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Ängste als Teil eines gesunden Seelenlebens

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Angst als Schutzmechanismus

»Gesunde« Angst beschreibt einen sehr notwendigen, Sicherheit gebenden Schutzmechanismus. Angst können wir in diesem Sinne als sinnvoll und lebensnotwendig, ja, wie ein Alarmsystem verstehen. Wir werden gewissermaßen durch einen »automatischen« Schutzmechanismus in die Lage versetzt, eine Gefahr schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. So kann diese Alarmreaktion in plötzlichen Gefahrensituationen – im Straßenverkehr, in der Begegnung mit einem wilden Tier, in Naturkatastrophen, bei Feuer oder Ähnlichem – unser Leben retten. Wir müssen es sogar als pathologisch ansehen, wenn diese Angstreaktion nur begrenzt möglich ist, wie beispielsweise bei manchen Formen des ADHS. Bei der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung fehlt Kindern, durchaus auch betroffenen Erwachsenen, oft ein hinreichendes Gefühl für reale Gefahren.

Angst als Helfer, Kräfte zu aktivieren

Angst kann auch helfen, herausfordernde Situationen zu bewältigen. Wir können dabei vor der Angst stehen bleiben und vor ihr zurückweichen oder durch die Angst hindurchgehen – und daran wachsen. Ein charakteristisches Beispiel ist das »Lampenfieber«: die Angst vor einem Konzert, einem Vortrag, einem Referat oder Ähnlichem. Hier kann Angst helfen, Kräfte zu aktivieren. Unterstützend kann dann sein, wenn ich mir sage: »Ich weiß, dass ich das kann«, wenn ich mich also auf die eigene Befähigung besinne, die gestellte Aufgabe zu bewältigen. Es kann hier auch helfen, sich bewusst zu machen: »Es geht nicht um mich, sondern um die Sache, und die Sache ist gut«, wenn es sich um eine Herausforderung handelt, die nicht nur dem persönlichen Interesse dient. Eine vertiefte Motivation kann dazu beitragen, Angst auszuhalten. Ich kann mir auch sagen: »Hier bin ich, und ich werde tun, was ich kann und was in meinen Kräften steht.« Dieses Aufrufen einer inneren Haltung, die Anspannung der eigenen Kräfte trägt häufig dazu bei, dass Unruhe und Angst nachlassen und der Fokus zielstrebig auf die anstehende Aufgabe gerichtet werden kann.

Vertiefung der Persönlichkeit

Wenn man sich einer solchen Aufgabe gestellt und sie bewältigt hat, ist dies anschließend oft mit einem tiefen Glücksgefühl, dem Gefühl eines persönlichen Reifeschrittes und damit einer Vertiefung der Persönlichkeit verbunden.

Fritz Riemann beschreibt die Angst in dem Zitat am Anfang dieses Kapitels auch als einen wesentlichen Aspekt persönlicher Reifung. Jeder Mensch durchläuft diese Schritte. Ein Mensch mit Unterstützungsbedarf benötigt hier unsere Wahrnehmung, wo für ihn möglicherweise angstbesetzte Reifungsschritte anstehen. Er fragt uns gewissermaßen nach Strategien, diesen jeweiligen angstauslösenden Herausforderungen zu begegnen. Gerade auch im Umgang mit Angst wird der Begriff des »Assistenzbedarfs« sehr konkret.

Grundtendenzen psychosozialer Entwicklung

Im weiteren Verlauf seines Buches schildert Fritz Riemann unterschiedliche Angsttendenzen, die wir als Menschen in uns tragen. Er beschreibt damit das Spannungsfeld zwischen Individuation und sozialer Integration, in das jeder Mensch sich auf die ihm gemäße Weise eingliedern kann und muss. Riemann unterscheidet vier Grundtendenzen individueller psychosozialer Entwicklung: Die Fähigkeit, sich einem Größeren eingliedern zu können, steht der Fähigkeit gegenüber, im Sinne einer Individuation die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und verfolgen zu können. Und die Fähigkeit, Dauer und Beständigkeit im eigenen Leben zu entwickeln, steht in einem Spannungsverhältnis zu der Fähigkeit, sich zu verändern und zu wandeln.

Letztlich sind es gerade diese scheinbaren Widersprüche, deren jeweilige Integration Entwicklung ermöglicht: Die Angst vor Selbsthingabe, die Angst vor Selbstwerdung, die Angst vor Notwendigkeit und Endgültigkeit und die Angst vor Wandlung entwickelt und beschreibt Fritz Riemann als die »Grundformen der Angst«. Jeder Mensch trägt diese Ängste in unterschiedlicher Gewichtung in sich.

