Читать книгу Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus - Страница 22
Ebenen der Diagnostik
ОглавлениеVerdachts- oder Arbeitsdiagnose
Der Weg zu einer Diagnose erfolgt in Schritten. Zunächst wird eine Verdachts- oder Arbeitsdiagnose erstellt. Je nach den vorherrschenden Symptomen werden mögliche zusätzliche Symptome erfragt oder aufgesucht, die die Verdachtsdiagnose erhärten könnten – oder entkräften. Auf dieser ersten Stufe ist absolute Offenheit gegenüber dem Ergebnis nötig.
Mitarbeitern fällt auf, dass Erika, eine 41-jährige Bewohnerin mit mittelgradiger Intelligenzminderung, seit Herbstbeginn zunehmend in sich gekehrt ist, ein größeres Rückzugsbedürfnis zeigt, gelegentlich weinend erlebt wird und in der Werkstatt deutlich antriebsgemindert erscheint. Die Nachfrage bei früher in der Gruppe tätigen Mitarbeitenden und den Eltern bestätigt (neben anderen Ausschlussfaktoren, siehe unten) den Verdacht einer saisonalen Depression, die auch schon in Vorjahren manifest war. Dies öffnet den Weg in eine milde, pflanzlich orientierte Therapie, ergänzt durch eine Lichttherapie, die dann auch in den Folgejahren, schon vorbeugend, über die Herbst- und Wintermonate durchgeführt wird.
Andreas, ein 46-jähriger Bewohner mit Fragilem-X-Syndrom, zeigt, bei ihm bisher unbekannt, erhebliches sachaggressives Verhalten, zunehmend auch verbale Aggressionen. Bei weiterer Nachfrage treten zusätzliche Symptome zutage: Rückzugstendenzen, nachlassende Leistungsfähigkeit in der sonst geliebten Werkstatt, ein zunehmender Appetitverlust mit Gewichtsabnahme. Es stellt sich heraus, dass die veränderte Situation einige Wochen nach dem Auszug seines Bruders in eine andere Wohngruppe eingetreten ist. Nachdem weitere diagnostische Möglichkeiten ausgeschlossen wurden, kann die Diagnose einer Depression gestellt werden, was den Weg in eine unterstützende Therapie öffnet.
Werner, ein 25-jähriger Bewohner mit Zustand nach frühkindlicher Hirnstörung, erscheint den Mitarbeitenden zunehmend »wesensverändert«. Er zeigt Verhaltensweisen, die bei ihm bisher unbekannt waren, vor allem in Form einer ausgeprägten Reizbarkeit und Zurückweisung. Er wirkte in immer stärkerem Maße »nicht einfühlbar« für die Mitarbeitenden. Bei einer weiteren Beobachtung über die nächsten Wochen unter Einschluss der Werkstatt und der Familie fielen weitere Symptome auf: zunächst ein eingeschränkter Schlaf sowie nächtliches Umherirren, außerdem Selbstgespräche. Auf vorsichtige Nachfrage erläutert er, dass »jemand zu ihm spricht«. Aus seinem Verhalten wird immer mehr ersichtlich, dass er sich beobachtet, zunehmend auch bedroht fühlt.
Nach der Abklärung beispielsweise möglicher körperlicher Ursachen (siehe den Abschnitt über die Differenzialdiagnose, Seite 46 ff.) kann die Diagnose einer Psychose gestellt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.
Jede Diagnose baut auf vielfältigen Symptomen auf. Je umfassender und eindeutiger die Symptome sind, desto sicherer kann die Diagnose gestellt werden.
Wahrnehmung der Begleitenden
Die Wahrnehmungen der Begleitenden, auch der Angehörigen ergänzen die Wahrnehmungen des Arztes entscheidend. Der Arzt hat oft nur einen sehr begrenzten Einblick in die Abläufe und das Alltagsgeschehen. Wesentlich ist der Eindruck, den er in der persönlichen Untersuchung des Betroffenen bekommt – danach liegt es an ihm, ergänzend an die Begleiter die »richtigen« Fragen zu stellen sowie gegebenenfalls weitere Untersuchungen zu veranlassen. Durch diese unterschiedlichen Blickwinkel und Aspekte wird das Bild gerundet und eine Beurteilung, d. h. Diagnose ermöglicht. Hier kann es wesentlich, ja entscheidend sein, wenn Mitarbeitende in heilpädagogischen wie sozialtherapeutischen Institutionen Grundkenntnisse über Erscheinungsformen seelischer Krankheiten haben.
