Читать книгу Mein Freund hat ein Boot in Venedig - Walter Kowarik - Страница 4
Was ist Zeit?
ОглавлениеVor kurzem habe ich ein Haus wieder angesehen, das gute Bekannte vor vielen Jahren errichtet haben. Ich erinnere mich noch an die Ideen zum Bau, zur Ausführung der Räume, an die Pläne, die zur Ausgestaltung geschmiedet wurden. Viele Vorstellungen waren nicht sofort und leicht umsetzbar, etliches musste aus Kostengründen vereinfacht oder auf später verschoben werden.
Dann schlug bei dem Mann plötzlich ein Herzinfarkt zu, und auch trotz weitgehender Rehabilitation waren die großen Zukunftsträume verflogen. Alles ging nur mehr langsamer, die Möglichkeiten und Mittel waren nun noch stärker beschränkt als zuvor, viele Wünsche wurden erst gar nicht mehr ausgesprochen.
Es ergaben sich bald weitere Einschränkungen, der langsame Verfall des Körpers schritt weiter fort, bis der Tod ein gänzliches Ende setzte. Zwei Jahre später folgte auch seine Frau, die das Haus bis dahin bewohnt und soweit es ihr möglich war erhalten hatte.
Weitere zwei Jahre waren seither vergangen, das Haus, nun nicht mehr bewohnt, verfiel. Ohne Pflege, ohne dass laufend Energie in Erneuerung gesteckt wird, ist alles auf Zerstörung ausgerichtet – die Entropie, die Unordnung, nimmt zu. Strukturen gehen zugrunde, Beton zerbröckelt, Rohre brechen, Formen zerfließen, Farben verbleichen, Schönheit vergeht.
Das ist die Zeit – – – und wo wären solche Überlegungen angebrachter als in Venedig?
Versunken in solch philosophische Betrachtungen haben wir unser Ziel S. Zaccharia nahe San Marco erreicht. Wir steigen aus.
Nach der genauen Beschreibung durch unsere Freunde finden wir mühelos die schmale Gasse, die sich dann nach etwa 100 Metern zu einem Platz erweitert, und gelangen über eine der vielen Brücken zu einem Haus, das tatsächlich die angegebene Hausnummer trägt. Das verschafft uns Erleichterung, da wir gehört hatten und nun auch sehen können, dass Hausnummern hier keine wirkliche Orientierungshilfe darstellen, da sie keine Systematik erkennen lassen. Wahrscheinlich sind die Nummern historisch vergeben worden, so wie es bei uns in manchen Dörfern ja auch durchaus üblich ist, dass die Häuser bunt durcheinander nummeriert sind. Für eine Stadt erscheint es dennoch ungewöhnlich, und wie ein Briefträger je die richtige Adresse finden kann, bleibt Fremden rätselhaft.
Wir läuten, unsere Freunde öffnen und führen uns in den ersten Stock des Hauses, wo sie eine Wohnung besitzen.
Der erste Stock ist wirklich die beste Lage für eine Wohnung in Venedig, da das Erdgeschoß meist durch immer wieder auftretende Hochwasser in Mitleidenschaft gezogen wird. Man sieht an den Außenwänden deutlich, wie hoch das Wasser bereits gestiegen war, und die Schäden, die das Hochwasser hervorgerufen hat. Aber mehr über „Aqua alta“ später.
Hans, ein Rechtsanwalt aus Wien, seine Frau Sabine, eine Unternehmerin, die kauft und verkauft und immer im Stress ist, und ihre Tochter Miriam, Studentin der Technischen Chemie, klug und hübsch, kommen jeden Sommer mehrmals nach Venedig. Meist reisen sie mit dem Auto an, mit einem Van, der, vollgepackt bis zum Dach, von Hans mit kräftigem Gasfuß durch die Kolonnen gepresst wird. Schließlich möchte man meist noch die Fähre zum Lido erreichen, und die fährt nur alle zwei Stunden.
Manchmal ist aber die Zeit noch knapper als gewöhnlich, und Sabine hat oft auch gar keine. Dann fliegt Hans bisweilen auch allein nur fürs Wochenende rasch hierher.
Jedes Mal aber genießen sie die Stadt und dass sie nicht aus dem Koffer leben müssen, sondern quasi „nach Hause“ kommen, auch wenn sie sich manchmal über die erheblichen Kosten beklagen, die solch eine Wohnung in Venedig mit sich bringt. Und ab und zu laden sie sich Freunde wie uns für einige Tage ein.
Die Wohnung ist hell und trocken, wir besichtigen sie und ziehen ein.