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IX
Gram ohne Namen

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Während der ganzen langweiligen Gesellschaft am Abend muß Stefanie an Christiane denken. Unerklärlich, daß das so wärmt. Denn was die Männer an Erklärungen anbringen — Fähigkeit, im anderen aufzugehen, Wunschlosigkeit für sich selbst, Duldsamkeit und Humor, hat Windschütz an ihr gerühmt — davon mag manches wahr sein. Aber alle diese Eigenschaften zusammen ergeben zwar das synthetische Männerideal einer Gattin, aber noch keinen Menschen.

Sie denkt während des zweistündigen Abendessens immerzu darüber nach und kann zu keinem Ergebnis kommen. Dahinter, fühlt sie, liegt auch ein Teil ihres Geheimnisses.

Ihr Tischherr ist der Redakteur Fromme von der Abendpost, ehemaliger Literat, künftiger Politiker und im Augenblick ein schwätzendes, alles wissendes, alles an sich raffendes Neutrum. Stefanie hat an sich die Fähigkeit, ihrem Partner mit weit aufgerissenen Augen, voll zugewandtem Gesicht und geschickt eingestreutem „Ja, ja“ zu genügen, aber Fromme will von ihr durchaus Einzelheiten aus Leos Werdegang und Arbeitsweise haben, die er für eine Artikelserie „Finanzmatadore“ braucht.

Er läßt nicht locker, denn es ist sehr wichtig für ihn. Bringt er über Landowski den ersten wirklich informierenden Artikel, so ist das ein weiterer Schritt von der unfruchtbaren Kunst weg in das fruchtbare Gebiet von Handel und Politik, als welche nach Frommes geistreicher Abwandlung der Clausewitzschen Formel „das gleiche sind, insofern, als Politik nur die Fortsetzung des Handels mit anderen Mitteln ist“. Man sieht, daß Fromme seine literarische Vergangenheit nicht verleugnet.

Stefanie ist zunächst noch ganz amüsiert über seine Frechheit und studiert aufmerksam das Gesicht des Journalisten. Es war sicher mal ein hübsches Jünglingsgesicht und ist nun Zug um Zug von einem Fett überdeckt, das sich nur noch in schematische Ausdrucksformen legen kann. Dieses Gesicht kann also noch beschäftigt, bedeutend, skeptisch, witzig, eifrig, kühl und nachdenklich aussehen. Alles andere vermag der Journalist nicht auszudrücken. Er wird es darum gar nicht heranlassen. „Sehen Sie doch, bitte, mal erstaunt aus“, sagt Stefanie mitten in eine besonders listige Frage hinein. „Sehen Sie doch, bitte, mal erstaunt aus“, wiederholt sie und sieht ihren Tischherrn mit einem ihrer berühmten kalten Blicke an. Fromme hat auch beim zweiten Male nicht gut verstanden, um was es sich handelt, er biegt sein rechtes Ohr mit der Hand etwas nach vorn und nimmt für alle Fälle das witzige Gesicht an.

Stefanie sagt nichts mehr. Sie wird zum Glück gerade vom Hausherrn angeprostet, von Geheimrat Lerchenstätt über zwei Tische weg angerufen. Gleich danach ist die Tafel zu Ende, und sie kann sich in einen Kreis von Bekannten hineinretten. „Ich soll über dich Auskunft geben, Leo“, lacht sie und zündet sich eine Zigarette an, indem sie sich über die rechte Kerze eines dreiarmigen Leuchters beugt. Gleichzeitig kommt von der anderen Seite ein Männerkopf mit Zigarette angefahren, will sich höflich zurückziehen und bleibt zwei, drei Sekunden erstaunt vorgebogen, während die Zigarette zu verkohlen beginnt.

Stefanie hat das wohl bemerkt. Aber sie beachtet es zuerst nicht, weil sie mit Leo zu Ende sprechen muß. Dann will sie sich aber doch den erstaunten Mann mal ansehen und äugt vorsichtig über Frau Maimanns Schulter weg. Ja — das war der Erstaunte. Ein sehr dünner und schlanker Mann, Mitte Dreißig vielleicht, mit einer auffällig gut gearbeiteten Hose. So, als wären die Beine vorne mit Schneiden versehen, über die man zum Schutze die Bügelfalten gezogen hat. Höchstens Leo Landowski bekommt zuweilen eine solche Hose. Diese da ist eine Spitzenleistung der Zusammenarbeit eines ersten Schneiders mit einem ebenso geduldigen wie eitlen Laien.

