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Traumatisierungen bei Menschen mit Intelligenzminderung

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Alle geschilderten Ursachen und Folgen einer Traumatisierung betreffen auch Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung. Wir müssen aber davon ausgehen, dass wir im Bereich der Menschen mit Assistenzbedarf durch deren Voraussetzungen und ihre erhöhte Verletzbarkeit der Symptomatik einer PTBS sehr häufig begegnen.

eingeschränkte kognitive Verarbeitungsprozesse

In der bereits genannten Definition von Luise Reddemann (siehe Seite 40) wird hervorgehoben, dass es zu einer Traumatisierung kommt, wenn »die Situation überwältigend ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt«. Gerade die mangelnde Fähigkeit, Situationen oder Handlungen adäquat einzuordnen, senkt gewissermaßen die Schwelle dieser Ohnmacht und Hilflosigkeit. Diese Menschen haben behinderungsbedingt Einschränkungen der kognitiven Verarbeitungsprozesse, oft verbunden mit einer Beeinträchtigung des Selbstbewusstseins und einer damit einhergehenden Ich-Schwächung. Sie sind schneller »überwältigt« von einer Situation, in ihrer eigenständigen Handlungsfähigkeit abhängiger (»ohnmächtiger«) und somit hilfloser.

Wir müssen davon ausgehen, dass Verhaltensweisen, die wir heute als Phänomene oder Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung ansehen, lange als »Verhaltensstörungen« verkannt wurden, wodurch den Betroffenen wichtige Therapiemöglichkeiten vorenthalten wurden. Insofern müssen wir berücksichtigen, dass die »Dunkelziffer« bei diesen Menschen erheblich ist – und umso genauer und sensibler hinschauen.

Kinder mit einer Intelligenzminderung erleiden verhältnismäßig häufig körperliche Gewalt. Nicht selten ist dies durch die Hilflosigkeit und Überforderung der Erziehungspersonen und die mangelnde Inanspruchnahme von Hilfen bedingt.

Ein 16-jähriger Junge wird tief verstört in einer heilpädagogischen Einrichtung aufgenommen. Sobald sich ihm jemand nähert, hebt er schützend die Hände. Erlebt er Unruhe oder Streit in seiner Umgebung, zeigt er erhebliche Zeichen von Angst, schreit und versucht wegzulaufen.

Hintergrund ist bei dem Jugendlichen ein Fragiles-X-Syndrom, verbunden mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung – und ein massiv überfordertes Elternhaus, das auf die charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, vor allem seine Unruhe und Impulsivität, mit großer Strenge und körperlicher Gewalt reagierte.

Wichtigkeit von Bezugspersonen

Bei Menschen mit Intelligenzminderung müssen wir gerade auch von möglicher erlittener sexueller Gewalt ausgehen. Durch die oft belastete Sozialisation und die besonderen Lebensumstände, die sich immer in einer erhöhten Abhängigkeit von Bezugspersonen äußern, haben Menschen mit Behinderung ein höheres Risiko, sexuell missbraucht oder ausgebeutet zu werden. Die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs betrifft auch hier vorrangig Mädchen und Frauen, darüber hinaus oft auch schwerer behinderte Menschen.

Die möglichen Formen eines sexuellen Missbrauchs sind sehr vielfältig. Wir kennen hier alle Formen sexueller Gewalt, wie sie weiter oben angeführt sind (siehe Seite 85).

Bei einer 35-jährigen Frau lässt sich die Ursache der leichten Intelligenzminderung nicht mehr sicher bestimmen – Nikotin in der Schwangerschaft, massive Verwahrlosung im ersten Lebensjahr und frühe ausgeprägte Mangelernährung wirkten zusammen. Durch den Partner der Mutter erlitt sie, wohl im dritten und vierten Lebensjahr, schwere sexuelle Gewalt, bis sie in eine Pflegefamilie aufgenommen wurde. Als ihr der Tod der leiblichen Mutter mitgeteilt wurde, reagierte sie mit den Worten: »Schade, da kann sie sich gar nicht mehr bei mir entschuldigen!«

besondere Hilfsbedürftigkeit

Durch die Hilfsbedürftigkeit bei hygienischen Maßnahmen und besonders der Intimpflege, die sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene betrifft und ein besonderes Maß an Ohnmacht und Hilflosigkeit bedingt, eröffnet sich hier ein weites Feld möglichen übergriffigen oder sexuell verletzenden Verhaltens durch pflegende oder betreuende Personen. Die intellektuelle Beeinträchtigung führt dazu, dass die Situationen nicht in ihrer Tragweite erfasst werden können, das Herstellen von Zusammenhängen erschwert sein kann, Behauptungen und Versprechen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und Drohungen nicht realistisch eingeschätzt werden können.

