Читать книгу Auf der Suche - Walther von Hollander - Страница 10

VII
Ein anderes nächtliches Gespräch

Оглавление

Clara Höger verabschiedet sich vor der Tür von den anderen Gästen. Die meisten sind jetzt verstimmt und eilig. Sie wollen noch versuchen, die letzte Elektrische bei Roseneck zu erreichen. „Hopp, hopp“, ruft Rechtsanwalt Brettschneider und läuft, die Uhr schwingend, hinter seiner langen Frau her. Das Fußvolk schließt sich ihm zögernd an. Es bleiben nur die Autobesitzer zurück und die einen Platz in den Autos erwischt haben. Lutz Teller natürlich, der, wenn er Wert darauf legte, jedes Glied einzeln nach Hause fahren lassen könnte. Er hält es mit dem Reichtum und steigt bei Sterns ein, wo er allerdings den Maler Bleichert zum Nachbarn hat. Er bestätigt sich lächelnd, daß Frauen meist keinen Geschmack haben, und er muß es ja wissen.

Frau Weiland hat mit Fräulein Stübbecke bei Wedderstedts Platz genommen, und Frau Wedderstedt bekommt infolgedessen furchtbare Migräne. Maimanns sind zu versöhnt, um nicht allein fahren zu müssen. Direktor Knesebeck hat sich die Ehre erbeten, Schillings und Geheimrat Lerchenstätt nach Hause bringen zu dürfen, und so bleibt zum Schluß nur noch Clara Höger mit Teufelmann und ihrem Auto zurück.

Die Nacht ist warm. Viel zu warm eigentlich für das Fehcape, das die Schauspielerin trägt und aus dem nur unten ein Stückchen der dünnen Beine herausragt, oben die große runde Stirn und die schwere Krone aus rostbraunem Haar. Clara Höger läßt das kleine schwarze Auto in Rufweite vorausfahren, schlägt das Cape um sich und geht langsam die Straße hinunter, ohne Teufelmann zum Mitkommen aufzufordern. Er soll selbst tun, was er für richtig hält, denkt sie. Sie hat keinen Grund, ihm die Sache zu erleichtern.

Teufelmann trägt den Mantel offen, aber er hat den Mantelkragen hochgeschlagen. Er findet, daß ihm das gut steht. Den zu kleinen schwarzen Hut — Leo Landowski hat ihn schon oft gefragt, ob eine Nummer größer nicht das gleiche kostet — hat er in der Hand. Den kurz geschorenen Dickschädel wendet er eilig hin und her. Er ist begeistert über die Gärten zu beiden Seiten, über die Bäume, und daß man Sternenhimmel durch Blätter ansehen kann. Die Frau, die ein paar Schritt vor ihm geht, langsam und lautlos, auf Gummipfoten wie das Auto, findet er herrlich. Er betrachtet Haar, Pelz, Seidenstrumpf und Schuh mit Rührung.

Sie gehen eine ganze Weile im Tempo eines Leichenzuges, das Auto voran, Clara dann und Teufelmann am Schluß. Als Clara endlich stehenbleibt, bleibt auch Teufelmann stehen, nickt ihr freundlich zu und weist auf das Auto, das gerade in schönem Bogen um die Ecke rollt.

Die Höger geht noch ein Stückchen weiter, sie ist erstaunt. Das scheint also anders zu sein als das Übliche. Jeder andere Mann hätte seine Männchen gemacht, mit Geist oder mit Witzen geworfen. Sie hat sich damit abgefunden. Das ist eben so. Ein bißchen langweilig, ein bißchen eklig und die Einleitung zu einem Spiel, das wenigstens manchmal Genuß bringt.

Sie bleibt jetzt stehen, läßt den Dichter herankommen und mustert ihn mit ihren ruhigen grauen Augen, deren hypnotische Kraft von führenden Kritikern gerühmt wird. Teufelmann kommt bis auf drei Schritt heran, hebt sich auf die Zehen und versucht Gleichgewicht zu halten, indem er mit ausgestreckten Armen — am Ende des einen hängt das Hütchen — in der Luft herumfährt. „Es geht“, sagt er und kippt dabei um. Fast hätte er die Höger umgestoßen, aber sie ist noch ausgewichen, und so fliegt er gegen einen der jungen Ahornstämme, von denen die Straße eingefaßt ist. Danach gehen sie ein Stück zusammen, indem sie einander mit unverfälschter Neugier betrachten. „Also, wer sind Sie?“ bricht die Höger ungeduldig das Schweigen. „Was sind das für Geschichten?“

