Читать книгу Brombeerkind - Waltraud Schwab - Страница 6

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Die Zwiebel liegt noch immer geschält und ungeschnitten auf dem Tisch in Maria F.s Küche. Das Telefon klingelt. Sie geht nicht ran, reibt sich stattdessen die Hände, versucht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sich ein Essen kochen, ein einfaches, Röstkartoffeln mit Zwiebeln, darüber ein Ei. Sich nähren, sie zwingt sich dazu. Diese Leere, dieses Nichts in ihr soll still bleiben. Es soll nicht wieder vorkommen, dass sie sich an den Tisch setzt, einen Teller vor sich, nichts darauf. Trotzdem isst sie mit Messer und Gabel, zerschneidet die Luft. Nennt es »Luftfleisch«, stellt es sich vor angebraten in Fett, abgelöscht mit Wein, gewürzt mit Knoblauch, Rosmarin, Salbei, und auch das andere stellt sie sich vor, Luftpüree mit Luftsahne, gedünstete Luftartischocken, Thunfischluftmousse, Luft­schlangen­sorbet. Das war, als sie noch dachte, dass es jeden Tag wiederkommen könnte. Hochkommen wie Übelkeit. Mit Unsicht­barem füllte sie sich, wie der Luftgeist es tut – ihr Geheimnis.

Sie reißt sich jetzt zusammen: Kartoffeln mit Ei, das hat Kontur, so will sie auch die Geschichte der Grünäugigen schnörkellos aufschreiben und nichts dazu erfinden. Ein Teenager, Schülerin, noch sechzehn, aber nicht mehr lange, und in der neunten Klasse. Gut, sie und die anderen Mädchen schwänzen manchmal den Unterricht, an schönen Tagen, wenn die Sonne glitzernd durch die noch zarten Frühlingsblätter der Linden scheint, ein zittriges Muster auf alles werfend. Dann sitzen die Mädchen schon morgens auf der Bank zwischen den Bäumen, unweit von Maria F.s Fenster. Die Mappe zwischen den Beinen, das Smartphone in der Hand, den Kopf gesenkt, die Augen gehoben. Als wäre alles ganz normal, ganz einfach.

Aber ha, was ist einfach, wenn man, wie es die Mädchen tun, die Luft nicht einatmet, um sie auszuatmen, sondern jedem Fetzen Duft nachhängt, der wie eine Fährte gelegt ist, und der Klassengeruch ist definitiv nicht, was die Mädchen interessiert.

Ob die Mädchen keine Angst haben, dass jemand sie ansprechen könnte: »Warum seid ihr nicht in der Schule?« Sie, Maria F., könnte die sein, die die Mädchen anspricht. Sie weiß doch, dass sie zur Schule müssen. Nur spricht sie sie nicht an, denn sie kennt die Antwort schon. »Die Stunde ist ausgefallen.« Welche? »Deutsch und Mathe.«

Es sind immer Deutsch und Mathe, die ausfallen. Trotzdem: Addieren kann das grünäugige Mädchen. Besser als die anderen. Sie erzählt ihnen, dass sie dieses T-Shirt mit dem goldenen Vogel, das es bei H&M gibt, kaufen will. Für 17,– Euro. »Was, so viel?«, sagen die Mädchen. Und die Sandalen mit den hohen Absätzen und der goldenen Engelschnalle. Gold, Gold. Die kosten 29,– Euro. »Ja, die sind toll«, sagen die anderen. Und dann rechnen sie, und eine sagt: »Dreiundvierzig Euro«. »Nein, sechsundvierzig«, sagt die Grünäugige. Ihre Tante gebe ihr das Geld. Die mazedonische Tante, in deren Blumenladen sie manchmal hilft. Dass das gelogen ist, ist klar.

Wegen ihres Alters – die anderen sind ein, zwei Jahre jünger als sie – und weil sie Preise addieren kann, ist das grünäugige Mädchen der Star in der Clique. Ihr Wort gilt. Wenn es etwas zu rechnen gibt, muss sie es tun. Nur mit dem Lesen und Schreiben tut sie sich schwer. Darüber wird nicht gesprochen, viele kämpfen mit der Rechtschreibung. Die Lehrerinnen kommen nicht hinterher.