vorbeugende Maßnahmen und Aufmerksamkeit

Es gibt bis heute keine gesicherte Statistik, Schätzungen gehen aber davon aus, dass mindestens ein Viertel der Betroffenen schon einmal sexuelle Übergriffe erlebt hat – eine erschreckend große Zahl! Hier sind vorbeugende Maßnahmen und hohe Aufmerksamkeit gefragt. Die vielerorts eingerichteten Präventionsstellen sind zu diesem Zweck entstanden.

Das Erkennen einer solchen sexuellen Gewalt ist für die Betreuer und Angehörigen oft erschwert, da eine verminderte Artikulationsfähigkeit besteht: Menschen mit einer intellektuellen oder einer Mehrfachbehinderung können sich oft nur unzureichend verbal mitteilen. Nonverbale Kommunikation ist meist vielseitig interpretierbar und missverständlicher als verbale. Gelegentlich werden auch Berichte über sexuelle Belästigung als Fantasien, Übertreibung oder auch Wunschdenken abgetan. Belastend ist hier auch ein geringes Selbstwertgefühl, da diese Menschen in ihrem sozialen Umfeld häufig nicht als gleichwertige Persönlichkeit akzeptiert und respektiert werden.

übergriffiges Verhalten Betroffener untereinander

Ein weiterer Bereich ist das mögliche übergriffige Verhalten von betreuten Personen untereinander. Hier sind in vielen Einrichtungen noch entscheidende Schritte zu gehen, um einen umfassenden Schutz der Intimsphäre des Einzelnen hinreichend zu gewährleisten. Der Umgang mit Körperhygiene und Nacktheit sowie die Toilettenbenutzung kann oft noch verbessert werden. Ich halte es für dringend erforderlich, gerade unter dem Blickwinkel einer möglichen Verletzung der Gefühle bzw. der Förderung eines entsprechenden Bewusstseins von Intimsphäre, hier die einzelnen Situationen und Bereiche noch zu optimieren – das bedeutet: würdiger zu gestalten.

In einer Einrichtung für erwachsene Menschen mit Assistenzbedarf wurde mir geschildert, dass die Bewohnerinnen nach dem Duschen über einen Gang gehen mussten, der auch von Männern bewohnt wurde. Sie waren dabei nur teilweise durch ein Badetuch oder einen Bademantel geschützt, in manchen Fällen sogar nackt und somit den Blicken und Äußerungen der männlichen Mitbewohner ausgesetzt. Ein Bewusstsein konnte erst durch die Frage geweckt werden, ob sich die Mitarbeitenden selber in einer solchen Situation sehen wollten.

Aufmerksamkeit und Unterstützung

Der Umgang der Menschen mit Assistenzbedarf untereinander bedarf großer Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dies beinhaltet auch den Schutz vor übergriffigem Verhalten anderer.

Ernst, ein 27-jähriger Bewohner mit Prader-Willi-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, zeigte ein ausgeprägt triebhaftes Verhalten mit nahezu aufgehobener Steuerungsfähigkeit. Wiederholt wurde beobachtet, dass er, selbst wenn seine Beaufsichtigung nur für wenige Minuten nicht gewährleistet war, in Zimmer von Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen ging und unmittelbar sexuelle Handlungen ausführte (Entkleiden anderer, vor allem Schwächerer, intime Berührungen, Versuch der Penetration, auch anal). Das Bestreben, den erheblichen Triebdruck und die mangelnde Impulskontrolle medikamentös durch das Neuroleptikum Risperidon bzw. durch Cyproteron (ein Medikament, das auf den männlichen Sexualhormonhaushalt einwirkt) zu beeinflussen, führte nur zu einer minimalen Beruhigung. Letztlich konnte nur eine lückenlose Begleitung den Schutz der Mitbewohner gewährleisten – und ihm auch den Schutz vor sich selbst ermöglichen. Damit war auch verbunden, dass er in Situationen, in denen diese Begleitung nicht ermöglicht werden konnte, für begrenzte Zeit (mit richterlicher Genehmigung) in seinem Zimmer eingeschlossen werden musste.