vom Einzelnen zum Allgemeinen
Immer ist es zunächst der Einzelne, von dem all das ausgeht, der Betroffene, seine Symptomatik, sein Leiden. Dann gilt es, diese jeweils individuell erscheinende Symptomatik vor einem übergeordneten Bild zu sehen: Man geht vom Einzelnen zum Allgemeinen. Wenn sich die Symptome des Einzelnen im übergeordneten Bild einer seelischen Erkrankung (einer Psychose, einer PTBS, einer Depression, einer Demenz etc.) wiederfinden, hilft mir das entscheidend auf dem Weg zur Diagnose. Und mit dem Wissen über das Krankheitsbild und die damit zusammenhängenden Therapiemöglichkeiten komme ich dann wieder zum Individuellen zurück und kann einen individuellen Therapieplan entwickeln.
Ausschlussdiagnose
Unmittelbar neben der Arbeitsdiagnose steht die Ausschlussdiagnose.
Die Ausschlussdiagnose beinhaltet auch eine Differenzialdiagnose. Das meint: Ein und dasselbe Symptom kann für unterschiedliche Krankheiten sprechen. Dies führt zu der Frage: Gibt es mögliche Ursachen der Symptomatik, die zunächst ausgeschlossen werden können oder auch müssen?
Abklärung möglicher körperlicher Ursachen
Prinzipiell setzt das Stellen einer seelischen Diagnose eine Abklärung möglicher körperlicher Ursachen voraus. Bei Menschen mit einer primären Behinderung, d. h. einer bekannten Entwicklungsbeeinträchtigung, bei denen eine erhebliche seelische (psychische) Symptomatik hinzutritt, gilt dies ganz besonders. Schmerzen oder andere Missempfindungen können oft nicht unmittelbar verstehbar artikuliert werden, können aber das veränderte oder herausfordernde Verhalten verursacht haben. Die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit ist ein entscheidender Faktor, der hinreichend berücksichtigt werden muss. Eine seelische Veränderung kann aber immer auch durch schwerwiegende Veränderungen im Gehirn (beispielsweise durch einen Tumor oder eine Entzündung) oder durch eine veränderte Stoffwechselsituation verursacht sein. Eine gründliche Abklärung ist also in jedem Fall erforderlich.
Basisdiagnostik
So gehört im Allgemeinen das Erstellen einer CT (Computertomografie) oder MRT (Kernspintomografie) des Kopfes zum Ausschluss eines Tumors oder einer entzündlichen Erkrankung im Kopf zur Basisdiagnostik. Ebenso müssen Laboruntersuchungen durchgeführt werden, um eventuelle Stoffwechselstörungen auszuschließen. So es noch nicht erfolgt ist, können oft auch genetische Untersuchungen zum Ausschluss einer genetisch bedingten Ursache einer Diagnosesicherung dienen.
»körperlich vor seelisch«
Trotz manchmal beeindruckender Hinweise auf eine wahrscheinlich seelische Ursache von aufgetretenen Symptomen ist es also unabdingbar, generell eine mögliche körperliche Ursache auszuschließen – gemäß dem Satz: »Körperlich vor seelisch.« Dies beinhaltet keine Wertung, aber eine körperliche Ursache bedarf oft eines raschen Eingreifens, die Folgen können schwer sein, wenn eine Behandlung zu spät oder gar nicht vorgenommen wird. Im Zweifelsfall sollte eine stationäre Untersuchung mit den entsprechenden technischen Mitteln ermöglicht werden, auch wenn dies betreuungstechnisch oft schwierig ist.
Eine 27-jährige Frau ohne Intelligenzminderung wurde bei zunehmender Nahrungsverweigerung und Gewichtsabnahme bis zur Kachexie (also einer extremen, krankhaften Abmagerung) unter der Verdachts- bzw. Arbeitsdiagnose einer Anorexie in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Wenige Wochen vor ihrem Tod wurde als Ursache ihrer Gewichtsabnahme eine Krebserkrankung festgestellt.
Bernd ist ein 22-jähriger Bewohner mit Down-Syndrom und mittelgradiger Intelligenzminderung. Schon anamnestisch wird eine ausgeprägte Schwäche und Kränklichkeit beschrieben sowie eine Antriebsarmut. Er wird vorgestellt wegen Reizbarkeit und negativer Stimmung unter der Verdachtsdiagnose einer Depression.