Die Lösung und damit die Voraussetzung zur persönlichen Freiheit sieht er in der Akzeptanz unserer menschlichen Begrenztheit, in der Annahme von Abhängigkeit in unserem Leben, anders ausgedrückt: darin, sich vertrauensvoll dem Fremden zu öffnen. Weitere Aspekte sind die Annahme von Einsamkeit, also die Akzeptanz, dass ein Verlust an Geborgenheit Teil der persönlichen Entwicklung sein kann, sowie die Akzeptanz eigener Schwächen. Und letztlich ist auch die Annahme von Vergänglichkeit von Bedeutung, also den Tod als Teil des Lebens, die Notwendigkeit von Abschied zu akzeptieren.33

Diese grundlegenden Aspekte von Angst können als wesentliche Bestandteile einer gesunden persönlichen Entwicklung gesehen werden.

altersgebundene Ängste von Kindern und Jugendlichen

Einen weiteren Bereich von Ängsten, die Teil einer normalen Entwicklung sind, stellen die altersgebundenen Ängste des Kindes und der Jugendlichen dar. So zeigen Kinder in unterschiedlichen Entwicklungsstufen Angst vor Gewitter, Gespensterangst und Dunkelangst. Fremdenangst, Trennungsangst, Angst vor Einbrechern oder ein »Pavor nocturnus«, die Angst vor Nacht und Dunkelheit, sollten nicht generell als pathologisch erachtet werden, sondern als naturgegebener Aspekt biografischer Entwicklung.

Eine charakteristische Angst von Jugendlichen in der Pubertät ist das angstvolle Betrachten des sich verändernden Körpers und die Frage nach Normalität. Dies sind keine pathologischen Ängste, sie begleiten vielmehr die Entwicklung. Es gilt hier darauf zu achten, dass diese Ängste nicht über ein im Sinne der Angst adäquates Alter hinausgehen bzw. dass das Maß dieser Ängste andere Entwicklungsschritte nicht überschattet.

Es kann vielleicht verallgemeinernd gesagt werden: Ob und wieweit eine seelische Situation als Krankheit angesehen werden muss, liegt immer auch daran, wie die Angst individuell bewältigt werden kann, und letztlich auch, ob ein Mensch daran leidet. Hier sind die Grenzen sehr fließend: Was der eine Mensch verarbeiten kann oder vielleicht sogar als positive Herausforderung erlebt, kann für den anderen unerträglich sein.

Fähigkeit zur Individuation fördern

Die Unterstützung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung bzw. Assistenzbedarf in diesen Fragen gehört zu herausragenden Aufgaben einer heilpädagogischen bzw. sozialtherapeutischen Begleitung. Diese unsere Begleitung muss der Fähigkeit zur Individuation jedes Einzelnen dienen, also auf dem Bemühen gründen, einem anvertrauten Menschen ein selbstbestimmtes, d. h. ein auf Selbstfindung aufgebautes Leben zu ermöglichen. So können gerade die hier geschilderten Aspekte der Angst als einer möglichen Hemmung vor anstehenden Entwicklungsschritten entweder der persönlichen Reifung dienen – oder Ausgangspunkt einer die Entwicklung beeinträchtigenden Angstsymptomatik darstellen.

Selbstbestimmungsrecht achten

Aber auch dies: Wir haben kein Recht, von außen einem Menschen abzuverlangen, einen Schritt zur Bewältigung von Angst zu gehen. Immer müssen wir die individuelle Freiheit und das damit einhergehende Selbstbestimmungsrecht achten.

In der Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf obliegt es dem Begleiter, gerade dafür ein Gefühl zu entwickeln und gegebenenfalls Hilfen bzw. Bewältigungsstrategien (sogenannte Coping-Strategien) anzubieten.

Angst ist eine Herausforderung – deshalb sollten immer, wirklich immer in der Begleitung eines Menschen unsere Fragen sein: »Willst du da herangehen?« – »Willst du, dass ich dir dabei helfe?« – »Kann ich dir helfen, an diese Angst heranzugehen?« – »Meinst du, wir können zusammen da herangehen?« usw. Da gibt es viele möglichen Formen, immer getragen von der Achtung der Freiheit des anderen. Aber niemals dürfen wir vermitteln: »Du musst da durch!«

Dann kann – wie für jeden Menschen – die Bewältigung bzw. Überwindung einer Angst ein tiefes Entwicklungspotenzial bedeuten.

frei gewählte innere Entwicklung

Neben dieser »not-wendigen« Angst beschreibt Jakob Böhme (1575–1624), der in Görlitz als Philosoph und Mystiker lebte, eine ganz andere Form. Hier wird Angst in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt. Es geht ihm um Angst als Begleitung einer frei gewählten inneren Entwicklung. Er sagt: »Es wird kein Leben, es zerbreche denn dasjenige, daraus das Leben gehen soll. Es muss alles in die Angstkammer ins Centrum eingehen, und muss den Feuerblitz in der Angst erreichen, sonst ist keine Anzündung, wiewohl das Feuer mancherlei ist, also auch das Leben; aber aus der größten Angst urständet auch das größeste Leben, als aus einem rechten Feuer.«34

In dieser uns heute fremd anmutenden Sprache weist Jakob Böhme auf Bedingungen der inneren Entwicklung und der Meditation. Gemeint ist, dass Menschen auf einem inneren Weg durchaus vor Situationen der Angst vor der Tiefe des Erlebten stehen können. Das Durchgehen durch diese Angst ermöglicht dann eine vertiefte innere Entwicklung: »… aus der größesten Angst urständet auch das größeste Leben …«.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung

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