Erstaunlicherweise akzeptierte er diese Maßnahme weitgehend. Offensichtlich empfand er es letztlich als Hilfe – auch als Hilfe, vor seinem eigenen Verhalten geschützt zu sein.

Beziehungsgestaltung von Paaren

Aber auch die Beziehungsgestaltung von Paaren untereinander bedarf der Unterstützung, um mögliche sexuelle Gefährdungen und Verletzungen zu verhindern.

Thomas, ein 28-jähriger Bewohner mit Zustand nach früher erheblicher emotionaler Verwahrlosung und einer frühkindlichen Hirnschädigung mit leichter Intelligenzminderung, und Andrea, eine Bewohnerin mit Smith-Magenis-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, befreundeten sich. Nach über einem Jahr der Freundschaft äußerten sie das Bedürfnis nach einer intimen Beziehung. Den Betreuern fiel auf, dass Andrea in den darauf folgenden Monaten zunehmend verstört wirkte, wechselnde Stimmungen zeigte, unkonzentrierter war und teilweise auch fremdaggressive Verhaltensweisen zeigte. Obwohl die sexuellen Kontakte von den Mitarbeitenden vorbereitend begleitet worden waren, wobei es zunächst insbesondere um Fragen der Empfängnisverhütung ging, wurde vermutet, dass die sexuelle Beziehung für Andrea eine erhebliche Herausforderung darstellte. Im Rahmen eines Forschungsprojekts einer Fachhochschule für Heilpädagogik betreuten zwei Studenten – eine junge Frau und ein junger Mann – Andrea und Thomas über ein Jahr. Sie besprachen eingehend deren sexuelle Kontakte und erläuterten und zeigten anhand von Bildern und Filmen Möglichkeiten der Gestaltung der intimen Beziehung. Insbesondere achtsame Formen der Berührung und der Stimulation wurden dabei vermittelt. Sie verabredeten Zeichen, die insbesondere Andrea geben konnte, wenn sie spürte, dass ihre Grenzen berührt wurden. Die Situation entspannte sich nachhaltig, beide erlebten ihre Beziehung zunehmend angstfreier und erfüllender. Dies ermöglichte beiden eine beeindruckende Vertiefung ihrer Persönlichkeit.

Umgang mit einer intimen Beziehung

Das Beispiel zeigt, wie wichtig gerade die Begleitung von Menschen mit Intelligenzminderung im Umgang mit einer intimen Beziehung ist. Immer wieder ist es erstaunlich, dass wir zwar von »Menschen mit Assistenzbedarf« sprechen, dass aber gerade einer der verletzlichsten Bereiche des zwischenmenschlichen und sozialen Kontakts – Intimität, Erotik und Sexualität – von dieser »Assistenz« ausgeschlossen ist, dass die Betroffenen hier auf sich gestellt bleiben, mit der Gefahr von Verletzungen und Traumatisierungen.

Das Ausgeliefertsein gegenüber überwältigenden Ereignissen betrifft natürlich auch Menschen mit Intelligenzminderung, und auch hier ist die Grenze zum Überwältigtsein, zur Ohnmacht und Hilflosigkeit schnell überschritten. Dies gilt es zu berücksichtigen, um bei Naturereignissen, Unfällen und anderen, nicht durch Gewalt bedingten Herausforderungen hinreichend Schutz und Unterstützung gewähren zu können.