Das grünäugige Mädchen ist brav im Unterricht, so kann sie, glaubt sie jetzt, verhindern, dass jemand sie an den Tod ihrer Mutter erinnert. Sie meldet sich nie, stört nicht. »Wenn ich nichts sag, komm ich überall durch«, sagt sie. Schon in den früheren Klassen waren die Lehrerinnen froh, wenn eine keinen Ärger machte, deshalb mochten sie sie, haben sie durchrutschen lassen, meistens jedenfalls, obwohl die Grünäugige bis heute beim Lesen die Buchstaben vertauscht und sich Wörter zusammenreimt, die nicht auf der Seite oder dem Zettel stehen, den sie vorlesen soll. Wenn sie einen Text liest, stimmen mitunter der Anfang und das Ende des Wortes, nur das Wort selbst nicht. Manchmal verdreht sich auch alles in ihrem Kopf. »Ich sag die Wörter falsch«, erzählt sie. »Wenn ich liegen lese, sag ich lag.«

Einmal will eine Lehrerin, die ihre Klasse gar nicht unterrichtet, sich jedoch für solche Schwächen interessiert, es genauer wissen und spricht die Grünäugige auf dem Schulhof an. »Hier du«, sie nimmt einen Zettel, den sie zufällig in ihrer Jacke findet, ein zusammengefaltetes Informationsblatt aus der U-Bahn ist es, und hält es ihr hin, »lies bitte.« Die Grünäugige bläst sich Luft in die Backen und lässt die Wörter beim Vorlesen in Stücke zerfallen, jenseits des Sinns. »Fahrlässigkeit« sagt das Mädchen, wo es Fahrgeschwindigkeit heißt, Baustelle, wo Haltestelle gemeint ist. Funkbereich, wo von Funktionsbereich die Rede ist. Die Lehrerin ist von den Wortfindungen begeistert, hält das Mädchen für gewieft, auf kreative Weise für klug, auf charmante Weise für subversiv, als unterlaufe es Bildung. Nur unterläuft die Grünäugige gar nichts, denn in ihrem Unvermögen steckt keine Absicht.

Auch wenn sie ihrer Tante im Blumenladen hilft, tut sie sich schwer mit den Buchstaben. Weil sie »d« und »t« nicht richtig unterscheiden kann und »l« und »p« sich für sie ähneln, schreibt sie »Bunt Tuplen 2,50 Euros« auf das Schild. Ihre Tante, selbst nicht sicher in der Rechtschreibung, lässt es stehen. Ohnehin, das weiß man, reicht es, wenn der Anfang und das Ende eines Wortes richtig sind, dann verstehen fast alle, was gemeint ist. »Ein Bund Tulpen« die einen, »bunte Tulpen« die anderen. Beides ist okay. Die Buchstaben zwischen Anfang und Ende können vertauscht sein. »Ehrenwort.« Wissenschaftler haben das gesagt. So etwas schnappt die Grünäugige auf, das erklärt vielleicht auch, warum sie wohl jede Botschaft einigermaßen versteht, die ihr aufs Handy geschickt wird.

Jetzt, wo Maria F. beginnt, sich in die Details des Lebens der Anderen hineinzuversenken, als wolle sie deren Vergangenheit aufschreiben (und die Zukunft erfinden dazu), wird sie ihr damit einen Wert geben, der über den irgendeines grünäugigen Mädchens weit hinausreicht. Eben weil dessen Herkunft von einer Vielfalt ist, die über das hinausreicht, was sich Menschen vorstellen können, die sich vielleicht seit, nun ja, vier, fünf Generationen an einem Ort vermehrten, wie Maria F.s Vorfahren es taten, erinnert sie sich jetzt doch wieder nur an ihre eigene Geschichte, und das will sie nicht. Aber nicht immer gelingt es ihr, nicht doch an sich zu denken, und von allen Gedanken über ihre eigene Vergangenheit, die sich unversehens einschleichen, ist es nun der an ihren Stiefvater – dass da also ein Stiefvater war und somit ein Schicksal. »Du bist stief«, sagte sie einmal zu ihm. Was das sein solle? »Was du bist.«

Als sie jung war, stellte sich Maria F. wie zum Trost vor, dass nicht nur sie, sondern alle Kinder einen Vater hätten, der stief sei. (Die Grünäugige würde »steif« lesen. Der steife Vater. Und tatsächlich zog deren Vater ein Bein nach, was in einem entscheidenden Augenblick von Bedeutung sein wird.)

