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VI
Die Saison beginnt
ОглавлениеZwei Tage dauert es noch, bis das Leben ganz in seine gewöhnliche Gangart verfällt. Zwei Tage noch, an denen Stefanie die meisten Telephongespräche ablehnt und Besuche höchstens am Nachmittag empfängt. Leo und Stefanie sind in diesen beiden Tagen viel zusammen.
Manchmal setzt Stefanie an, von ihrer Reise zu erzählen. Himmel, das schien doch noch auf der Heimreise ganz beachtenswert: der Flirt in Baden-Baden mit dem javanischen Prinzen, der einen so unaussprechbaren Namen hatte und den sie Prinz Etepetete taufte, weil er immer so hübsch saubere Bewegungen und hübsch saubere weiße Anzüge besaß.
„Da war also in Baden-Baden der Prinz Etepetete,“ beginnt sie, „den hatte ich so getauft, weil…“
Sie stockt. Denn Leo Landowski führt ihre Erzählung zu Ende: „Mit dem also flirtete ich, weil es mir Spaß machte, daß so viele Frauen sich an ihn herandrängten, die er immer gleich wegschob, wenn ich kam.“
„Ja, genau so war es,“ nickte sie ernst, „kein bißchen anders. Es wurde dann leider langweilig. Denn er saß immer nur und lächelte liebenswürdig, und manchmal gurgelte er etwas, was wohl eine Schmeichelei war, und manchmal sagte er: ‚S—chöne Frau‘, als wenn er aus Westfalen wäre.“
„Wann kommt er nach Berlin?“ fragt Leo, „oder vielmehr, wann ist er da?“
„Ja, denke dir, Amélie Stern hat mir gestern schon von ihm erzählt. Er wird der Clou der nächsten Saison, und darum soll er bei Sterns javanische Tänze vorführen. In Garmisch tanzte ich immer mit einem schönen Mann. Der sagte auch nichts, obwohl er ein Deutscher war. Nachher hieß er Schneisecke. Da bin ich denn in die Schmölz hinausgezogen und habe Sonnenbäder genommen, bis ich gemerkt habe, daß hinter den verschlossenen Fensterläden des gegenüberliegenden Hauses ein reger Verkehr von Männern stattfand, die mir heimlich fernglasbewehrte Augen zuwarfen. Außerdem erklärte der Wirt, daß man die Juden ausrotten müsse, so wenig gegen den einzelnen zu sagen sei.“
„Schließlich in Sils Maria wurde es ernst,“ erzählt sie am zweiten Tag, während sie gerade wieder in dem Restaurant an der Friedrichstraße essen, „da war ein Herr von Pfennig. An dem war nur der Name komisch. Sonst war er ein reizender, hübscher Kerl, amüsant, klug, sehr jung, ich glaube einundzwanzig. Der wäre mir fast gefährlich geworden. Leider war er aus Wien und hatte dadurch veraltete erotische Manieren, die er für reizvoll und originell hielt.“
Sie hört mit dem Erzählen auf. Es kommt ihr alles unsäglich albern vor. Sie sieht Leo genau an. Er hat sein höfliches und lachendes Zuhörergesicht, und es ist nicht herauszubekommen, was er denkt.
„Sag’ mal,“ beginnt sie nach einer Weile zögernd, „bin ich eigentlich weggefahren, um zu abenteuern?“
„Ich glaube es nicht“, sagt er und steht auf. Als sie wieder am Büro angekommen sind, fügt er beim Abschied hinzu: „Weißt du, mit den Gründen deiner Reise, das werden wir zunächst nicht herausbekommen, und ich schlage darum vor, wir stellen alles eine Weile zu dem anderen Ungeklärten in den Kühlschrank.“
Stefanie meint, es stünde schon ein bißchen viel im Kühlschrank, aber als sie zu Hause die Sache noch einmal überlegt, kann auch sie zu keinem besseren Ergebnis kommen. Ehrlich sein und ehrlich bemüht sein, nützt noch gar nichts, denkt sie und sieht seufzend die Liste der Gäste vom Montag noch einmal durch, um festzustellen, ob nicht vielleicht doch Feinde zusammen eingeladen sind.