Leider hat die Eitelkeit nicht nur die Beine geschmückt, sondern auch die Backen verunziert. Unmögliche spitz zulaufende Koteletten und ein kleines graublondes Schnurrbärtchen, das in dünnen Enden über die Mundwinkel reicht, zeigen an, daß ihr Besitzer lieber weitgereist als hübsch aussehen will, und nun fällt es Stefanie auch ein, daß ihr am Anfang des Abends ein Weltreisender vorgestellt worden ist, auf den sie nicht weiter geachtet hat.

Frau Maimann bestätigt es. Ein Dr. Bretling oder Breitling sei es. Durchaus der Bedeutendste in seinem Fach. Stefanie kann gerade noch sagen, daß man in Berlin immer der Bedeutendste ist oder eben niemand und es ihr doch ein wenig lästig ist, immer nur Bedeutendste und nie Bedeutende, immer nur fabelhafte und nie wirkliche Menschen kennenzulernen. Da kommt schon der Mann mit Leo auf sie zu und läßt sich noch mal vorstellen.

Also gut, Breitling, denkt Stefanie und sieht ihn nicht eben freundlich an. Die Unterhaltung beginnt sehr langsam, und Leo muß nachhelfen. „Warum tragen Sie diese Koteletten?“ fragt Stefanie nach einer Weile und ärgert sich gleichzeitig über den ungezogenen Ton, aus dem sie scheinbar an diesem Abend nicht herausfinden kann. Breitling ist errötet, muß dann lachen und sagt: „Sie haben sicherlich recht, daß das albern ist. Aber ich habe es nicht gewußt. Ich habe gedacht, es steht mir gut.“

Von da ab geht es freundlicher zwischen ihnen zu, und Stefanie ist es ganz recht, daß Leo Räume zur Verfügung stellt, in denen Breitling ein paar seiner Filme zeigen kann und einiges über Tanz und Musik in Afrika sagen, wovon er wirklich etwas zu verstehen scheint. Man trennt sich freundlich. Stefanie entschuldigt sich, und auf diese Weise behält sie ein Gesicht, das sich sonst zwischen den vielen anderen gleich verloren hätte.

Aber nachts vor dem Einschlafen muß sie wieder an Christiane denken, und sie geht noch zu Leo hinüber, um mit ihm ein bißchen zu sprechen. Sie findet ihn nackt vor dem Spiegel stehen. Er versucht, den heraussstehenden Halswirbel mehr in den Rücken zu bekommen, indem er den Hals reckt, den Kopf in möglichst weitem Bogen zurückbiegt oder einfach verbissen und ingrimmig darauf herumknetet. „Warum muß der Wirbel herausstehen?“ keucht er, zieht sich dann ergeben seinen Pyjama an, stopft die Hände in die Taschen, hakt Stefanie unter, und so stapfen sie langsam auf und ab.

Sie sagen eine ganze Weile nichts und sind darüber sehr zufrieden. Denn wenn sie miteinander schweigen können, so ist es immer ein Zeichen, daß sie sich gut verstehen. Die gesträubten Seelenhaare werden durch gemeinsames Maulhalten glattgebürstet. ‚Zu früh reden bürstet gegen den Strich‘, hat Leo das einmal treffend zusammengefaßt. Wirklich, die Kleinigkeiten, die winzigen Unstimmigkeiten regeln sich von selbst.

„Und warum bist du denn so unglücklich?“ sagt Leo nach einer ganzen Weile. Er zieht dabei Stefanie, die stehenbleiben will, schnell weiter. Er sieht sie auch nicht an, sondern hat den Kopf gesenkt und tastet höchstens mal mit der freien Hand nach dem Halswirbel, ob der noch nicht lebendig geworden ist. Stefanie, die es gar nicht gewußt hat, wie traurig sie war, kann nun die gestauten schwarzen Wellen durchs Blut laufen lassen.

„Wirklich, ich bin unglücklich, Ole“, sagt sie und drückt zaghaft Leos Arm. „Lieber Himmel, bin ich unglücklichl“ Sie muß ordentlich lachen. „Es ist doch auf die Dauer auch zu albern. Findet man ekelhafte Menschen, wird man unglücklich, findet man feine, wie diese Christiane, wird man auch unglücklich. Oder willst du mir vielleicht sagen, warum ich sonst noch unglücklich wäre?“

Nein, Leo will es ihr durchaus nicht sagen. Er müßte sich sehr anstrengen, um die Formel dafür zu finden, und das würde dann auch nichts nützen. Er wird sogar einen Augenblick ungeduldig. Eine Frau, die wirklich alles hat, was ein Mensch haben kann, und dennoch immer wieder diese sinnlosen melancholischen Anfälle. Er muß schnell mal ihr Gesicht ansehen, damit er wieder Bescheid weiß. „Die unendliche Weite und Weisheit deines Gesichts“, fängt eine Ode von Teufelmann an, und weil seine eigenen Worte nichtssagend sind, nimmt Leo immer diesen Vers, um sich an das zu erinnern, was er von Stefanie weiß. Es drückt nicht alles aus, aber das übrige fühlt er schon, wenn das lebendige Leben ihres Armes in seinem ist.