Teufelmann, der bis zu diesem Augenblick harmlos seinen Launen gefolgt ist, findet sich mit einemmal außergewöhnlich, und nur seine natürliche Schlauheit hindert ihn, in Prahlereien auszubrechen. „Freilich wird um Gedichte nicht so viel Lärm gemacht wie um euch Gedichtsprecher,“ sagt er unfreundlich, „ich kenne Sie natürlich von der Bühne, aber Sie kennen mich nicht.“

Die Schauspielerin winkt ungeduldig ab, sie zieht aus ihrer Handtasche eine Trillerpfeife und pfeift ein merkwürdiges Signal.

„Ballade von Saint-Saëns“, sagt Teufelmann anerkennend.

Die Höger nickt, die Pfeife im Mund, und da das Auto noch nicht gehört hat, pfeift sie die ganzen vier ersten Takte. Sie muß dazu die Backen aufblasen, weil sie den hohen Ton sonst nicht herausbekommt.

Endlich kehrt das Auto um. „Eine gewöhnliche Dreitonpfeife,“ erklärt sie jetzt dem Lyriker, „es ist gar nicht so einfach.“

Teufelmann nimmt die Pfeife in die Hand, prüft sie eingehend. Nein, er kann das jedenfalls nicht. Beinah finster reicht er sie Clara zurück.

„Ja — nun kann ich wohl mitfahren?“ sagt Teufelmann, und dieses „nun“ entwaffnet die Höger. Sie steigt ein und klappt das Cape zurück, weil es im Wagen wirklich zu heiß ist. Teufelmann kann kaum Platz finden neben dem vielen Pelz.

Clara Höger bewohnt nur eine Dreizimmerwohnung in der Brandenburgischen Straße, aber sie hat zwei Dienstmädchen, von denen eins stets bereit sein muß, wann immer die Herrin nach Hause kommt. Für ihre Dienstmädchen, die stets außergewöhnlich hübsch sind, gibt sie viel Geld aus. Man soll seine Freunde in Versuchung führen, ist eine ihrer Lebensregeln.

Diesmal hat Katja Dienst, eine Bayerin aus der Holledau, ein sehr reiner Typ dieser Gegend, mit zarter Haut, schrägen Augen und entzückend gewölbten Wangen. Sie nimmt den Ankommenden ernst die Mäntel ab, und während die Höger ins Schlafzimmer geht, führt sie Teufelmann ins Bibliothekzimmer, einen Raum, in dem sich nur Bücher und Diwane befinden. Gleich darauf erscheint sie mit Mokka, Schnaps und Zigaretten, baut das alles vor dem Dichter auf und bringt auch einen Kimono, den sie ohne nähere Erklärung auf das Fußende des Diwans legt.

Alex Teufelmann hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrt vor sich hin. Nein, es gefällt ihm nicht. Zu viel Routine! Soll er sich ausziehen? Ist das fein oder verführerisch? Außerdem gehen ihm die ersten Zeilen des Hymnus nicht aus dem Kopf, den er auf Clara Höger dichten wird:

Gekröntes Haupt, du aus dir selbst gekrönt,

Medusa auch, Gorgenenhaupt und Gretehen…

Er findet das schön, weil es sagt, was er empfindet. Mögen die anderen beweisen, daß es ein Kitsch ist.

„Schön“, sagt er anerkennend und wiegt den dicken Kopf im Rhythmus seines Verses. Denn die Höger ist aufgetreten in einem roten türkischen Kostüm mit Pluderhöschen und schwarzen Lackpantöffelchen an den nackten Füßen und hat sich ihm gegenüber auf einem anderen Diwan niedergelassen.

„Daß Rot und Rostbraun zusammenpassen, hätte ich nie gedacht“, setzt er noch hinzu.

Katja kommt herein, reicht den beiden Mokka, nimmt den verschmähten Kimono auf den Arm und geht wieder.

Die beiden trinken und rauchen, einmal seufzt Teufelmann, Sonst ist es totenstill im Zimmer.