Ein Werkstattgebäude neben einem Wohnhaus für Erwachsene mit Assistenzbedarf brannte eines Nachts aus. Auch das Wohnhaus geriet in Gefahr, die Hitze ließ die Fenster teilweise bersten. Alles verlief in der Folge optimal: Die Nachtwache reagierte großartig und brachte alle Bewohner trotz der hochbedrängenden Situation in relativer Ruhe in Sicherheit, die Feuerwehr war rasch vor Ort und konnte die Ausbreitung des Feuers auf das Wohnhaus verhindern. Ein Teil der Bewohner reagierte in der Folge mit Stolz, so etwas miterlebt zu haben. Es kann durchaus ein Schutz vor der Ausbildung einer PTBS sein und sollte deshalb gewährt werden, dass wieder und wieder und wieder das Erlebte erzählt wird, wie es bei vielen Bewohnern des Hauses der Fall war. Ein anderer Teil blieb aber verängstigt. Hier wurden nun die Grundbedingungen eines sicheren Ortes praktiziert (Zimmer im zentralen Hausbereich in unmittelbarer Nähe zu Betreuern, nächtliche Begleitung über Monate, weiter auch künstlerischer Umgang mit dem Erlebten, Körpertherapien und sehr viel Nähe). Es schien aber, dass ein wesentlicher Schritt zur Bewältigung war, dass die Bewohner des Hauses in den Wiederaufbau des Werkstattgebäudes miteinbezogen wurden: Das praktische Tun, das Hand-Anlegen ermöglichte ihnen Handlungsfähigkeit. Und genau diese Handlungsfähigkeit – als das Gegenteil der Erstarrung – ist ein wesentlicher Schutz vor einer PTBS.

emotionale Traumatisierung

Ein wesentlicher Bereich der Traumatisierung von Menschen mit Assistenzbedarf ist die emotionale Traumatisierung.43 Dies wird begünstigt durch die oft erheblich eingeschränkte Entwicklung eines stabilen Ich-Bewusstseins.

Menschen mit einer Behinderung erleiden sehr oft seelische Verletzungen und Traumatisierung durch häufige und sich wiederholende Verlassenheitssituationen und Trennungen. Sie erleiden oft in einem hohen Maße Fremdkontrolle ihrer Eigenbestimmung bis hin zur Verweigerung von Selbstbestimmung, sie werden häufig zurückgesetzt gegenüber anderen, vor allem auch Geschwistern, oder ausgegrenzt von sozialen Situationen. Viele der Betroffenen erleiden und erleben eine verminderte Wertschätzung. Die mangelnde Möglichkeit einer Selbstentfaltung und das eingeschränkte Entwickeln eines eigenen Lebensentwurfes sind häufige Folgen.

Der 16-jährige Michael stammt aus einer sozial schwachen Familie. Beide Eltern gingen keiner Arbeit nach, Alkohol spielte eine große Rolle, und es muss dringend vermutet werden, dass er unter Gewalt litt.

Die Ursache von Michaels leichter Intelligenzminderung war ein Sauerstoffmangel unter der Geburt. Er erfuhr in den ersten ca. fünf Lebensjahren – bis durch Nachbarn vermittelt das Jugendamt aktiv wurde – praktisch keinerlei Förderung. Zuwendung, Ernährung und Körperpflege waren auf ein Minimum begrenzt. Er wurde zehnjährig in das Wohnheim der Schule für geistig behinderte Kinder aufgenommen, die er zuvor schon besuchte. Bei der Aufnahme zeigten sich vor allem eine tief beeinträchtigte Bindungsfähigkeit und ein extrem geringes Selbstwertgefühl. Bei Kontakten wies er bei auch nur geringsten Anlässen ein zum Teil ausgeprägtes fremdaggressives Verhalten auf. Frustrationserlebnisse führten zu Autoaggressionen (Ausreißen von Haaren und Fingernägeln).

Er bekam eine anthroposophisch begründete medikamentöse Unterstützung (Amnion, Argentum, Bryophyllum, Oxalis-Salbe und vor allem Aurum comp.) sowie heileurythmische Behandlung.

Außerdem wurde das immer neue Schaffen eines sicheren Ortes (unter anderem Zimmergestaltung, positive Rückzugsmöglichkeiten, Wickel und Einreibungen) berücksichtigt. Michael liebte zwei Winter hindurch ein zweimal in der Woche durchgeführtes »Bad« in angewärmten Kastanien. Über Jahre bekam er täglich nach dem Mittagessen einen warmen, trockenen Kamille-Leibwickel, nach dem er selber fragte.