„Du mußt nicht ungeduldig sein“, sagt er und sagt es eigentlich zu sich. Stefanie versteht ganz gut, was vorgegangen ist. „Manchmal verlierst sogar du die Geduld,“ antwortet sie zaghaft, „obwohl du doch nie darauf wartest, daß du von mir was ernten könntest.“ Und nach einer ganzen Weile setzt sie hinzu: „Vielleicht ist das eben auch ganz falsch. Vielleicht soll man den anderen treiben und schinden. Vielleicht soll man ackern, säen und Frucht verlangen. Vielleicht soll man gar nicht geduldig warten, was der Boden bringt.“

Sie hat sich von Leo losgemacht und an das Fußende des Bettes gestellt. Die Hände stützt sie hinten auf die Bettkante, und weil die sehr hoch ist (ein etwas zu prächtiges Mahagonibett mit geschwungener Ebenholzkante ist es), muß sie ihre Schultern hochziehen und steht fragend da.

Leo ist nicht erstaunt über diesen Ausbruch. Das mußte einmal kommen und mußte vielleicht auch so scharf ausgesprochen werden. Redet man ihn nicht direkt an, findet er ja doch immer einen Grund, die Worte nicht auf sich zu beziehen. Es ist aber seine Gewohnheit, bei Entscheidungen sehr ruhig und eigentlich fügsam zu sein — er hält sich deshalb für gefühllos —, und so sagt er nur: „Ja, ja, es ist sicher eine Möglichkeit des Zusammenlebens und unter Umständen sogar vielleicht die beste. Nur ist es nicht meine.“

Stefanie antwortet nicht, sie sieht ihren Mann aufmerksam an. Wie sie das liebt, daß sich in seinem Gesicht nichts verändert, daß alles glatt und freundlich bleibt, vom Scheitel über Stirn, Augen bis zum Kinn! Nur die Hände müßten wohl eine Zigarette haben, denn sie suchen am Schlafanzug auf und ab, zupfen an den Bändern der Hose, als sei die zu eng, und drehen an einem Knopf des Rockes.

„Ja, es ist nicht meine,“ sagt Landowski nochmal, „und ich glaube, es ist auch nicht deine. Jedenfalls neigen wir mehr dazu, etwas zu haben oder nicht zu haben. Wir sind keine Erwerber. Auch glaube ich nicht an die Vollkommenheit.“

Und als Stefanie immer hoch nichts sagt, endet er seine lange Rede: „Vielleicht ist meine Genügsamkeit daran schuld, daß ich zufrieden bin. Vielleicht auch, weil ich mich mit Geschäftemachen beschäftige, und das verbraucht ja doch Zeit und Kraft.“

Stefanie nimmt endlich den Arm von der Bettkante, geht auf Leo zu und hakt ihn wieder unter. Sie marschieren auf und ab und sehen zu, ob durch das Gespräch nun irgendwas in Ordnung gekommen ist. Aber es ist nicht viel besser als vorher, und so muß Stefanie denn gehen.

An der Tür dreht sie sich noch um und versucht etwas zu sagen. Sie will Leo beweisen, daß er auch nicht glücklich ist und aus alldem heraus will, in dem er drin steckt, und nur nicht weiß, wohin er soll. Aber als sie ihn ansieht, schämt sie sich. Scheinbar hat sich noch immer nichts in Leos Gesicht geändert. Die Lippen sind nur noch schmaler geworden und dadurch zwei Schattenfalten längs der Nase entstanden, die ihn alt und traurig aussehen lassen.

Sie dreht sich mit einem Gutenachtgruß schnell um und geht hinaus. Sie geht langsam über den Teppich des oberen Flurs, öffnet leise die Tür zu ihrem Zimmer, schließt sie hinter sich und dreht zum Überfluß noch den Schlüssel um. Sie bleibt unbeweglich im Dunkel stehen und fühlt sich rot und blaß werden. Sie möchte sich jetzt nicht im Spiegel sehen, so schämt sie sich. Sie kriecht schnell unter die Decke und bleibt zusammengezogen liegen. Ihr ist kalt, und sie hat endlich was zu trauern. Genau wie die anderen! Ja nicht dulden, daß jemand die geringste Sicherheit hat! So lange graben und bohren, bis der zusammenfällt! Sie hört ganz gut, daß Leo vorsichtig an der Tür klinkt. Aber sie kann nicht aufmachen. Sie ist ja tränenüberströmt und ganz exaltiert.

