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Das Haus, das Wetzel gleich hatte mitkaufen müssen, lag an einem Dorfende. Es war im Stil der Tiroler Holzhäuser gebaut. Ein breites Schindeldach hing über den Balkon, der rings um die erste Etage führte und einen Rundlauf gestattete. Unten, verdunkelt vom Balkon und den Stämmen der Riesenlinden, lagen Sprech- und Wartezimmer, die Küche und das Zimmer für die Haushälterin. Bei guter Sicht sah man aus den Westfenstern die Bohrtürme der Kohlengruben, die Dämpfe, Schornsteine und Lichter der Leunawerke, während im Osten der Thüringer Wald sanftwellig, blau anhob. Bei schlechter Sicht war nichts als die Ebene zu sehen, Feld an Feld, unterbrochen nur durch die Landstraßen mit den Obstbäumen. Wald gab es nicht.

Wetzel traf im Herbst 1922 ein. Der Oktober war sonnig und heiß. Das bunte Obst in den Gärten, Blumen, Kürbisse und die gelben Bohnen machten die Landschaft fröhlicher, als sie war. Er fuhr mit seinem Motorrad durch die vier Dörfer, die zu seiner Praxis gehörten. Er begrüßte die Bauern und Bäuerinnen und machte den Pastoren, Lehrern, Postbeamten und Gendarmen seinen Besuch. Er notierte sich die Leiden und Krankheiten, die Anzahl der Kinder und die kommenden Geburten. Es machte ihm Spaß, eine Praxis aufzubauen. In der Freizeit arbeitete er im Garten. Er fing an, das Unkraut hinauszusclimeißen, legte ein Glasbeet an, reparierte den Schweinestall, brachte den Hühnerhof in Ordnung. Er trug Manchesterhosen, hohe Stiefel, blaue Leinenhemden und eine Lederjacke. Er war nahezu glücklich. Endlich das wirkliche Leben. Ohne Hast und Hetze und Frauen!

Als es Winter wurde, war es aber doch etwas merkwürdig. Der Schlaf reichte nicht für die ganze Zeit der Dunkelheit. Wenn ihn niemand zu Kranken holte und nur Regen und Wind draußen waren, deren Sprache er noch nicht genau kannte, dann war er wieder an sich selbst verloren. An sich selbst: das war seine Vergangenheit. Er begann zu lieben, was er gewesen war. Damals, als ich noch studierte, dachte er etwa. Oder: Als Junge schrieb ich schon so gute Aufsätze ... Oder: als Student war ich klüger als meine Altersgenossen ... Oder: bis zu Vera unterwarf ich jede Frau, war ich jung, gläubig, einfach. (Auf das Einfache, Gerade legte er höchstes Gewicht. Die Frauen waren demgegenüber das Unklare, Unwahre, Nebel, Dunst.) Er blieb bei Vera stecken. Er kämpfte mit ihrem Schatten. Er konnte ihre Stimme im Regen hören. Es kränkte ihn, daß sie sein Landleben auslachte, samt Manchesterhose und blauem Leinenhemd. Und trotzdem stellte er ein Bild von ihr auf den Schreibtisch. Ein sehr gewagtes Kostümbild. Ein bekleidetes Nacktbild. Es war eine Postkarte, wie sie Bühnengrößen anfertigen lassen, und sie hatte auch ihr Autogramm daruntergesetzt: „Vera van Nemes ihrem lieben Dr. Wetzel.“ Dies Bild hatte er aufbewahrt, als er alle anderen verbrannte. So ging er mit seiner Vergangenheit um.

Schicksale gebündelt

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