Seine unreine Haut, sein blass-fahles Aussehen sowie ausgeprägt »schlechte« (demineralisierte) Zähne fallen auf. Bei Nachfrage wird ein übel riechender häufig voluminöser Stuhlgang beschrieben. Daraufhin veranlasste weitere Untersuchungen brachten zutage, dass er an Zöliakie litt. Eine daran angepasste Diät führte im Laufe eines Jahres zu einer ausgeprägten Aufhellung der Stimmung und zu einer allgemeinen Kräftigung.
Bei Ernst, einem ansonsten ruhigen und gewissenhaften Bewohner mit Zustand nach FKHS (frühkindlicher Hirnschädigung) und leichter bis mittelgradiger Intelligenzminderung fielen starke Spannungszustände auf sowie ein zunehmend unwillkürliches Verhalten, Unruhe und Schlafbeeinträchtigung. Weitere Symptome wiesen unmittelbar auf eine paranoid-psychotische Erkrankung hin. Da bisher noch keine radiologische Bildgebung erfolgt war, wurde eine MRT-Untersuchung eingeleitet, die Hinweise auf einen entzündlichen Prozess im Gehirn zeigte. Eine Untersuchung des Liquors (der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit) durch Lumbalpunktion bestätigte den Verdacht.
Eine zu frühe neuroleptische Behandlung hätte diesen bedrohlichen Befund verschleiert und die hier entscheidende frühzeitige antibiotische Behandlung verhindert. So konnten die Untersuchungen auf eine physische Ursache der Symptome den Zustand letztlich entscheidend positiv beeinflussen.
Medikamenteneinnahme
Auch muss berücksichtigt werden, ob aktuell gegebene Medikamente ursächlich für die seelische Veränderung verantwortlich sein können.
Prinzipiell kann dies für kein Medikament ausgeschlossen werden, man muss jedes Medikament entsprechend prüfen. Besonders aber muss das bei Antiepileptika, Antibiotika sowie Herzmedikamenten berücksichtigt werden.
Bei Johanna, einer zehnjährigen Schülerin mit Zustand nach frühkindlicher Hirnschädigung durch einen Ertrinkungsunfall im Kleinkindalter und einer daraus resultierenden sekundär generalisierten Epilepsie traten zunehmend starke Verhaltensauffälligkeiten auf, vor allem erhebliche fremdaggressive Verhaltensweisen. Nach einer Klärung des Umfeldes wurde deutlich, dass diese Verhaltensänderungen nach dem Einsatz eines Medikamentes mit dem Wirkstoff Levetiracetam aufgetreten waren. Eine Veränderung der antiepileptischen Medikation führte zu einer entscheidenden Verbesserung der Symptomatik.
Manchmal ist es bei der Diagnosestellung gut, wenn wir als Untersucher »blinzeln«. Das bedeutet: Manchmal wird man von der Sonne so geblendet, dass man blinzelt, um noch etwas sehen zu können. Übertragen heißt das: Manche Symptome erscheinen so eindeutig, dass man nicht mehr nach links und rechts schaut, d. h. auch alternative Verursachungen einer Symptomatik nicht mit einbezieht. So kann es generell helfen, durch »Blinzeln« aufmerksam zu sein, ob eventuell doch andere Ursachen bestehen. Wenn das ausgeschlossen ist, kann dann umso beherzter und eindeutiger aufgrund einer bestätigten Diagnose gehandelt werden.
zu frühe Festlegung vermeiden
Wichtig ist bei einer Diagnosefindung auch, eine zu frühe Festlegung auf eine Diagnose zu vermeiden. Man muss immer auch die Möglichkeit berücksichtigen, dass – auch wenn vieles dagegen spricht – einmal eine andere Diagnose zutreffen kann.
