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Das grünäugige Mädchen ist in das Einkaufszentrum gerannt, geht aber nicht in den Supermarkt, sondern biegt um die Ecke und läuft zum Aufzug, mit dem sie in den oberen Stock fährt, aufs Dach. Im Aufzugspiegel betrachtet sie sich, legt den Kopf zur Seite, zieht die Schultern hoch, streicht vom Oberarm aus zum Unterarm über ihr Gesicht, eine Geste, die sie sich angewöhnt hat, als tröste, als liebkose sie sich selbst. Und während sie dies tut, behält sie die Stockwerkanzeige im Blick. Auf der fünften Etage hält der Aufzug. Obwohl sie weiß, dass er der Mann ihr nicht folgt, pocht ihr Herz.

Oben auf dem Dach treffen sich die Jugendlichen, hängen rum, rauchen, knutschen, ein Treffpunkt, wo sie sich unbeob­achtet fühlen, den Berliner Fernsehturm im Blick.

Das Mädchen ist allen entwischt, dem Mann, Maria.

Vorsichtig schaut die Grünäugige durch die sich öffnende Fahrstuhltür, sie hat Batman gesehen, sie weiß, dass Helden fliegen können. Auch solche, die niemanden retten. Alles Quatsch, sie springt jetzt fast aus der Tür, ist einen Augenblick geblendet vom Sonnenlicht, schaut sich um. Hinten in der Ecke stehen ein paar, die sie kennt, drei Jungs, zwei Mädchen, knuffen sich in die Seite, machen Selfies mit Flugzeugen im Hintergrund, reden in einer Sprache, die nur ihnen gehört: »Ey, ist der schon tinderjährig?« »Ja klar, cheedo.« »Wow, ist die merkulesmäßig drauf?«

Langsam, als wäre sie nicht gerade ihrer Vergangenheit davongelaufen, schlendert die Grünäugige auf die Gruppe zu, sagt »hey« und »ne wa? Was geht ab?« Die anderen unterbrechen ihr Gespräch, verstummen für eine Sekunde, als sie das Mädchen sehen. (Woher Maria das eigentlich weiß, sie war doch noch gar nicht im Fahrstuhl?)

»Oh, Grünauge«, sagt einer der Jungen und seine Stimme klingt freudig. Sie war schon länger nicht mehr hier oben. Eine fahle Röte steigt ihm ins Gesicht, die die Jugendlichen nicht wahrnehmen, weil sie mit sich beschäftigt sind und sowieso von der Sonne geblendet. Sie kneifen die Augen zusammen, beschatten sie mit ihren Händen. »Alles okay?«, fragt er. Das Mädchen nickt. »Wirklich alles okay?«, fragt er noch einmal. Aber weil die Grünäugige Mitgefühl nicht erträgt, winkt sie ab. Der Junge versteht es als Zurückweisung und verstummt.

Nicht so die anderen.

»Sag mal, wir haben dein’ Vater gesehen«, sagt eines der Mädchen. (Es sind nicht die Freundinnen der Grünäugigen, die, deren Bewunderung sie uneingeschränkt hat, deshalb hier ohne Namen.)

»Kann nicht sein«, sagt sie.

»Echt?«

»Aber da unten ist einer, der spricht alle an.«

»Machen doch viele, muss nicht mein Vater sein«, wehrt sie ab.

»Der sucht dich aber.«

»War es Taifun?«, fragt sie, um abzulenken.

»Spinnst du, Taifun, den kennen doch alle. Der da unten ist viel älter.«

»Und wenn es doch dein Vater wäre?«, fragt der Junge, der vorher verstummt war, weil sein Mitgefühl zurückgewiesen wurde, und der sich jetzt erneut vorwagt, denn er findet die Grünäugige schön.

»Mir egal.«

»Glaub ich nicht«, sagt er. Sie gibt keine Antwort, fragt stattdessen: »Was macht ihr so?«, und ein Mädchen sagt, dass Dannys Mutter jetzt nach Dortmund zieht und Danny nicht weiß, ob er mitgehen oder beim Vater bleiben soll. »Oh, cool Dortmund, wie ist es da?«, fragt die Grünäugige und bekommt keine Antwort, weil niemand von ihnen je dort war. »Hey, übrigens«, sagt das andere Mädchen, »deine Schwester hat auch gesagt, dein Vater ist wieder da.«

»Ich will ihn nicht sehen«, sagt die Grünäugige.

Maria kennt das Dach des Einkaufszentrums. Dort oben soll ein Himmelbeet, ein Prinzessinnengarten entstehen. Wie überall in der Stadt jetzt. Wie dort hinterm Leopoldplatz, wo sie ihre Brombeeren hat. Hier oben sollen Plastikkörbe auf Paletten aufgestellt werden, so große, wie sie Bäcker benutzen, wenn sie Brötchen liefern. Immer zwei Körbe übereinander. Unten ein Korb nur mit Erde und Abfällen zum Verrotten. Oben drauf einer mit Pflanzenerde, in den das Gemüse und die Blumen gesät sind. Zwei mal zwei Körbe passen auf eine Palette. Mit Gabelstaplern können sie transportiert werden. (Äh, passt der Gabelstapler überhaupt in den Aufzug? Ja, glaub schon, schließlich werden im Supermarkt ständig Sachen angeliefert, palettenweise.)