Die Mitarbeitenden waren um eine immer neu bekräftigte »sichere Bindung« bemüht sowie insbesondere um eine weitgehende Vorhersehbarkeit des eigenen Handelns und den Verzicht auf Willkür.

Es war beeindruckend, welches Maß an Vertrauen und Sicherheit Michael entwickelte. In den sozialen Beziehungen konnte er die fremdaggressiven Verhaltensweisen deutlich einschränken, das selbstverletzende Verhalten trat nicht mehr auf. Im Acht-Klass-Spiel nach einer Erzählung von Tolstoi spielte er in beeindruckend ruhiger und gefestigter Weise einen im Glauben verankerten Bauern.

Viele Eltern, die ein Kind mit Behinderung erwarten, sind während der Schwangerschaft – in der ja heute häufig die anlagebedingten Behinderungen früh durch zunehmend vereinfachte Bluttests erkannt werden können – sehr betroffen bis schockiert von dieser Prognose.

emotionale Bindung in der Schwangerschaft

Wir wissen heute immer mehr über die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind in der Schwangerschaft und deren Auswirkung auf das ganze Leben. In einer ausgeprägten Belastung dieser frühen Bindung und Beziehung kann eine Mitbedingung eines traumatisierenden Geschehens gesehen werden. Die Verunsicherung der Eltern kann zu einem emotionalen Verlassensein des Fötus führen mit der Folge einer späteren Posttraumatischen Belastungsstörung.

Eine werdende Mutter wurde in der zehnten Woche der Schwangerschaft während der Ultraschall-Untersuchung durch die Worte des untersuchenden Gynäkologen schockiert: »Das Nackenfett des Kindes beträgt 2,6 mm [statt der zu erwartenden 2,3 mm], das könnte ein Down-Syndrom sein. Wollen Sie es denn haben?«

Die junge Frau war verstört. Dann aber wuchs ihre Empörung über den so wenig einfühlsamen Arzt (den sie dann auch wechselte). Sie fand zu ihrer Kraft zurück, und gemeinsam mit ihrem Partner entschied sie sich: »Das ist unser Kind!«

Rückblickend beschrieb sie diese Situation folgendermaßen: »In den ersten Tagen war ich nur im Kopf, hatte Angst und dachte hin und her. Ich glaube, unser Kind war da sehr alleine. Nach einigen Tagen aber war ich wieder ganz bei meinem Kind und freute mich auf es.«

Sie entband dann ein gesundes Kind.

Prozess der Akzeptanz

Wenn ein Kind mit Behinderung auf die Welt kommt, fühlen sich die Eltern oft alleingelassen und überfordert; das kann die Isolation verstärken. Auch wenn viele Eltern behinderter Kinder sich im Laufe der Zeit konsequent hinter ihre Kinder stellen und um deren Förderung intensiv bemüht sind, dauert der Prozess der Akzeptanz der Eltern oft Jahre – Jahre, in denen die heranwachsenden Kinder vielfach emotional alleingelassen sind.

Der bedeutende, 1981 verstorbene österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut formulierte einmal den Satz: »Das Kind wächst heran im Glanz der Augen der Mutter.«44

emotionales Verlassensein

Wenn sich kein »Glanz in den Augen der Mutter« einstellt – weder in den Augen der Mutter noch in denen des Vaters, bedingt durch deren Verunsicherung, mögliche Enttäuschung oder auch deren Trauer –, kann dies zu einer Irritation des Kindes und einem mehr oder weniger tiefgehenden Gefühl des emotionalen Verlassenseins führen.

Dann gibt es Eltern, die die »Schuldfrage« stellen: Wer ist »schuld« an der Behinderung des Kindes? Dies kann zu Zerwürfnissen der Eltern führen, vielleicht auch zu Trennungen, die das Kind auch erlebt und erleidet – das Kind bleibt emotional vereinsamt.

»Normalerweise« geht die primäre Intention von Entwicklung vom Kind aus (das Kind richtet sich auf, wird von den Eltern gestützt, das Kind spricht Worte, die die Eltern nachsprechen …). Das hierin behinderte Kind tut dies nicht, sondern muss von außen angeregt werden. Auch dies kann zu einer emotionalen Irritation der Eltern führen, die vom Kind nicht eingeordnet werden und den Grad einer Traumatisierung erreichen kann.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung

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