Eine 42-jährige Bewohnerin mit einer ausgeprägten Intelligenzminderung wurde zum wiederholten Mal in den Akutbereich einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. Bei den häufigen früheren Aufnahmen stand jeweils ein erheblicher Erregungszustand mit Fremdaggressivität und Schreizuständen im Mittelpunkt. Unter der Diagnose einer psychotischen Episode wurde neuroleptisch behandelt, was den Zustand jeweils sehr rasch besserte, sodass die Bewohnerin nach einer Krisenintervention wieder in ihre vertraute Einrichtung zurückkehren konnte. Bei der erneuten Aufnahme zeigte sich grundsätzlich das gleiche Verhalten, dem erfahrenen Stationspfleger fielen nur geringfügige Verhaltensänderungen auf. (»Irgendwie schreit sie diesmal anders.«) Bei der körperlichen Untersuchung wurde ein »akutes Abdomen« festgestellt, also eine chirurgische Notfallsituation. Die am selben Tag durchgeführte erfolgreiche chirurgische Behandlung erbrachte die Diagnose einer Eileiterschwangerschaft.
Differenzialdiagnose
Nahezu jede Diagnose einer seelischen Erkrankung umfasst relativ eindeutige Kernsymptome, die die Diagnose erleichtern und bestätigen können, aber es gibt auch viele Symptome, die prinzipiell unterschiedlichen Erkrankungen zugeordnet werden können. Zur Klärung ist also eine Differenzialdiagnose notwendig.
aggressives Verhalten
So können insbesondere auto- wie fremdaggressive Verhaltensweisen durch unterschiedlichste Ursachen und Bedingungen ausgelöst werden. Die Feststellung von »aggressivem Verhalten« rechtfertigt noch keine diagnostische Einschätzung. Diese muss dann aber zwingend erfolgen (siehe hierzu auch das Kapitel »Aggressive Verhaltensweisen«, Seite 359 ff.).
Schlafstörungen
Ähnliches gilt für Schlafstörungen. Grundsätzlich kann das Schlafverhalten individuell sehr unterschiedlich sein. Äußere Faktoren wie Lärm, Wärme oder Mangel an frischer Luft können den Schlaf beeinträchtigen, ebenso freudige wie belastende Eindrücke. In den Wechseljahren kann bei betroffenen Frauen ein vorher stabiles Schlafverhalten schwer beeinträchtigt sein. Ein gestörter Schlaf kann aber auch Symptom einer Traumafolgestörung oder einer Psychose sein; außerdem können Angststörungen den Schlaf massiv beeinflussen. Depressionen können sowohl zu vermindertem wie auch zu vermehrtem Schlaf führen. Nicht zuletzt müssen körperliche Ursachen bedacht werden: Eine »Somnolenz«, also eine sehr ausgeprägte und zunehmende Schläfrigkeit kann beispielsweise durch einen erhöhten Hirndruck bedingt sein.
Auch die Feststellung eines anhaltend veränderten Schlafverhaltens ist mit der Notwendigkeit einer breiten diagnostischen Abklärung verbunden.
Angst
Hinter dem Symptom der Angst kann eine reale Bedrohung stehen, zum Beispiel wenn nach einer Traumatisierung weiter die Möglichkeit einer Täterexposition besteht.
Angst ist außerdem ein Kernsymptom psychotischer Erkrankungen sowie von Depressionen oder generell der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Angst kann eine Ess-Störung begleiten oder ein Frühsymptom der Demenz bei nachlassender Orientierungsfähigkeit sein. Natürlich stellt Angst auch das zentrale Symptom bei den unterschiedlichen Formen einer »Angststörung« dar, hier oft noch begleitet von körperlichen Symptomen (siehe auch das Kapitel »Angst«, Seite 65 ff.).
Zwangssymptome
Auch die Feststellung einer Zwangssymptomatik ergibt noch keinen Hinweis auf die »Ätiologie«, also die Ursache des Zwangsverhaltens. Eine Zwangsstörung kann beispielsweise Ausdruck einer neurotischen Störung sein (siehe auch das entsprechende Kapitel, Seite 210 ff.).
Andrea, 20-jährig mit primärer Chromosomenanomalie (Turner-X0-Syndrom), zeigte in den Monaten vor einer angedachten Aufnahme in eine Lebensgemeinschaft zunehmend psychotisch anmutende Zwangssymptome (Kontrollzwänge), eine »lauschende Kopfhaltung« wie bei innerem Dialog sowie immer öfter eine aggressive Verteidigung der Zwänge. In einer einfühlsamen Klärung der Situation wurde ein tiefer Konflikt deutlich: zwischen dem Wunsch, die vertraute Geborgenheit im Elternhaus auch weiter genießen zu können, und der Lust auf Veränderung und das Zusammenleben mit Gleichaltrigen. In einer intensiven psychotherapeutisch ausgerichteten ergotherapeutischen Begleitung wurde an Ermutigung gearbeitet. Zunehmende Kontakte mit der angedachten Gemeinschaft, Besuche dort, einzelne Übernachtungen etc. ließen die Angst immer mehr zurücktreten, sodass die Freude auf die Veränderung gestärkt wurde. Die Zwangssymptomatik bildete sich letztlich gänzlich zurück.