Wenn Maria F. in ihrer Küche eine Scheibe vom Käse schneidet, sieht sie manchmal den Stiefvater in Gedanken vor sich, wie der mit seinem Messer in die Rinde des Käses schnitt und ihr dabei einen Blick zuwarf , in dem stand, dass sie undankbar sei, weil sie die Käserinde dicker ließ.

Während Maria F. sich daran erinnert, plötzlich also wieder das Kind sieht, das sie einst war und das sich von so einem, der wie aus Versehen in ihr Leben geraten ist, nichts hat nehmen lassen, wird ihr klar, dass nun etwas geschehen müsse, damit das, was hier steht, auch gelesen wird. Sie wischt den Gedanken an den Stiefvater beiseite und konzentriert sich wieder auf die Mädchen in der Straße.

Hier erscheint es wichtig zu erwähnen, dass die Grünäugige sich keine Gedanken über sich macht. Sie kann das nicht. Für sie ist das wie nach innen zu leben, von ihrer Haut aus direkt in sich hinein. Solche Experimente liegen der Grünäugigen nicht, bei ihr geht das, was sie ausmacht, von der Haut nach außen, und die Hand verlängert, was immer von ihr kommt und in die Ungewissheit dringt. Wer bist du? Solch eine Frage kann die Grünäugige nicht beantworten, weil es für sie keinen Sinn macht. Weshalb soll sie fragen, wer sie sei, wo sie doch ist. »Ausländerin«, sagen manche zu ihr, auch eine Lehrerin. Die sagt das nur deshalb, weil sie manchmal mit Mädchen mit türkischen Namen herumhängt, mit Nilüfer, Gülüstan, Yasemin, die ihren Namen geändert hat und sich jetzt Jasmin nennt. Aber auch mit denen, wo alle Heimat schon verschmolzen ist, mit Orhanna, Svetlina, Chantalies, hängt sie ab. Gülüstan übrigens kann ihren Namen nicht leiden. Der höre sich an wie ein Land, sagte eine Lehrerin einmal und zählte auf: »Turkmenistan, Usbekistan, Kurdistan, Gülüstan.« Die anderen in der Klasse kichern. Nur mit Kurdistan kann Gülüstan, in deren Namen doch »lächeln« steckt, etwas anfangen.

Nilüfer kann ihren Namen auch nicht leiden. Nilufer rufen die anderen in der Klasse, wenn sie sie ärgern wollen. Sie wissen, Nil ist ein Fluss. Manche wissen auch, wo er ist. Die Grünäugige aber nennen sie Grünauge, und wenn jemand doch die Frage stellt, wer sie sei, gibt sie ihnen genau das zur Antwort. Denn instinktiv ahnt sie, wem sie vertrauen kann und bei wem sie nachgeben muss, Platz machen, damit das, was kommt, an ihr vorbeizieht. Es kränkt sie nicht, wenn andere Recht behalten auf diese Weise. Ausweichen, parieren, zurückspielen.

Auch köpfen? »Ja, klar.« Nur zum Verständnis: Das Fußballspiel, das die Grünäugige kennt, hat die Regeln, die auf der Straße gelten.

Ganz anders Maria F., diese Zwiebelschälerin, die soeben Angst hatte, dass alles wieder von vorne anfängt. Sie hat sich immer anderen in den Weg gestellt, um sich zu schützen. So hat sie die Unliebe des Stiefvaters aus- und ihn auf Distanz gehalten. So hat sie die Herzschmerzen der Mutter ertragen. Und so hat sie die Liebe ihrer Tante empfangen, die mit ihr gesungen hat. Alberta hieß sie. Es reicht, wenn eine da ist, die liebt.

