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VIII
Rebekka und Christiane

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Bis in den Oktober hinein ist in diesem Jahre Sommer. Sogar nachts ist es warm, und wenn es nicht zu spät geworden ist, machen die Landowskis nach dem Theater, der Gesellschaft, dem Tanzabend noch einen Gang durch den Garten.

Leo ist fast nachtblind. Er kann in den mondlosen Nächten nichts sehen, darum muß Stefanie ihn führen. Sie gehen Arm in Arm langsam den Kiesweg hinunter, der pfeilgerade von der Terrasse bis zur Fontäne führt, dann an der Fontäne vorbei, dem Quittenboskett, den verblühenden Georginen, durch die Weißdornhecke in den Nutzgarten. Manchmal treten sie für ein paar Minuten in das Gewächshaus und spielen Tropen. Die Orchideen duften stark, ein kleiner Orangenbaum ist gerade zur Blüte getrieben, und eine Kaktusart gibt es, die nach Leos Behauptung wie Seife riecht. Leo steckt dann meist ein Streichholz an und leuchtet die Blumenständer und hängenden Pflanzentöpfe ab, und Stefanie freut sich an den Urwaldlandschaften, den Schattenpflanzungen und Blumenplantagen, die in dem kleinen Flatterlicht entstehen. „Nur dein steifer Hut, der Riesenhut im Urwald, sieht komisch aus.“

In der Nacht zum 6. Oktober bleiben sie länger als sonst. Sie können sich gar nicht vom Garten trennen. Die Luft ist mild und so still, daß sogar der schwache Duft der Kletterrosen zu riechen ist, die den kleinen, nie benutzten Borkenpavillon ganz zugedeckt haben und nicht mit Blühen aufhören können.

Die beiden haben wohl schon zehnmal den Brunnen umkreist und den Rasenplatz, sind überall im Gemüsegarten gewesen und stehen an der großen australischen Tanne, die in der einen Ecke des Ziergartens allzu wuchtig fast zur Haushöhe aufragt. Über dem Grunewald fängt es an zu wetterleuchten. Leo behauptet zwar, es seien die Laternen der „von Tanz und Spiel zurückkehrenden Autos, wie überhaupt in dieser Ecke jedes Naturschauspiel von Menschen gemacht ist“.

Aber das Gewitter zieht sehr schnell näher, bald leuchtet der halbe Himmel über den Tannen und den Kiefern, und mit dem ersten Donner kommt auch der Gewitterwind, stürzt sich in die Baumgipfel, klappt mit den Fensterläden, wirbelt Papier und Staub in der Luft herum.

Sie stehen beide still. Leo hat die Hände in die Taschen des sehr weiten Mantels vergraben, den steifen Hut fast auf die Nase geschoben, damit er den Kopf in den Nacken legen und den Himmel beobachten kann.

Stefanie hält sich mit einer Hand am Zweig fest. Die Stirn hat sie hochgezogen, den Hals wieder sehr gerade aufgesetzt, das Tuch, das ihr über dem Arm hängt, flattert mit einem Male rasend los. Der schwere schwarze Sammetmantel hängt zuerst noch träge und lastend an ihr und beginnt dann auch zu wehen. Sie sieht erschrocken an sich hinunter. Sogar das Gras neben den Schuhen biegt sich. Nun kommen die ersten Tropfen, klatschen Stefanie ins Haar. Die Landowskis stehen, als seien sie eingepflanzt. Der Regen muß erst dickfädig werden, ehe sie sich vom Rasen lösen und langsam ins Haus gehen.

Stefanie läßt nachher in ihrem Zimmer die Vorhänge dicht zuziehen, den elektrischen Ofen anstecken und, als sie im Bett liegt, alles Licht ausmachen. Natürlich, Hanna kann schlafen gehen. Nein, ein Buch muß sie ihr noch aus dem Wohnzimmer holen. Wenn sie wieder nicht schlafen kann. Sie legt das Buch unter das Kopfkissen und schiebt ihr Gesicht nahe an den elektrischen Ofen. Die Wärme ist ihr angenehm, das ganz geschlossene Zimmer behaglich. Der Winter geht also wirklich los, denkt sie, streckt sich lang aus und schläft ein.

Am anderen Morgen hat Gaspard für Leo den Pelz hingehängt. „Knapp vier Grad gegen siebzehn gestern“, meldet er. Leo kann sich nicht entschließen. Kein Mensch wird nach dem Sommertag im Pelz kommen. „In diesen Sachen muß man mit den Wölfen heulen, auch wenn sie Schafe ohne Pelz sind“, murmelt er und zieht den Mantel vom Vortage an. Er friert entsetzlich und kommt mit roter Nase auf die Börse. Aber er hat recht gehabt. Man findet viele rote Nasen, aber keinen Pelz.

