tiefe Scham gerade auch gegenüber dem eigenen Essverhalten. Eine Scham, die auch den Zugang zum anderen oft sehr erschwert.