Hinter Zwängen kann aber auch eine Psychose stehen. Sehr häufig ist eine Autismus-Spektrum-Störung Ursache einer Zwangssymptomatik. Daneben müssen auch weitere mögliche Ursachen bedacht werden. Die einzelnen hier angedeuteten Krankheitsbilder werden in den jeweiligen Kapiteln eingehend beschrieben.
Die hier geschilderten differenzialdiagnostischen Überlegungen stellen nur verhältnismäßig häufige Ursachen dar – immer gilt es, die jeweilige Situation mit dem behandelnden Arzt umfassend abzuklären.
Berücksichtigung der primären Behinderung
Teil der differenzialdiagnostischen Klärung ist auch die Berücksichtigung der primären Behinderung. So zeigen Menschen mit einem Fragilen-X-Syndrom häufig Ängste in ihrem Verhalten. Betreute mit einem Williams-Beuren-Syndrom entwickeln oft Zukunftsangst, Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) Unruhe, Somatisierungen (»Bauchschmerzen«) sowie depressive Zustände. Angst ist auch bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einem Angelman-Syndrom ein dringend zu beachtendes Symptom. Erwachsene mit einem Rubinstein-Taybi-Syndrom können ausgeprägte Stimmungsschwankungen zeigen, die an eine bipolare Störung denken lassen. Bei Menschen mit einer Tuberösen Hirnsklerose besteht oft eine Zwangssymptomatik.
Dies sind nur exemplarische Beispiele, die in der Einzelsituation gründlich erwogen werden müssen.
Diagnosis ex juvantibus
Eine besondere Form der Diagnose ist die »Diagnosis ex juvantibus«. Das bedeutet: Wenn eine Maßnahme bzw. ein Medikament, das zur Behandlung einer bestimmten Erkrankung eingesetzt wird, zur Verbesserung einer Symptomatik führt, kann dies eine Verdachtsdiagnose bestätigen.
Bei Simone, einer 16-jährigen Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung, traten erhebliche nicht einfühlbare morgendliche Stimmungsveränderungen mit Reizbarkeit und Müdigkeit auf, zum Teil verbunden mit nächtlichem Einnässen. Eine EEG-Untersuchung zeigte keine eindeutigen Hinweise, die die Verdachtsdiagnose epileptischer Anfälle gestützt hätte. Eine EEG-Dauerableitung war aufgrund der primären Symptomatik in Form erheblicher Ängste nicht möglich. Auch eine nächtliche Überwachung einschließlich eines Epi-Care®-Gerätes, das epileptische Anfälle registrieren kann, erbrachte keine eindeutigen Hinweise. Aufgrund der dringenden Verdachtsdiagnose einer Epilepsie mit schlafgebundenen Anfällen wurde dennoch eine antiepileptische Medikation durchgeführt. Die nächtliche Situation stabilisierte sich daraufhin vollständig.
Bei Ludwig, einem 42-jährigen Mann mit zunehmenden Verhaltensbesonderheiten in Form von Rückzugstendenzen, Zurückweisungen, eingeschränkter Emotionalität und zunehmender Abgezogenheit, zeigte sich – auch nach Prüfung von Ausschlusskriterien – die Verdachtsdiagnose einer psychotischen Entwicklung. Nach Klärung des Umfeldes und dem Versuch einer veränderten Milieugestaltung wurde ein niedrig dosiertes Neuroleptikum eingesetzt. Die Symptomatik glich sich darauf weitestgehend wieder aus, sodass ihm seine vorherige emotionale Schwingungsfähigkeit wieder zur Verfügung stand. Die Gabe des Neuroleptikums bestätigte als Ursache der Symptomatik eine psychotische Entwicklung.