Jetzt, in diesem Augenblick erzählt Maria F. in Gedanken das, was sie zusammenhält, einem Dritten. Er ist Journalist. Sie weiß, dass es ihn gibt. Sie hat eine Anfrage von ihm bekommen. Per Post sogar. Der Journalist hat ihren Namen im Archiv gefunden. Die Adresse hat ihm ein Kumpel vom Meldeamt gesteckt. Sein Interesse rein professioneller Natur: Frau, die Schuld an jemandes Tod hat, lautet sein Recherche-Auftrag.

»Ich beobachte die Grünäugige, als wäre sie meine eigene Tochter«, erzählt sie dem Journalisten, der vorerst nur in ihrer Vorstellung da ist.

Warum?

»Weil es diese Sehnsucht gibt.«

Er fragt nicht: »Sehnsucht wonach?« Er ist Journalist, darum fragt er: »Wie war es wirklich damals?«

Diese Frage ist ein Fehler. Denn so weit ist es noch nicht. Maria F. kann bisher nur sagen, dass sie bereit ist, zu erzählen. Sie weiß nur noch nicht wie. Und wann. Und wem. Noch haben die Sätze, die sie sich ausdenkt, keinen Rhythmus. »Glauben Sie mir«, sagt sie zu dem Journalisten, mit dem sie imaginär Zwiesprache hält, »mein Bekenntnis ist roh.«

Dann entlässt sie den Journalisten doch wieder aus ihren Gedanken, weil sie noch Zeit braucht. Nichts ist bereitet für das Gemetzel, das sich ankündigt. Aber selbst jeder Fuchs leckt sich seine wunde Pfote und schleicht weiter, obwohl er nicht weiß, wann sie heilt, kein Zögern hält ihn auf. Solange es schmerzt, hinkt der Fuchs und pirscht sich ungeschickt auf drei Beinen an ein Mauseloch. Er gibt alles daran, dass er bei dem vom Schmerz getragenen Sprung die Beute nicht verfehlt.

Sie wiederum konzentriert sich jetzt auf das nächste Flugzeug, das übers Haus fliegt. Für Sekunden vibriert das Wasser in der Karaffe auf dem Tisch. Der Flughafen ist nicht weit.

Auch die Mädchen unterbrechen ihr Gespräch, sobald das Flugzeug über ihnen ist. Denn jedes angefangene Wort, »Super-« zum Beispiel, wird von dem schneidenden Schall geschluckt. Man muss Pause machen und warten, bis es vorbeigeflogen ist, um das Wort zu beenden: »-girl«, »Misch-«, Pause, »-haut«. »Ver-«, Pause, »-lobung«. Dazwischen der Lärm, der alles erstickt: den Atem, den Herzschlag, die Gedanken. Was wollte ich sagen? Solange Ostwind weht und die Flugzeuge (»Flugzeige« schreibt die Grünäugige) jedes Wort mit Krach auseinanderreißen, wird dem Fortgang der Geschichte eine Behutsamkeit aufgezwungen, die dem des verletzten Fuchses gleicht, der auf seinen drei Beinen nur hinkend vollkommen ist. Auch Maria F. wird nur hinkend vorwärtskommen. Wenn Ostwind ist, fliegen die Flugzeuge über die Togostraße, die To-go-Straße der Mädchen.

Solange die Grünäugige dort unten auf der Straße ist, ist Maria F. selbst real. So denkt sie das nicht, aber die Existenz der anderen, in die sie sich hineindrängt, macht sie lebendig. Jeder Tag, an dem sie der Grünäugigen eine Zukunft gibt, ist auch einer mit Zukunft für sie. Wenn die Grünäugige Kaugummi kaut, schmeckt sie, Maria F., die Minze.

Und wenn die Grünäugige ihr Handy ans Ohr hält, hört auch sie Musik. Auf diese Weise kämpft sie gegen ihre eigene Gegenwart, die ihr wie ein auf Silber servierter Schweinskopf vorkommt, den sie im Traum essen soll, obwohl es gar kein Traum ist.

Maria F. hat gelernt, sich in ein Paralleluniversum hineinzudenken, so klein, dass es auf ihrer Fingerspitze Platz hat. Nur so hat sie das durchgestanden. Jetzt ist es die Geschichte der Grünäugigen, zu der andere »Flittchen« sagen, die sie am Leben hält.