Leo Landowski prüft die Klinke zweimal. Es ist wirklich verschlossen. Er kehrt um und geht mit den gleichen schnellen Schritten in sein Zimmer zurück. Er ist zuerst erstaunt. Aber dann sieht er ein, daß Stefanie recht gehabt hat, abzuschließen. Man kann die Erörterung ins Endlose dehnen (oh, wie viele Gespräche haben die ersten Ehejahre gebracht!), man kann sich aber auch genügen lassen an dem, was unerwartet hervorbricht, und erst mal abwarten, was davon wahr ist und was wieder vergeht, was Gestalt gewinnt oder Schutt wird.

Er steigt ganz vergnügt in sein Bett und fängt an zu lesen. Er sieht nicht sehr genau hin, was er liest. Es ist ein witziger Artikel über die Wohnungsnot, und da er nie darunter gelitten hat, kann er von Herzen mit dem Autor lachen, der sich für seine Kümmernisse wenigstens ein Zeilenhonorar verdient.

Mit einemmal hört er an Stefanies Zimmertür klinken. Er hält das zuerst für eine Täuschung, und als es ein zweites Mal klinkt, erklärt er jenes Wesen kurzweg für sein Gespenst. Aber da er im Grunde doch ziemliche Angst vor Einbrechern hat, steigt er schnell aus dem Bett, nimmt den Revolver aus der Nachttischschublade, steckt die bewaffnete Hand in die Tasche seines Pyjamas, geht leise auf den Korridor.

Als er um die Ecke biegt, stößt er mit Herbert von Strassow, seinem Stiefsohn, zusammen. Der ist völlig verstört über diese Begegnung und bietet in einem zu großen hellblauen Pyjama mit hochrotem Kopf und abwehrend aufgehobenen Händen ein recht klägliches Bild.

„Aber Lamm,“ lacht Landowski, „was wandelst du hier nacht so gegen Morgen?“

Lemmchen, der im allgemeinen zu seinem Stiefvater wie Mann zu Mann steht — was sich schon dadurch ausdrückt, daß er ihn beim Vornamen nennt —, Lemmchen hat heute einen schlechten Tag. Er steht erst mit hochgezogenen Achseln und sieht in dieser Stellung seiner Mutter lächerlich ähnlich. Dann aber verliert er die Fassung, umhalst Leo und würde am liebsten schluchzen. Aber er nimmt sich zusammen. „Mir ist nicht besonders, Leo,“ sagt er, „ich wollte nur… ich konnte doch nicht…“

„Ja, dann mußt du schon mit mir vorliebnehmen“, sagt Landowski, nimmt ihn beim Kragen und schleift den Widerstrebenden mit. Er bettet ihn auf den Diwan, deckt ihn ordentlich zu, holt eine kleine Lampe, die er als Leselampe auf den Stuhl stellt, gibt ihm ein paar illustrierte Zeitschriften und geht selber wieder ins Bett.

„Wenn du müde wirst, mußt du auslöschen“, sagt er, als er sein Licht ausmacht. Aber Lemmchen ist schon längst eingeschlafen. Leo muß aus dem Bett, um auszulöschen. Er sieht den Jungen eine ganze Weile an. Er liegt auf dem Rücken, die Hände um eine Zeitschrift gekrampft. Der Kopf ist ihm zur Seite gerutscht, die kleine Strassow-Nase steht etwas in die Höhe. Der Stefanie-Mund ist gramvoll zusammengepreßt, und die Augen sind fest zugedrückt, als müsse der Junge etwas Schweres ausschließen. Nur der Wirbel an der Stirn leuchtet golden und friedlich.

Leo löscht aus und tastet sich zu seinem Bett zurück. Daß Kinder Gram haben, ist ihm nicht neu. Aber daß es dieser selbe, halb bewußte und halb unbewußte, dieser ewige, stachelnde Gram um irgendwas Unbekanntes ist — das wußte er noch nicht. Ja — es ist dasselbe, stellt er fest. Nur die Mittel der Bekämpfung sind bei Erwachsenen und Kindern verschieden. „Dazu muß man groß werden“, murmelt er und kann nun endlich einschlafen.

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