Möglichkeit einer Fehldiagnose
Immer muss man sich bewusst sein, dass die zunächst gestellte Diagnose falsch sein kann – also eine Fehldiagnose darstellt. Wenn aufgrund des Abwägens und der Abklärung etc. eine Diagnose gestellt und eine entsprechende Therapie eingeleitet wurde, diese aber letztlich ohne Wirkung bleibt, die Symptomatik vielleicht sogar zunimmt, muss dringend in Erwägung gezogen werden, dass die Diagnose falsch war. Es kann sogar sein, dass die gewählte Therapie eine vorherige Symptomatik noch verstärkt.
Bei Peter, einem 53-jährigen Bewohner mit primärer schwerer psychomotorischer Entwicklungsbeeinträchtigung ohne gesicherte Diagnose mit mittelgradiger bis schwerer Intelligenzminderung und minimaler sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, traten Unruhezustände und eine zunehmende Schlafbeeinträchtigung bis hin zu aggressivem Fremdverhalten auf. Ein verabreichtes Neuroleptikum mit primär sedierender (beruhigender) Wirkung (Pipamperon) verstärkte die Symptomatik. Eine körperliche Untersuchung zeigte eine schwere Blasenentleerungsstörung mit letztlich bis zu zwei Litern Restharn – das Neuroleptikum hatte die Blasenentleerungsstörung noch verschlimmert. Die Unruhe war durch die hochgradig erschwerte Urinausscheidung bedingt.
Joseph, ein 23-jähriger Bewohner mit einer Autismus-Spektrum-Störung, zeigte bei ihm bisher nicht bekannte Spannungs- und Erregungszustände, eine Schlafbeeinträchtigung und zum Teil erhebliche fremdaggressive Verhaltensweisen. Der Einsatz des Neuroleptikums Melperon verbesserte die Symptomatik nur geringfügig und oberflächlich. Eine dann akute Symptomatik, mit Erbrechen und darauf folgendem Kreislaufzusammenbruch, führte zu einer akuten Krankenhauseinweisung unter der notärztlichen Diagnose eines lebensbedrohlichen Schockzustandes. Im Krankenhaus wurde eine schwere Obstipation (Verstopfung) diagnostiziert, die diesen Schockzustand verursacht hatte. Auslöser für die Unruhe war die Obstipation, die durch das Neuroleptikum noch verstärkt wurde.
differenzierte Tests
Zur Objektivierung von Verhaltensbesonderheiten werden in einzelnen Krankenhäusern, Zentren und spezialisierten Praxen auch differenzierte Tests angewendet. In der Hand von erfahrenen Untersuchern können diese Tests helfen, eine Situation einzuschätzen, und dementsprechend eine differenzierte Therapie unterstützen.15
Anamnese
In die diagnostische Einschätzung und Klärung fließt ganz zentral eine gründliche Anamnese ein. Zunächst eine generelle Anamnese – also eine Bildgestaltung über die bisherige Entwicklung des zu untersuchenden Kindes, Jugendlichen oder Erwachsenen. Eine Bildgestaltung, die nicht alleine die zur Frage stehende Symptomatik berücksichtigt, sondern möglichst breite Felder von Kognition, Emotionalität und Motorik mit einbezieht. Hier ist jede hilfreiche Aussage wertvoll – die der Eltern, Großeltern, Geschwister, die früherer Lehrer, Sozialarbeiter, Therapeuten oder früher behandelnder Ärzte.
Eine gründliche Anamnese entspricht manchmal einem komplexen Puzzle: Erst wenn alle Teile zusammengetragen wurden, zeigt sich das gültige Gesamtbild. Bevor ein solchermaßen umfassendes Bild erstellt wurde, sollte möglichst nichts abschließend festgelegt, bewertet, beurteilt werden.
systemische Ansätze integrieren
Ein solches Bild ermöglicht es auch, wichtige systemische Ansätze zu integrieren – also mit einzubeziehen, inwieweit sich in dem Verhalten der Betroffenen (aus systemischer Sicht auch »Indexpatient« genannt) Fragestellungen spiegeln, die ursächlich einem anderen Glied dieses Systems (Familie, aber möglicherweise auch Mitglieder der Wohngruppe oder Ähnliches) zugehören.
