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I
Es fliehen dahin die Tage…

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Der Garten der Landowskis liegt in der Frühsonne eines Septembertages. Die Rosen sind noch in voller Blüte. In dem Georginenbeet, das die Mitte des einen Rasenplatzes bildet, drängen sich die bunten Blüten zu einem Riesenstrauß. Der Springbrunnen auf dem anderen Rasenplatz ist heute in Gang gesetzt. Die Wassersäule steht kerzengerade über dem grauen Sandsteinbecken. Weiter hinten, dort, wo durch eine Weißdornhecke abgegrenzt der Gemüsegarten beginnt, hört man den Gärtner mit Gießkannen hantieren.

Eine helle, lustige Stimme erhebt sich auf der Straßenseite, eine dunkle und brüchige Männerstimme, die auch lustig sein möchte, antwortet. Ein Hin und Her von Abschiedsrufen. Dann die Hupe eines Autos.

Gleich darauf biegt eine große, sandfarbene Katze um die Hausecke, hält geblendet von der Sonne an, schließt die Augen und dehnt sich, als müsse sie ihre Länge verdoppeln. Dann setzt sie sich gemächlich wieder in Bewegung und trabt an den hellen Sandsteinen des Hauses entlang, die schon eine angenehme Wärme ausströmen.

Auch Stefanie Landowski schließt die Augen, als sie aus dem Schatten in die Sonne kommt. Dafür öffnet sie aber den Mund, legt den Kopf zurück und läßt die Strahlen durch die rote Gaumenhöhle bis in die dunkle Kehle fallen. Das ist sehr angenehm, weil es komischerweise die ganze Wirbelsäule entlang prickelt. Sie bleibt eine ganze Weile so stehen, freut sich über ihre Entdeckung und beschließt, das „Sonnengurgeln“ von nun an jeden Tag zu machen. Als sie endlich weitergeht, kommt der erste Windstoß, fährt ihr unter den seidenen Morgenrock und entblößt so ein paar Beine, die von den Knien abwärts ein klein wenig zu dick sind.

Stefanie weiß das genau — ist doch dadurch der Badeanzug für sie ein unlösbares Problem! — und schlägt darum mit mehr Heftigkeit als nötig den Rock hinunter. Sie ist einen Augenblick ganz verstimmt.

Sie will nun endlich frühstücken, läuft, mit den Schultern etwas hin und her schlingernd, die Freitreppe hinauf und läßt sich atemlos auf einen der Stühle am Frühstückstisch fallen, der inmitten der Terrasse steht. Auf dem anderen hat die Katze Platz genommen und begrüßt die Herrin mit rasselndem Geschnurr.

Aber zunächst gibt es noch nichts zu essen; es muß erst der Wirtschaftsvortrag von Frau Schreier entgegengenommen werden, die in voller Uniform zur Stelle ist, die weiße Riesenhaube rings um das rote Gesicht, eine schneeweiße Schürze über den mannigfaltigen Wölbungen ihrer Vorderseite. Frau Schreier fängt sofort zu sprechen an, ohne jede Pause, in größter Eile und in ständiger Angst, daß sie unterbrochen werden könnte. Sie spricht waschechten Berliner Dialekt, dem sie zuweilen einige Sätze Hochdeutsch beimischt, um merken zu lassen, daß es ihr an Bildung nicht fehlt.

Es ist in den sechs Wochen der Abwesenheit von „Frau Jräfin“ geradezu eine Unmenge passiert. „Frau Jräfin kann sich det jarnich vorstellen, wie det Personal…“ Stefanie bittet inständigst, von der Titulatur Frau Gräfin abzusehen. Es lasse sich schließlich nicht ändern, daß sie nun schon drei Jahre lang schlicht bürgerlich Landowski heiße. „Freilich ärgern mich auch die beiden i im Namen: Stefanie Landowski“, sagt sie und bemüht sich, bei diesem Thema zu bleiben. „Aber man kann nicht immer alles passend zusammenfinden.“

Frau Schreier hat die Hände gefaltet und nickt. Soll die Gnädige sich erst aussprechen, denkt sie und sammelt unterdessen Atem. „Außerdem war ich nie eine Gräfin,“ schließt Stefanie endlich, „sondern nur eine Komtesse.“

Sie haut bei den letzten Worten der Katze eins auf die Pfote, weil sie in den Milchtopf gelangt hat. Durch den Schlag fliegt eine Vase mit Blumen in hohem Bogen zu Boden und geht in Scherben.

Frau Schreier macht einige bedauernde Handbewegungen und klingelt nach dem Hausmädchen. Sie klingelt aber versehentlich einmal zu viel, und so kommt Gaspard, der dreiundsiebzigjährige Diener, auf kleinen, etwas zittrigen Beinen durch den Salon gelaufen, öffnet die Tür der Terrasse und steht, den weißen Kopf verbindlich auf das linke Ohr gelehnt, auf dem er schwer hört.

Frau Schreier begreift nicht, wieso Gaspard (sie sagt hartnäckig Kaßpacht) gekommen ist. Sie hat bestimmt nur zweimal geklingelt. Sie will aber keinen Streit. Stefanie bittet den Alten, das Hausmädchen Bertha zu holen. Die erscheint auch bald darauf, und während die drei anderen voll Teilnahme zuschauen, gelingt es ihr wirklich, die Scherben und Blumen auf ein Kehrblech zu fegen und fortzutragen. Hierauf findet ohne weitere Unterbrechung der Wirtschaftsvortrag der Frau Schreier statt, der Speisezettel für die nächsten acht Tage einschließlich der Gesellschaft am Montag wird ohne Debatte genehmigt, und die Zofe Hanna darf den Tee bringen.