Nach einer Weile steht Clara auf und beginnt auf und ab zu gehen. Sie ist vom Lande, stellt Teufelmann befriedigt fest. Denn sonst könnte sie nicht so lautlos in Pantoffeln gehen. Sie würde sie verlieren.

Ja, sie ist aus dem Oldenburgischen, bestätigt die Höger. Eine Kantorstochter. Sie wird plötzlich gesprächig. „Kantorstochter ist etwas auf dem Dorf,“ erzählt sie, „man sieht sich nach ihr um. Man beobachtet sie. Aber Pfarrerstochter ist mehr und Gutsbesitzerstochter am meisten. Kantorstochter — das steht zwischen Dame und Bauernmädchen. Wenn man Geduld hat, heiratet man einen Pastor, wenn man keine Geduld hat, läßt man sich vom Gutsbesitzerssohn verführen.“

„Aber es ist gut, daß Sie keine Geduld hatten,“ fällt Teufelmann ein, „man soll um alles in der Welt keine Geduld haben.“

Die Höger bleibt stehen. Sie legt Teufelmann zwei Finger auf die Schulter, kleine kräftige Finger, zu denen die spitzen lackglänzenden Nägel nicht passen.

„Meinen Sie?“ fragt sie leise, „meinen Sie wirklich?“

Teufelmann muß erst die Finger von seiner Schulter entfernen und die Hand im ganzen betrachten, die klein und schlaff in seiner breiten Hand liegt. Das kommt davon, wenn man seine Hand nicht braucht, denkt er. Dann welkt sie, dann spürt sie nichts mehr. Dann kommen Nehmen und Geben durcheinander. Er läßt die Hand behutsam los.

„Meinen Sie?“ fragt die Höger nochmals.

„Ja, Sie sind herrlich“, seufzt Teufelmann, stützt die Hände auf die Knie und steht breitbeinig auf. Er stellt sich vor die Höger, die durch ihn hindurchsieht und gerade vergessen hat, wer der Zufällige ist, mit dem sie spricht.

„Es ist nämlich einerlei,“ sagt sie leise, als verriete sie ein Geheimnis, „man kommt ja doch nicht darüber hinaus.“

Und als Teufelmann sie nicht zu verstehen scheint: „Man entwischt ja doch nicht. Immer kommt man wieder in die Lage, unter der man zuerst gelitten hat. Immer gibt es die Gutsbesitzerstochter. Man kann noch so viel werden, die ist schon.“

Teufelmann nickt. Er kennt das. „Mein Vater ist Bäcker in Frankfurt,“ hebt er an, „ich mußte aufs Gymnasium, weil das fein war. Aber ehe ich morgens in die Schule gehen durfte, mußte ich Brötchen austragen. Eine ganze Kiepe mit kleinen Beutelchen, zwei Brötchen, sechs Brötchen, neun Brötchen. Wenn es zu lange dauerte, begegnete ich auf dem Rückweg schon den ersten Klassenkameraden. Darum lief ich immer wie ein Verrückter, klingeln, treppauf, klingeln, Treppe hinunter, klingeln, treppauf. Davon träume ich manchmal noch nachts.“

Er macht eine kleine Pause. Die Höger hat nur darauf gewartet und setzt blitzschnell ein: „An jedem zweiten Feiertag zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten waren wir bei den Herrschaften eingeladen. Das dauerte von vier bis elf. Ganz genau. Zuerst gab es Kaffee und Kuchen. Dann Pfänderspiel, dann Abendbrot. Zuletzt Tanz. ‚Jetzt spielt Herr Kantor Höger noch ein bißchen auf‘, sagte die Frau Gutsbesitzer. Für uns holte man nicht das Oldenburger Streichquartett.“

„Wenn ich dann fertig war,“ fährt Teufelmann fort, „trank ich im Zimmer hinter dem Laden mit dem Altgesellen Kaffee. Mein Vater und meine Mutter verkauften. Es war ja die Hauptgeschäftszeit. Die alte Ladenglocke kam nicht aus dem Scheppern. ‚Jedes Scheppern ist ein Pfennig‘, sagte mein Vater immer, wenn die Glocke uns mal wieder ärgerte. Und so saß ich denn und zählte die Pfennige, und der Altgeselle brockte Brot in den Kaffee und löffelte schlürfend den Matsch.“