Kai war ein zehnjähriger Schüler, der in die dritte Klasse einer Schule für Erziehungshilfe ging. Bei einem Test wurde eine Normalintelligenz im unteren Bereich festgestellt – erwies aber ein ausgeprägt kontrollierendes, stark angstgetöntes, sich und andere kontrollierendes Zwangsverhalten auf, das den Unterrichtsablauf zunehmend beeinträchtigte und sein Lernverhalten nachhaltig blockierte. Bei der Exploration des Elternhauses stellte sich heraus, dass der Vater an einer schweren Zwangsstörung litt. Die Eltern willigten nach mehreren Gesprächen ein, dass Kai in einer stationären Jugendhilfemaßnahme untergebracht wurde. Im Verlauf von zwei Jahren besserte sich seine Zwangssymptomatik erheblich; er konnte später in eine Waldorfschule wechseln, die er gut bewältigte. Der Kontakt zum Elternhaus konnte gerade dadurch, dass das tägliche Zusammenleben beendet wurde – was letztlich als eine Entlastung erlebt und benannt werden konnte –, langfristig gefestigt werden.
Umgebungsbedingungen
Es ist wichtig, nicht nur die Symptomatik einer psychischen Erkrankung selbst genau wahrzunehmen, sondern auch die Umgebungsbedingungen zu ermitteln, die zu der jeweiligen Erkrankung geführt haben. In diesem Sinne kann man an der jeweiligen Situation ausgerichtete Fragen stellen:
•Wann hat sich der Zwang entwickelt, welche Umgebungsbedingungen haben bestanden?
•Was ging einer paranoiden Entwicklung voraus?
•Wann kommt es jeweils zu aggressiven Verhaltensweisen?
•Treten die neu beobachteten Schreiattacken jeweils in ähnlichen Situationen auf?
Evelin, eine lebhafte und temperamentvolle Bewohnerin mit Fragilem-X-Syndrom, zeigte die ausgeprägte Symptomatik einer Grippe-Erkrankung. In deren Folge trat eine Lungenentzündung auf. Die Gesamterkrankung zog sich über gut zwei Monate hin. Im Anschluss daran kam es zu einer Veränderung der sonst so ansteckend anregenden Stimmung. Evelin machte einen antriebslosen und depressiven Eindruck, was im Zusammenhang mit einem Erschöpfungssyndrom gesehen wurde. Die Regeneration unterstützende Maßnahmen führten zu einer zunehmenden Kräftigung und verbesserten letztlich die Stimmungsveränderung gänzlich, sodass sie zu ihrer früheren emotionalen Stärke zurückfand.
Johann, ein 37-jähriger Bewohner mit einem Down-Syndrom, litt an einer zunehmenden Angstsymptomatik in Form von Vergewisserungszwängen, nächtlichen Kontrollgängen und Auffälligkeiten, die an eine paranoid bedingte Angst erinnerten. Bei der Klärung des Umfeldes wurde deutlich, dass im zurückliegenden Jahr zwei Bewohner der Einrichtung verstorben waren, beide hatte er aus der Werkstatt gekannt. Außerdem war sein Vater schwer an Krebs erkrankt, was die Familie aber nicht kommunizierte. Einfühlsam wurde mit Johann psychotherapeutisch gearbeitet, indem das Thema »Tod als Verwandlung« aufgegriffen wurde. Heileurythmische Maßnahmen unterstützten den Prozess, sodass im Rahmen einer mehrmonatigen Begleitung wieder eine Stabilität erreicht werden konnte.
»professionelles Handeln« ist nie »fertig«
Eine professionell-respektvolle Diagnostik geht zunächst vom Einzelnen aus. In einem zweiten Schritt können dann alle Erfahrungen reflektiert werden, die der Untersucher bisher im Zusammenhang mit diesem Krankheitsbild bzw. den Entwicklungsbeeinträchtigungen gemacht hat. Im Weiteren versucht man, bei dem konkreten Menschen Übergeordnetes wiederzuerkennen – um dann bereichert von den Erfahrungen und Gesetzmäßigkeiten wieder beim Einzelnen anzukommen und auf ihn zugeschnittene, individuelle Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Darin besteht »professionelles Handeln«, das außerdem nie »fertig« ist, das nie müde wird, sich um weitere übergeordnete Erkenntnisse zu bemühen.
Diagnostische Klassifikation
Eine psychiatrische Diagnose wird nach Maßgabe der WHO nach einem Schlüssel – dem sogenannten ICD-Code (Internationale Klassifikation der Krankheiten) – eingeordnet. Der derzeit weltweit gültige Code ist der ICD-10. Im Anschluss an jedes folgende Kapitel wird dieser Code angeführt (zum Beispiel bei der Paranoiden schizophrenen Psychose: ICD-10 F 20.0).