Leo hat einen großen Tag. Der Aufkauf der Stadtanleihen erweist sich als ein Riesengeschäft. Dieses Kaufes wegen, bei dem er allerdings die Hälfte seines Vermögens riskierte, hat er sich mit seinem Vater verkracht, galt er an der Börse als halbtoter Mann. Selbst die fünf oder sechs kleinen Bankiers, die ihm sonst immer auf dem Fuße folgten, hatten diesen „Irrsinn“ nicht mitgemacht.

„Ich bin ein Rindvieh,“ jammert der kleine Elkan, „ein komplettes Rindvieh! Wann hätte ich schlechte Geschäfte mit Ihren Ideen gemacht? Meine Frau war schlauer. ‚Immer hübsch hinterher, Siegfried, der Landowski macht’s‘, hat sie gesagt und hat sie getan. Nix wie Stadtanleihe gekauft. Aber ich? ‚Diesmal gibt’s Hochwasser,‘ hab’ ich gesagt, ‚da ersauf’ ich in den Fußtapfen von Landowski.‘“

Leo fährt nicht zum Büro zurück. Er muß bei seinem Vater vorsprechen. „Hier,“ sagt er und hat keine Zeit zur Begrüßung, „hier sind die Kurse meiner Stadtanleihen. In Klammern steht, wie ich sie gekauft habe.“

„Kann mir denken,“ brummt der Geheimrat, „habe schon früher mal einen Börsenzettel in der Hand gehabt.“

Er studiert aufmerksam, indem er über die Brille noch einen Klemmer setzt. „Sehr schade,“ sagt er, „diesmal wärest du nur mit dem halben Vermögen hereingefallen. Nächstes Mal wird es das ganze sein. Du hast das Geld mit unverantwortlichem Leichtsinn verdient.“

Er setzt zu einem längeren volkswirtschaftlichen Vortrag an, der Leo nicht interessiert. Er glaubt nicht an die theoretischen Einsichten seines Vaters. Denn er ist nun mal kein wissenschaftlicher Bankier. Oder wie Elkan das ausdrückt: „Der Olle hat Kopp, aber der Junge hat Spüre.“ Spüre ist der richtige Ausdruck. Warum hat er sonst Stadtanleihe gekauft?

Gott sei Dank kommt jetzt die alte Rebekka Landowski herein. Sie kann nur noch sehr mühsam gehen. Fast ist es nichts mehr als ein Schwingen zwischen den Krücken und manchmal gar ein Schaukeln des kleinen Körpers, wenn die Füße nicht mehr Halt am Boden gewinnen können. Ihr Gesicht ist noch schmaler und kleiner geworden, ein Greisinnengesicht, von unzähligen Kreuz- und Querfalten schraffiert. Aber die fast schwarzen Augen leuchten so tief und schön wie je.

Nein, Leo soll ihr nicht so heftig helfen wollen, lächelt sie. „Ein bißchen muß ich mich schon bemühen dürfen. Lieber höre deinem Vater zu.“

Sie bleibt auf die Krücken gestützt und an einen Schrank gelehnt stehen. Ihr Atem geht hastig von der Anstrengung. Die Augen sehen den Bruder aufmerksam an.

Hermann Landowski kann ihr Zuhören nicht vertragen. Es macht ihn nervös. Es bringt ihn aus der Fassung. Er wagt keine Bewegung zu machen, aus Angst, die Schwester könne sie ihm irgendwann nachmachen. Oft taucht nach Wochen noch eine falsche Geste, ein zu großes Pathos wieder bei ihr auf. Es wird ihm nichts geschenkt.

Er beendet seine Ausführungen, die eigentlich schon lange zu Ende sind, und steht auf. „Wirklich, du wirst über deinen Erfolgen zugrunde gehen“, sagt er noch einmal ganz aufgeregt und packt Leo dringlich bei der Schulter.

„Am besten ist es immer, man fürchtet sich das ganze Leben lang“, antwortet Leo, und Rebekka Landowski lacht. Erst etwas schüchtern, dann hell und laut. Sie muß sich vor Vergnügen doch setzen, weil es ja „kein Spaß“ mit den Krücken ist, und als Hermann Landowski ärgerlich hinausgegangen ist, streichelt sie vorsichtig Leos Hand und sagt: „Es ist ja wahrscheinlich, daß du mal vor die Hunde gehst. Wenigstens kann ich mir nicht denken, wie das alles gut ausgehen soll. Aber es ist besser, als so bewahrt bleiben wie dein Vater.“

Leo ist etwas nachdenklich geworden. Daß die Alte ihn auch gefährdet findet! „Was soll denn schlecht gehen, Tante?“ sagt er obenhin. Rebekka Landowski antwortet zuerst nicht, sondern sieht ihn nur an und schüttelt den Kopf.

„Wir beide können ja nicht drüber sprechen“, sagt sie dann. „Und sollen’s auch nicht. Weil es allein deine Sache ist. Aber daß du nicht Bescheid weißt, kannst du mir nicht vermachen.“

Leo nickt und verabschiedet sich bald. Aber eigentlich ist ihm das alles doch neu. Er möchte so gern ein Schlafwandler sein.