„Pribahn hieß der Gutsbesitzer,“ fällt Clara jetzt ein, „Piphahn riefen die Tagelöhner, wenn sie betrunken waren. Aber wenn sie nüchtern waren, krochen sie vor ihm. Er war ein Rauhbein. Schrie und drohte den ganzen Tag. Ein Geizkragen dazu. Aber in Notfällen konnten sich die Leute auf ihn verlassen. Mir hat er immer ein bißchen nachgestellt. So wie es da Mode ist. Mit Witzen darüber, daß die Brüste wachsen, und mit Klatschen auf den Hintern. Sein Sohn Günther war Offizier, wie es alle Gutsbesitzersjungen wurden, um bis zum Tode des Vaters irgendwas zu tun. ‚Wir sind ja zusammen aufgewachsen‘, sagte er immer, wenn er mich küßte. Das ging jahrelang und war erst harmlos und dann unanständig.

,Ich heirate dich doch nicht,’ hat er immer gesagt. Aber ich habe gewußt, daß er es tun muß, wenn ich nur schlau genug bin. Reizen und nichts geben! Es ist ganz einfach. Seit Adams Zeiten werden die Geschlechtsgeschäfte so gemacht.“

„Ja, so bin ich auch verführt worden,“ kann Teufelmann einwerfen, „eigentlich hatte ich Angst vor der Frieda. Sie war aus Heppenheim und hatte riesig dicke Beine. Der Altgeselle schweinigelte immer mit ihr in meiner Gegenwart. Das fand ich beschämend, aber auch ganz schön. Dann ging sie nachts mit offener Bluse über den Gang, schrie und ließ den Leuchter fallen oder ließ die Tür morgens offen, wenn sie sich wusch. Nachher sagte sie, ich hätte sie ins Unglück gestoßen, und so mußte mein Vater für das Kind des Altgesellen bezahlen. ‚Verdien‘ das mal, verdien’ das mal“, schrie er ein paar Wochen lang. Dann mußte ich vom Gymnasium fort in die Lehre.“

„Erntedankfest 1912“, schließt Clara, „hat er mich dann verführt. Wir waren beide ganz betrunken und legten uns oberhalb des Tanzzeltes in das einzige Getreidefeld, das noch nicht abgemäht war. Überall hörte man das Getreide zusammenknicken und die Mädchen kreischen.

,Siehst du, nun heirate ich dich doch nicht’, sagte Günther Pribahn und lachte mich an. Nein — nun hatte er es nicht mehr nötig. Und während ich noch saß und gern weinen wollte, kam das viel größere Unglück, kam der Bauer, dem das Getreide gehörte, und fand uns mit den anderen Paaren. Die Kantorsche hat im Getreide gelegen‘, das wußten nachher alle im Tanzzelt, und so habe ich noch in der Nacht meine Sachen gepackt, habe meinem Vater hundert Mark gestohlen und bin mit dem ersten Zug über Oldenburg nach Berlin gefahren.“

Sie sehen einander an. Sie nicken sich freundlich zu. „Nachher kam es eigentlich erst schlimm“, sagen sie unisono. Jeder würde gern weitererzählen. Aber der andere scheint auch erzählen zu wollen. So schweigen sie beide. Trinken noch einen Schnaps zusammen, und dann muß Teufelmann gehen. Natürlich kommt er wieder! Schon um den Hymnus zu bringen. „Gekröntes Haupt…“

Sie sind fast gerührt und küssen sich. Ihre Küsse bleiben kühl. Ja — wenn man sich selbst küssen könnte, würden sie feuriger küssen.

Katja geht klein und schlank die Treppe hinunter. Rechts von der Haut der beleuchteten Wange steht eine entzückende goldene Locke. „Gekröntes Haupt, du aus dir selbst gekrönt…“, singt Teufelmann vor sich hin, indes er, die Knie ein wenig auswärts, hinter Katja hergeht. Unten will er ihr Trinkgeld geben. Aber sie muß es ablehnen. Sie zieht sehr niedlich beide Hände zurück und lächelt mit gesenktem Kopf, die gewölbten Wangen leise überglänzt.

Teufelmann umarmt sie stürmisch, er ist begeistert, wie ruhig und damenhaft sie das entgegennimmt. Er dreht sich noch ein paar Male um und winkt. Dann sieht er zu Clara Högers Fenstern hinauf. Sie steht oben und winkt ebenfalls. Es ist gut, daß er ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen kann.

Auf der Suche

Подняться наверх