Dieses Mädchen da unten, das ist ihre Herausforderung. Wenn sie die besteht, besteht sie auch sich. Weil sie ihr Leben in einer Sackgasse sieht, wozu noch leben, kopiert sie jetzt das, was das Mädchen antreibt. Es lebt die Tage mit einer Vergessenheit, die nicht schmerzt. Jede Sekunde wie ein unwichtiger Absatz.

Jetzt, genau jetzt in diesem Augenblick gähnt die Grünäugige. Sie hält sich die Hand vor den Mund, riecht daran, riecht ihren klebrigen, süßlichen Atem. Und dann blickt sie den Mann an, der zusammen mit seinem Kumpel eine Glasscheibe vom Lieferwagen ablädt, vorsichtig die Scheibe mit einem rutschfesten Handschuh anfassend. Eine falsche Bewegung, und das Ding liegt in Scherben. Der Mann blickt zurück.

Maria F. sieht, wie die Grünäugige, nachdem sie zuvor aufs Handy geguckt hat, schon wieder grußlos geht, wie sie Nilüfer, Jasmin und die anderen sitzen lässt, so scheint es, denn sie weiß, dass das Grußlose der Gruß ist und Abschiedsgrüße gefährlich sind, weil nicht klar ist, ob es danach weitergeht.

Für einen Moment fühlt sich auch Maria F. verlassen. Sie muss den Wunsch, der Grünäugigen zu folgen, unterdrücken. Sie muss hier bleiben, in ihrem monotonen Alltag, der sie hält, ihren einfachen Gerichten, die sie nähren, Kartoffeln mit Ei, Reis mit Spinat. Kein Crescendo. Keine Höhepunkt.

Herrgott, was soll dieses Geschwafel, mit dem sie sich vor der Geschichte drückt? Ist es so schwer zu schreiben, was geschah?

Ja, ist es.

Wenn sie daran denkt, wird ihr heiß und kalt, sie schwitzt und friert, sie sieht sich im Wasser stehen, sieht sich fallen, sieht, wie das Kind fliegt. Sie hat es nicht gehalten. Tausende Male hat sie das schon durchlebt. Kann es sein, dass sie es so wollte? Sie im Wasser, sie fallend, sie das Kind loslassend.

»Ich bin schuld.«

Einmal gesagt, steht es im Raum. Schuld. Das Wort ist Gott. Danach geht es nicht weiter. Aber Maria will nicht, dass sich ihr Leben mit Gott vermischt. Maria lebt und ringt darum, dass Handlung mehr ist als Benennung. Aus dem Nichts geschah nichts. Die Handlung ist ihr Fegefeuer, in dem sie morgens aufsteht, sich im Spiegel betrachtet, sich ans Fenster stellt mit einer Tasse Kaffee in der Hand, sich die Zähne putzt, anzieht, fertig macht zum Ausgehen und dann doch zu Hause bleibt, meistens.

Nur manchmal nicht.

Es darf kein falscher Eindruck entstehen. Maria F. funktioniert. Es muss sich niemand um sie kümmern. Ihr Leben ist gesichert. Der Mann hat ihr Geld hinterlassen, und außerdem fließen jeden Monat Tantiemen auf ihr Konto. Nicht viel, aber es reicht. Sie hat früher Liebeslieder für andere geschrieben. Manchmal auch Feiertagsreden. Mitunter tut sie es noch, wenngleich nicht erfolgreich. Sie tut es nur für sich. Wenn es ihr gelingt, die Zeit zu dehnen in einem Satz, wenn sie Dinge sagt wie »Du bist mein Augenstern« oder »In den Wolken sehe ich dein Gesicht«, Sätze, die eine Öffnung ins Universum reißen (und ins Kitschige) und die ewig sind, spürt sie sich. Spürt sich endlich. Dann, in diesen seltenen Momenten, kommt sie der höheren Gewalt nahe, vor der sie sich gleichzeitig fürchtet. Denn wenn sie sich spürt, bleibt die Zeit stehen. Nur deshalb, aus Angst also, hält sie sich an der Grünäugigen fest, weil diese konkret ist und sich nicht vorstellen kann zu sein, ohne zu tun.

Sie dreht sich um, geht zurück ins Zimmer, schaut auf das Bett, die Laken zerwühlt.

Brombeerkind

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