Es ist das einfach die Liste der Gäste vom vorigen Jahr, und man muß nur wenig ändern. Für den verstorbenen Rechtsanwalt Clessing kommt sein Nachfolger Rechtsanwalt Brettschneider. Den Frauenarzt Dr. Steinkopf kann man nicht mehr mit Sterns zusammen einladen, weil der Getreidehändler schließlich doch zur Kenntnis nehmen mußte, von welchem Leiden Amélie sich bei ihm heilen ließ. Es hat im Falle Steinkopf sogar eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung gegeben. Amélie kann das wunderschön nachmachen. „Du wirst mir noch Hörner aufsetzen“, ruft sie hamburgisch und schiebt einen imaginären Bauch vor sich her durchs Zimmer.
Also mit Steinkopf geht es nicht. Dafür kann schließlich der Filmregisseur Lutz Teller kommen, ein Schmachtlappen zwar und ein Feigling dazu. Aber Fräulein Stübbecke und Frau Maimann möchten ihn gern kennenlernen, Clara Höger will durchaus unter seiner Regie filmen, der Lyriker Teufelmann will ein Manuskript an ihn loswerden, und Milly Pabst will von ihm entdecken lassen, daß sie ein fabelhaftes Filmgesicht hat. Also in Gottes Namen: Lutz Teller. Aber dann möchte Stefanie noch irgendwas Anständiges einladen, für Leo jemanden und auch jemanden für sich selbst. Sie versinkt in Nachdenken, sie läßt alle Freunde und Bekannten vorbeispazieren. Schließlich Windschütz, der Musiker, ist ja Leos Freund und der Kunsthändler Mewes auch. Aber nein, außer Clara, die ja Inventar ist und die sie feierlich übernommen hat, soll niemand vom Fünferklub kommen. „Bist du doch eifersüchtig auf den Fünferklub?“ fragt sie sich erstaunt. Man kann es eifersüchtig nennen. Sie findet es jedenfalls dumm, wenn man einen solchen Bierulk jahrelang fortsetzt.
Also es ist niemand da, den man von Herzen einladen kann, und so schließt sie die Liste ab und schickt sie zur Erledigung ins Büro.
Damit beginnt das gewöhnliche Leben wieder, die Reihe der Tage, von denen man nichts Besonderes erwartet, die kommen und gehen können, ohne daß man sie zählt und wertet und zwischen denen doch immer das heimliche Herzklopfen auftaucht, die Angst, es könnte, der Wunsch, es möchte alles schnell vorbei sein oder doch wenigstens sich endlich ändern, damit man mit allen Kräften beginnen kann.
In den ersten Tagen ist Stefanie noch erstaunt, versucht mit all den Kleinigkeiten mitzulaufen, die ihr Leben ausfüllen, steht dann mit einem Ruck still und läßt die Menschen und Dinge vorbeilaufen. Leo hilft ihr sehr schön dabei, wenn er es auch auf seine Weise ausdrückt. „Nichts ernst nehmen,“ sagt er oft in diesen Tagen, „nichts ernst nehmen. Es kommt bestimmt mal wieder — und dann kann man es immer noch ernst nehmen.“
Mit dem Wiederkommen scheint er ja wirklich recht zu haben: Die Gesellschaft findet am Montag in den gleichen Räumen wie immer statt. Man muß sich Mühe geben, eine andere Speisenfolge auszudenken, und wenn man dieselbe machte, würde es auch niemand merken.
Wie immer, kommt Geheimrat Lerchenstätt, einer der Botaniker der Universität, als erster. Er schwingt einen Strauß von verschiedenen Feldblumen vor sich her, deren lateinische Namen er an Stelle einer Begrüßung und eines Witzes deklamiert. Es folgen Direktor Knesebeck und Frau, dann Amélie Stern in einem bezaubernden Kinderkleidchen aus fliederfarbenem Chiffon, das weit über die Grenzen des Möglichen lichtdurchlässig ist. Sie bringt diesmal ihren Mann gleich mit, einen kleinen, dicken Herrn, dessen joviale Fröhlichkeit durch die stete Sorge um den Besitz seiner Frau gedämpft ist und nur noch selten in einem krampfhaften Lächeln durchbricht. Es erscheint, unscheinbar um sich lächelnd, der Filmregisseur Lutz Teller, ein noch junger Mann mit Birnenkopf und den melancholischen Augen des Erfolgreichen. Er beschäftigt sich ausschließlich mit Leo, der ihm imponiert und dessen Millionen vielleicht noch einmal zu brauchen sind.