Ein Garten über den Häusern soll es werden. Es ist nur eine Idee, die Durchführung verzögert sich immer noch. Maria weiß, dass die Grünäugige hoch aufs Dach gefahren ist. Und nachdem sie sich sicher ist, dass niemand ihr folgt, fährt sie auch hinauf.

Jeder Schritt, den Maria tut, ist einer, der sie mehr hineinzieht. In etwas, von dem sie doch bisher nur Bruchstücke kennt. Aber immerhin, sie weiß mehr als andere. Etwa weiß sie bereits: dass die Grünäugige eine ältere Schwester hat, die wie eine Mutter zu ihr ist, und dass diese Vorstellung tröstet.

Mit allem, was Maria aufdeckt und sagt, weckt sie Gefühle und Erwartungen. Aber eine Schwester, die wie eine Mutter ist, das ist versöhnlich, und Versöhnliches langweilt. Stattdessen soll es Enthüllungen geben, Verwerfungen, Kanten.

Sie ist jetzt auf dem Dach und hält Ausschau nach der Grün­äugigen. Da vorne, die Teenager. Sie stehen am Rand und sind dem neuerlichen Flugzeug, das über das Gebäude fliegt, noch näher. Eines der Mädchen winkt, wie Kinder an Bahngleisen oder an Ufern es tun und dann selig sind, wenn auch auf dem Schiff eine Hand in die Luft gestreckt wird. »Der hat zurück­gewunken, hast du das gesehen?«, ruft das Mädchen auf dem Dach deshalb freudig und laut, so laut, dass die Frau, die soeben aus dem Fahrstuhl aussteigt und die von den Jugendlichen aus den Augenwinkeln sofort registriert wird (»Was will die Friedhofsblonde?«), es hören kann. Möglich, denkt sie, die Flugzeuge sind tief genug, dass die, die drin sitzen, die Jugendlichen auf dem Dach sehen können. Ob umkehrt? Da zweifelt sie eher, und sofort irritiert es sie, dass sie nun etwas in Zweifel zieht, denn das bedeutet, dass sie sich wieder Urteile erlaubt und sich also einmischt – und das will sie doch nicht mehr tun. Nicht nach dem, was ihr widerfahren ist. Alles sollte nur noch Indikativ sein und wahr.

Maria geht zum Rand des Daches, nicht direkt zu den Jugendlichen, aber doch so, dass sie deren Worte noch besser auffangen kann, und schaut über das Geländer. Unter ihr tobt der Verkehr. Seestraße, Müllerstraße, dazwischen der Friedhof, dahinter die Straßenbahn, darüber die Flugzeuge und trotzdem, hier oben ist ein anderer Stern. Besser: ein Trabant, ein Mond, denn noch immer ist er in der Umlaufbahn der Straßen, aber die Dimensionen sind verändert. Auf dem Dach herrscht Zeitlupe. Eigentlich auch Sprachlosigkeit. Und so was wie Sein. Denn anders als sonst starren die Jugendlichen nur hin und wieder auf ihre Handys, um sich Youtube-Videos zu zeigen, als wäre das, was zwischen Stop und Play wirkt, das einzige, was sie erregt. Nein, hier oben kennen sie auch die Pausetaste. Eine Auszeit. Trotz des Fluglärms. Sie stehen manchmal einfach nur zusammen und ja, sie trinken Cola und sind altmodisch, denn wer trinkt das noch, und ja, sie bilden eine Einheit.

Ohne die Grünäugige.

Die ist zum Hinterausgang gelaufen, hat die Treppen genommen, kurz bevor Maria heraufkam. »Und es war doch ihr Vater«, sagt eines der Mädchen. »Ich war früher oft bei ihr, da war er noch kein –« Mehr kann Maria nicht verstehen, denn schon wieder kommt Lärm auf.

Diese Flugzeuge sind übrigens kein Trick des Journalisten, der aufschreibt, was diese Maria erlebt, und der sie eine schweigende Kindstöterin nennt, die sich wie ein Parasit auf das Leben des grünäugigen Flittchens setzt. Dieses Möchtegerns also, ein ungehobelter Kerl, unrasiert und ungepflegt wie alle Männer, wenn die Beschäftigung mit Frauen sich in jedem Nerv ihres Gehirns festsetzt als Obsession, es ist kein Trick dieses Schmierfinken, mit dem er die Enthüllungen hinauszögern will. Der Flughafen mitten in der Stadt ist real. Der Lärm auch. Dass Kinder langsamer lernen deswegen und Erwachsene depressiv davon werden, ist erwiesen. Zwischen sechs Uhr morgens und 23 Uhr abends starten und landen fünfhundertfünfzig Maschinen auf dem Flughafen. Fünfhundertfünfzig, geteilt durch die siebzehn Stunden am Tag, in denen alles in der Luft erlaubt ist. Dreißig in der Stunde sind das. Alle zwei Minuten ein Flugzeug, das jeden Satz unterbricht, jeden Gedanken zerschneidet.

Brombeerkind

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