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Geschichte

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Als ich mich für die Geschichte des Landes zu interessieren begann, war ich ganz auf mich gestellt. Die Leute konnten mir nicht weiterhelfen, weil sie sich ausschließlich für ihre persönliche Vergangenheit interessieren. Sonst sind die Humanier mit ihrer Geschichte überaus zufrieden, mit der ihrer Nachbarn jedoch nicht. Wie der weise Sokrates sagen sie gerne, wenn sie in die Vergangenheit zurückblicken: „Ich weiß nichts! Ich habe von all dem nichts gewusst und möchte davon auch nichts mehr wissen!“

Leopold von Ranke, ein bereits pensionierter Geschichtslehrer eines Gymnasiums, war überglücklich, zum ersten Mal in seinem Leben jemanden gefunden zu haben, der sich für Geschichte interessiert und war sofort bereit, mich, trotz seiner doch beträchtlichen Gedächtnislücken, in die wichtigsten historischen Ereignisse Humaniens einzuführen. Er erklärte mir die Regierungszeiten der verschiedenen Herrscher, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Herrscherhäusern, wieviele Ehen sie eingingen und wieviele Kinder als ehelich anzusehen sind, ihre Raubzüge, Niederlagen oder Siege. Er meinte, da das Volk nur selten einmal gegen einen Herrscher aufgestanden ist, sei es unbedeutend. Auch Entdeckungen, Erfindungen oder die Werke großer Künstler, wären nicht der Erwähnung wert, weil das geistige Errungenschaften sind.

Da die Humanier in jedem Jahrhundert mehrmals Kriege führten, sind sie kriegserfahren wie kaum ein anderes Volk. Zahlreiche Heldenfriedhöfe, Kriegerdenkmäler, Gedenktafeln oder Gedenkstätten, die allerorten errichtet wurden, zeugen von ihrer steten Bereitschaft, für hohe Ideale Menschenopfer zu bringen. Hohe Ideale sind bei ihnen: der Gewinn von Ländereien, Machtzuwachs und die Demonstration der eigenen Überlegenheit. Die Humanier haben allerdings immer nur dann Kriege geführt, wenn sie sich dazu gezwungen sahen: wenn ein Gegner Schwächen zeigte oder wenn ein überraschender Überfall Vorteile versprach.

Außerhalb der Kriege sind sie stets bemüht, ihre Feindseligkeiten nicht über den engeren Verwandten- und Bekanntenkreis hinaus auszudehnen. Sie achten sehr darauf, ihre Feinde womöglich nur seelisch zu verwunden. Haben sie einmal einen Feind ausgemacht, sind sie sehr tapfer. Sie verfolgen ihn dann so lange, bis er auf alle Forderungen eingeht und kapituliert. Vor ihren Feinden schützen sie sich, indem sie Verleumdungen gegen sie ausstreuen, sie mit einem Wortschwall einschüchtern oder sich hinter Mehrheiten verstecken. Dreißigjährige Kriege werden eigentlich täglich geführt, wenn eine Ehe nicht rechtzeitig geschieden wurde oder das gespannte Verhältnis zu Bekannten und Kollegen nicht entspannt werden konnte. Nachdem die Helden, die Humania zu allen Zeiten hervorgebracht hat, fast ausnahmslos in den zahlreichen Kriegen gefallen sind, ist zu befürchten, dass Humania eines Tages nur noch aus Feiglingen besteht.

Leider muss ich rückblickend darin einen folgenschweren Fehler sehen, dass ich nicht verhindert habe, zu meinen Gesprächen mit Herrn von Ranke auch die Gebrüder Grimm miteinzuladen. Ich hätte voraussehen müssen, dass das nicht gut gehen kann. Als Wilhelm und Jakob Grimm sich auf den Standpunkt stellten, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichten sei ein Unfug, der Wahrheitsgehalt in einer Legende sei nicht geringer als in einem historischen Ereignis, ja schließlich zu behaupten wagten, dass in Kinder- und Hausmärchen mehr Wahrheit enthalten sei als in einem geschichtlichen Bericht, verlor Herr von Ranke die Fassung und erklärte außer sich vor Wut, dass er nicht mehr bereit sei, sich mit Banausen zu unterhalten, und von da an den Umgang mit mir mied.

Die Geschichte wiederholt sich nie sofort, meist erst nach Jahrhunderten, und dann auf eine Weise, wie man sie nicht erwartet hätte!

Aus der Festrede des Präsidenten bei den ‘Freunden der Geschichte’

Humania

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