Nach ein paar kleinen Leuten, von denen höchstens die Bühnenschönheit Milly Pabst erwähnenswert ist, deren nicht ganz einwandfreie Oberschenkel durch einen Kulturfilm der Öffentlichkeit übergeben wurden, und Frau Leonie Weiland, die sich selbst eine Kurtisane nennt, kommt Clara Höger, zur größten Überraschung aller Anwesenden im hochgeschlossenen schwarzen Seidenkleid, bei dem allerdings unten abgenommen zu sein scheint, was oben dazugekommen ist.
Sie ist sicherlich die auffälligste Erscheinung. Bei sehr fraulichen Formen hat sie einen hageren Körper, dünne Arme und Beine, ein überstrenges Gesicht mit hervortretenden Backenknochen und einem sehr großen schmallippigen Mund. Ihr außerordentlich dickes und festes braunes Haar trägt sie als eine Krone. Diese Frisur stimmt nur schwer zum Ausdruck des Gesichts, der lasterhaft zu nennen wäre, wenn man nicht unter Laster jetzt die Spielereien kleiner Mädchen verstünde. So wird man das Gesicht eher verbissen finden, erstarrt jedenfalls von einer Ruhe oder Kälte, die nahe am Herzen sitzt, während die Nerven der Haut sehr empfindlich sind und gern und heftig reagieren.
Clara Höger ist eine Frau, an die man sich scheinbar nicht gewöhnt. Denn wie im vorigen Jahr, verstummen alle Gespräche bei ihrem Eintritt und setzen nur mühsam wieder ein, weil alle aufpassen müssen, wie Stefanie auf die Höger zugeht, sie herzlich umarmt und auf beide Wangen küßt, um sie dann Leo zuzuführen, der ihr die Hände entgegenstreckt und sie gar nicht wieder losläßt.
Amélie Stern findet das großzügig, während Milly Pabst es einfach nicht glaubt. Frau Wedderstedt, die gerade mit ihrem Mann gekommen ist, dem jungen Besitzer der Wedderstedt A.-G. für Kornbranntwein („Ist dein Mann zu dir nicht nett, gib ihm einen Wedderstedt!“), Frau Wedderstedt verliert den langen Hals fast aus den Schultern, um die Gesichter aller Beteiligten in Ruhe zu betrachten.
Das bleibt die Sensation des Abends, und danach tauchen nur noch einige solide Ehepaare auf, die liberal genug sind, an dem seltsam gemischten Verkehrskreis der Landowskis keinen Anstoß zu nehmen, oder die einen von den beiden gern mögen. Darunter der alte Generalleutnant von Schilling mit Frau, Freunde eigentlich von Stefanies Vater, dem Grafen Wangen, die zuerst nur Stefanies wegen zu Landowski gekommen sind und nun den Leo fast noch lieber haben, oder die Brettschneiders, von denen die schlaksige und hakennasige Frau sich an diesem Abend als ein freundlicher Beobachter erweist und ein weiträumiger Mensch mit leisem, stechendem Witz.
Zum Schluß, als man schon mitten im Essen ist, erscheint das merkwürdigste Paar. Der Lyriker Alex Teufelmann, ein kleiner, breiter Kerl mit dickem Hals und dickem Kopf, im Smoking zwar, aber mit einem Kragen, der nur vorn befestigt ist, hat noch einen ungeladenen Gast im Schlepptau, einen Jüngling in kurzhosigem Samtanzug, hohem Blondhaar, das er wie Kopfschmuck trägt, und schönen Händen, die jetzt abwehrend und erschreckt in der Luft rumfahren. Teufelmann beteuert zunächst, sich aus Gründen verspätet zu haben, um die sich jede Verspätung lohnt, und stellt dann seinen Freund vor, Willy Bleichert, der auch ohne Smoking ein bedeutender Maler sei.
Leo Landowski ist verstimmt, weil er findet, daß an anderen Tagen Zeit genug ist zu solchen Mitbringseln, aber weil sich Frau Maimann und Amélie Stern bereits auf Bleichert geworfen haben, um ihn auf Verwendbarkeit abzutasten, so läßt er die Sache laufen und freut sich, als Teufelmann dem Regisseur Teller keine Schmeicheleien sagt, sondern seinen letzten Film für den Dreck erklärt, der er ist.