Stefanie frühstückt mit geringem Appetit, sie schnippelt eigentlich nur an allem herum, an einem Stück Toast, einem Stück Kuchen, an Ananas und den Frühäpfeln. Dann läßt sie alles liegen, breitet seufzend ihre Serviette über den Teller, der wie eine Schutthalde aussieht, und läßt sich von Gaspard eine Zigarette und Feuer geben. Sie scheint die Zigarette zu knabbern. Denn nach jedem zweiten Zug muß sie mit den Fingern ein Fädchen Tabak von der Unterlippe entfernen. Beinah könnte man glauben, daß die Unterlippe von diesem Zerren etwas größer geworden ist als die Oberlippe.

Übrigens schadet das nichts. Der winzige Mund verlöre sich vielleicht sonst in dem großen Gesicht. Um zum Beispiel den Reiz der Oberlippe zu erkennen, muß man schon sehr genau hinsehen. Dann freilich wird man entzückt sein von dem Schwung einer Lippenlinie, die in der Mitte einen tiefen Bogeneinschnitt zeigt und an beiden Mundwinkeln sich nochmals wölbt, ehe sie sich mit der Unterlippe vereinigt.

Stefanie wendet sich in der Sonne behaglich hin und her. Sie mustert wohlgefällig das gut geformte Dach einer Grunewaldkiefer, stellt fest, daß die Buche noch ganz grün ist — also hat Herbert, der Lümmel, in seinem Briefe gelogen — und beschließt, zum schnelleren Eingewöhnen noch einen Rundgang durch den Garten zu machen.

Sie setzt sich einen knallblauen Strohhut auf, nimmt den Sonnenschirm aus gelbem Bast, den die Zofe neben den Frühstückstisch gestellt hat, und will gehen. Da fällt ihr noch im letzten Augenblick ein, daß Landowski sie immer wieder gebeten hat, „in durchsichtigen Kleiden wenigstens nicht spazierenzugehen“.

Sie geht bis zum Eingang des Salons, tritt vor den Spiegel, und da sie hier gerade noch von der Sonne erwischt wird, muß sie zugeben, daß das Morgenkleid wenig vom Körper verhüllt. Einiges, meint sie, wird sogar noch unterstrichen, obwohl es nicht unterstreichenswert ist. Sollte zum Beispiel der Bauch wirklich…? Ja, sie hat einen kleinen Bauch! Zwar, die Freundinnen würden sie auslachen und die Schneiderinnen das Gegenteil beschwören, aber sie betrachtet es als das Vorrecht anderer, keine Augen zu haben.

Zum zweiten Male an diesem Vormittag ist sie mit ihrem Körper unzufrieden. Sie nickt ihrem Spiegelbild ernst zu — wirklich wunderhübsch steht das Blau des Strohhutes zu dem Sommerbraun des Gesichtes — und geht langsam die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie zieht sich nun lieber gleich ganz an, und das dauert ziemlich lange, weil sie dazwischen immer wieder seufzen muß. So ist also die ganze Reise mit Sport, Sonnenbad, Gymnastik, Training und Massage für den Körper nicht viel wert gewesen. Und sonst? „Du wirst alt, liebe Freundin“, sagt sie laut und erschrickt.

Die ekelhafte Melancholie kommt wieder oder die nüchterne Betrachtungsweise, wie sie das nennt. Der Winter, der eben erst aufgehört hatte, ist schon wieder da. Am Montag ist die erste, am Donnerstag die zweite Gesellschaft. Dann flitzt Tag um Tag vorbei, und ehe man dreimal Atem geschöpft hat, ist noch ein Jahr herum und noch ein Jahr. Ach ja, man weiß, wie das verläuft. Man steht mitten im Leben, oder vielmehr das, was sie, Stefanie Landowski, verwitwete Frau von Strassow, geborene Komtesse Wangen, so treibt, nennt man „mitten im Leben stehen“. Danach kommt nichts mehr.

Sie ist endlich mit Anziehen fertig und fängt an, ihre Haare zu bürsten. Heftig und ausdauernd fährt sie mit einer Stachelbürste durch den blonden Schopf, der immer glatter anliegt und schließlich wie eine kückenfarbene Kappe schmal den schmalen Kopf einschließt. Dazu singt sie aus Andrejews „Tage des Lebens“ die Schmachtfetzenmelodie, die sie einmal in den Münchener Kammerspielen zu Tränen gerührt hat:

„Es fliehen dahin die Tage des Lebens.“

Zuerst singt sie noch ganz ernst und findet, daß das gut zu ihren traurigen Gedanken paßt. Dann, als das Haar immer hübscher wird und die dunkelblauen Augen wieder ihren Höhlenglanz bekommen, quäkt sie schon ganz lustig, und schließlich hat sie einen Foxtrott-Rhythmus darin entdeckt. Sie springt die Treppen hinunter, indem sie ein Piccolo-Saxophon ausgezeichnet nachmacht.

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