Als er gegen Abend zu Hause vorfährt, hört er Windschütz auf dem Klavier rasen. „Herr Windschütz ist da“, meldet Gaspard, „sowie ein Fräulein Christensen.“

Leo geht leise ins Musikzimmer und bleibt an der Tür stehen. Windschütz nickt zur Begrüßung dreimal mit dem Kopf und lacht. Er ist immer gutgelaunt, wenn er spielt. Sein vergrämter Vogelkopf bekommt dann etwas Kindliches.

Stefanie sitzt in dem großen Stuhl am Fenster, so weit weg vom Klavier, als es gehen will. Das letzte Licht fällt auf ihr Gesicht und das helle Kleid. Auch sie lächelt Leo zu und wird dann wieder ernst. Diese Musik, die sie eigentlich nicht versteht in ihrem Durcheinander von Dissonanz und plötzlich einbrechender Melodie, wühlt sie auf. Sie muß sich sehr zusammennehmen, um nicht mit Gelächter und Tränen mitzuspielen.

Mit Leos Eintritt in das Zimmer ist es noch schlimmer geworden. Ein fremder Mensch ist gekommen, denkt sie, und das ist mein Mann. Gleichzeitig fällt ihr ein, was Windschütz als das Wesen seiner Musik bezeichnet, daß sie nämlich das Wahre zutage fördert. Sie ist zuerst erschreckt und ärgert sich dann über seine Anmaßung. Das Wahre, wer kann schon das Wahre zutage fördern, sagt sie sich beruhigend und sieht zu Fräulein Christensen hinüber.

Gleichzeitig sieht auch Landowski Fräulein Christensen an, die so in einem Kreuzfeuer von Blicken steht. Das also ist die Lösung des Geheimnisses! Ein schlankes, blondes Mädchen, die Zöpfe kindlich um den runden Kopf gelegt. Etwas aus dem vorigen Jahrhundert, stellt Leo fest. Aber hübsch in Ergebenheit und Ergebung. Wie sie die Augen unablässig auf den Händen des Mannes hat — wahren Wunderwerken allerdings von Weichheit und Kraft, Schlankheit undWucht, — wie sie, die Arme untergeschlagen, am Klavier steht, ohne sich anzulehnen, wie sie jetzt, als sie die Blicke der Landowskis spürt, nicht ausweicht, sondern Stefanie zustimmend anlächelt, um dann ruhig dem prüfenden Blick des Mannes zu begegnen — das gefällt ihm.

Es ist schon fast dunkel geworden, als Windschütz endlich aufhört. Leo macht Licht, und die vier sehen einander blinzelnd an. „Das ist nun meine Braut, Landowski“, sagt Windschütz und will eigentlich gleich ein Urteil haben. Er ist sehr unsicher in allem, was nicht mit seiner Musik zusammenhängt. „Christiane Christensen“, setzt er feierlich hinzu und legt seine eine Hand schwer auf ihre Schulter.

„Das ist nun mein Bräutigam“, sagt Christiane lachend, und man ist überrascht, daß sie eine dunkle, ganz tonlose Stimme hat. Wie Watte, denkt Landowski, weich, nicht unangenehm, aber ohne jede Substanz. Später erfährt er, daß sie schon sehr jung eine bekannte Sängerin war, einem schlechten Lehrer in die Hände fiel und ihre Stimme verlor. Wenn sie erschrickt, ist sie noch heute nahezu stumm.

Man trinkt nun zusammen einen späten Tee. „Eine Sonate C-Moll war das letzte“, sagt Windschütz und erklärt ein paar Themen. „Eine Verbindung raffinierter Erfindung und reiner Erklügelung. Jedenfalls durchaus gemacht…“

„Und klingt, als wärest du ein großer Musiker,“ schließt Christiane die Prahlerei, „der du freilich bist, obwohl du außen so viel Humbug machst.“

Die drei anderen sehen sie ganz erstaunt an. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Christiane ist ganz rot geworden. Sie legt ihre Hand ängstlich auf Stefanies Hand.

„Entschuldigen Sie,“ flüstert sie und ist den Tränen nahe, „es klang so frech. Aber ich kann diese Redensarten nicht vertragen.“

„Also, bitte, was daran ist eine Redensart?“ schreit Windschütz scharf. Er reckt sein Köpfchen, so hoch er kann, und schüttelt es hin und her. Christiane und Stefanie sehen ihn mit dem gleichen Blick an. Er murmelt noch ein paar beschämte Rückzugsworte und geht mit Leo ins Nebenzimmer.

Die Frauen bleiben zurück. Sie sitzen und sehen vor sich hin. Mit einemmal entdecken sie, daß ihre Hände noch übereinander liegen. Eine Freundschaft ist geschlossen.

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