„Jeder Mensch macht Dreck, Herr Doktor,“ kräht Teufelmann und schlägt dem entgeisterten Teller fast die Schulter entzwei, „aber Sie haben schon zu viel Dreck gemacht und sollten mal was Gutes machen.“
Das soll die Einleitung zum Angebot des Teufelmannschen Filmmanuskriptes sein, und so muß Stefanie eine Viertelstunde später mit Hilfe von Clara Höger und der alten Exzellenz Schilling den völlig zerknirschten Dichter darüber aufklären, daß er nicht die richtige Art hat, mit den Mächtigen dieser Welt umzugehen.
Stefanie ist jetzt ganz geborgen in der kühlen Freundlichkeit, mit der sie ihren Hausfrauenpflichten nachgeht. Sie ist bald im großen Salon, wo Rechtsanwalt Brettschneider mit Hilfe von Schlüsseln und Butterbrotpapier eine Jazzkapelle aus dem Klavier macht, unterstützt von seiner hageren Frau, die mit melancholischem Ernst die verschiedenen Dämpfer und Klappern einlegt und herausnimmt. Bald ist sie in Leos Zimmer, wo eine Schar von Damen dem Regisseur Teller Filmgesichter vorführt. Sie kann hier gerade noch Leos ungezogene Bemerkung unterdrücken, der, mit Beziehung auf Fräulein Pabsts Rolle im Kulturfilm, durchaus sagen möchte, sie habe „eher das Gegenteil eines Filmgesichts“.
Es genügt ihm nun, das Stefanie zuzuflüstern, und sie sitzt darauf liebenswürdig unter den soliden Ehepaaren, erörtert mit Direktor Knesebeck die Börsenlage, sagt Frau von Schilling ein paar Freundlichkeiten über ihren Sohn, kann Frau Wedderstedt, die schon wieder vor Eifersucht hektischrote Wangen hat, davon überzeugen, daß ihr Mann im Augenblick in ein politisches Gespräch mit dem Abgeordneten Dr. Ahrberg vertieft ist, und geht dann in die Bibliothek.
Hier geht es schon ein bißchen bunt zu. Teufelmann versucht in einem Hymnus die körperlichen Vorzüge der Höger zu besingen, Amélie Stern bespricht laut mit dem Maler Bleichert die Pflicht der gutgewachsenen Frau, Modell zu stehen, Frau Maimann möchte sich um alles in der Welt an Liberalität nicht schlagen lassen und nickt, während die Kurtisane Weiland die Herren Maimann und Stern zu bezaubern sucht, die indes ihren Angeboten nur halb zuhören, weil sie ihre Frauen bewachen müssen.
Stefanie hat hier eigentlich nichts zu suchen. Aber sie bleibt doch einen Augenblick stehen, sieht diese komischen Menschen prüfend der Reihe nach an, und es will ihr scheinen, als wenn Clara Höger sie mit feindlichen Blicken mustert. Sie kann es nicht genau sehen, denn sie spricht gerade mit Stern, der sie im Vertrauen fragt, ob Amélies Kleid nicht doch ein bißchen gewagt sei. Aber während sie antwortet, daß ja immer entscheidend sei, wer so etwas trage, wendet sie sich schnell nach der Höger um. Sie hat sich sicher nicht getäuscht. Aber die Schauspielerin hat ihr Gesicht so sehr in der Gewalt, daß Stefanie höchstens noch die Schatten des Hasses sehen kann und sogar mit einem leichten Nicken für den bezaubernd werbenden Blick der Freundin danken muß.
Sie wendet sich schnell um und geht hinaus. Sie sieht einmal in der Küche nach dem Rechten, obwohl da natürlich unter Frau Schreiers bewährter Leitung alles in Ordnung ist. Beim Zurückgehen bleibt sie auf der Treppe stehen. Warum schmerzt sie diese Sache mit Clara, die sie schon lange weiß? Ach — sie ist hier so ohnmächtig. Kaum daß sie sich selber glaubt. Wie soll ihr Leo da glauben? Und doch, er müßte ihr glauben, ja, er müßte ihr glauben.
Als sie sich wieder unter ihre Gäste mischt, ist sie noch ruhiger als zuvor. Höchstens, daß Leo Landowski erkennen könnte, daß sie bleicher geworden ist, mit kleinen Ängsten um die Augen und einer Strenge um die Mundwinkel, die zu ihr nicht paßt und die ihr selbst wehtut. Jetzt will sie es auch ruhig zugeben, daß diese Gesellschaft weder für sie die richtige ist noch für Leo. Aber wenn Leo lächelnd und im Gefühl, allen zu gefallen, durch die Zimmer gehen kann (und ihr jetzt gerade zunickt und das Zeichen macht, daß er es „immerhin ganz nett“ findet), so ist eben nicht zu leugnen, daß ihn die Eitelkeit immer wieder blind macht. Er braucht im Grunde diese Leute, die ihn nichts angehen, nur, um sich beweisen zu können, daß er kein Vorurteil hat. Stefanie ist den Rest des Abends wirklich unbrauchbar.
Sie verkriecht sich bei General Schilling, der im Juli bei ihrem Vater war, und läßt sich von Schloß Wangen erzählen. Mit einem gewissen Trotz möchte sie, daß sie von Heimweh geplagt würde, und sie verweilt mit ihren Fragen besonders lange an allen Lieblingsorten, dem Pferdestall, worin noch immer Mustapha und King stehen, dem Buchenwald, dem Streitweg, dem Gestüt Gollern, der Trauereschenlaube und dem Damensalon, in dem man von weit her die alten Tanten Tee trinken sah.
Aber es will sich keine Sehnsucht einstellen, denn Schilling spricht viel vom alten Grafen Wangen, der mit seinen siebzig Jahren noch beneidenswert rüstig sei, und Stefanie weiß, daß diese Rüstigkeit sich noch immer an Küchen- und Zimmermädchen beweist und das berühmte Wangensche Blut, das doch bekanntlich so hoch zu halten ist, in vielen Dorfkindern rollt. Sie muß an die verstorbene Mutter denken und schüttelt abwehrend die Hände. „Ganz schön,“ sagt sie und lacht Schilling an, „ganz schön… aber…“
Sie fühlt sich jetzt wirklich sehr einsam und muß sich zusammennehmen. Die Tränen sitzen dicht hinter den Augen. Die Menschen fühlen sich immer gemütlicher, lärmen und erzählen Witze. Amélie Stern hat im Kampf um Bleichert gesiegt, während Maimann strahlend seine Frau einherführt. Clara Höger kommt schnell für zwei Minuten angelaufen, um Stefanie zu fragen, was für ein Talent Teufelmann sei, ob es sich lohne, ihn zu rezitieren, und Teller hat in Fräulein Stübbecke ein Filmgesicht entdeckt. Leo verspricht Dr. Ahrberg eine namhafte Summe für Parteizwecke, kurzum, es ist rings freundliches Entgegenkommen, Händereichen, Versprechen, und außer den alten Schillings gehen nur Stefanie und der Getreidehändler Stern leer aus.
Stern prüft immer wieder die Wirkung des neuen Kokoschka, den Landowskis erworben haben, einer spanischen Landschaft von ungewöhnlicher Trübe. Er unterhält sich mit Stefanie eine ganze Zeit über die Maltechnik, und es scheint Stefanie, als wolle er sich in die Fachausdrücke einarbeiten, da wohl Amélie jetzt Interesse für Malerei bekommen wird.
Endlich gehen aber die Gäste doch, und es gelingt Stefanie sogar sehr geschickt, einer Verlängerung der Gesellschaft durch die Intimen vorzubeugen, indem sie Claras schlechtes Gewissen ausnutzt und sich so herzlich von ihr verabschiedet, daß sie nicht bleiben kann.
Leo steht noch eine Weile mit ihr im leeren Ablageraum. „Nun?“ sagt er und sieht sie prüfend an.
„Die Saison hat also begonnen“, antwortet Stefanie und seufzt.
„Ein bißchen reichlich bunt, nicht?“ tastet Leo sich vor. Stefanie nickt. Nein, sie mag heute nichts sagen. Es käme zu bitter heraus.
Als sie dann allein auf ihrem Zimmer ist und sich langsam auszieht, fällt ihr erst genau ein, was sie eigentlich hätte sagen müssen. „Ich bin noch nicht so sicher, Leo,“ sagt sie leise, „du sollst nicht glauben, daß Clara Högers Leben oder selbst Amélie Sterns keinen Reiz für mich hat.“
Und als sie endlich im Bett liegt, setzt sie trotzig hinzu: „Ich habe ganz so gelebt wie die oder beinahe so. Nun sollst du mich behüten, daß es nicht noch einmal kommt.“
Sie liegt ganz still. Das Herz klopft. „Du sollst mich behüten“, wiederholt sie kleinmädchenhaft. Sie ist allmählich so getröstet, daß sie einschlafen kann.