Читать книгу Brombeerkind - Waltraud Schwab - Страница 7

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Maria F. kann nicht im Dunkeln schlafen. Sie hat Angst vor der Nacht. Wie das kam, fragst du? Du wer? Sie kennt doch niemanden. Sie ist hierher gezogen, in diese Großstadtstraße in Berlin, wo niemand ihr über den Weg laufen kann. Kein Szenekiez, so wie da, wo sie früher wohnte. Stattdessen in den Wedding. »In den Wedding!«, riefen die Leute vor Jahren noch zu schrill, sagten: »No-Go!« Nicht zu ihr sagten sie das, aber sie weiß es aus Berichten. Auf das »No-Go« reagierten die Leute in der Straße mit einem »To go«. »To go« sagt auch sie, weil sie keine Adresse haben will, keinen Ort, wo man sie suchen kann. Sie will unauffindbar sein.

Ach herrje, unauffindbar. Zu viel Pathos ist das. Unauffindbar, wer ist das noch? Mit Kameras überall und dem Handy, dieser Nabelschnur zum Universum. Aber, um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, bei Maria F. ist das keine Sache von außen, die Tarnkappe hat sie sich nicht auf den Kopf, sondern auf die Seele gesetzt. Sie will unauffindbar sein für sich selbst.

Wenn also jetzt jemand in ihre Abwesenheit hinein fragt, wa­rum sie Angst vor der Dunkelheit hat, wo sie doch da am unsichtbarsten sein könnte, wer kann das sein? Dieser Journalist wieder, der alles von ihr wissen will? Ein Mensch mit großen Ohren, einem unverfrorenen Mund, einer kribbligen Hand, einem Stift, zwei Beinen, eins immer vor dem anderen. Fragt und fragt. So stellt sie sich das vor. Reißt eine Mauer ein und dann die nächste. Stapft mit seinen gelben Turnschuhen – der Marke »No-name«, die aus purem Understatement sehr teuer ist – über ihr baufällig zusammengeflicktes Leben. Und wenn er dann etwas zusammenschreibt, klingt es, als wäre es erfunden: »Angst vor der Dunkelheit hat sie.«

Maria F. erinnert sich jetzt an eine Freundin, die früher, als ihr Leben noch einfach war, obwohl sie schon in Berlin wohnte, in einem schäbigen Haus in der Eisenbahnstraße, bei ihr schlief. Es waren die einzigen Nächte, in denen sie wollte, dass die Vorhänge zugezogen werden, damit das Licht der Straßenlaterne, die direkt vor ihrem Fenster stand, nicht ins Zimmer fiel. Mehr noch als an die leichte Berührung der nebeneinanderliegenden Körper erinnert sie sich daran, dass es in diesen Nächten dunkel war. Sie löste sich nicht auf. Da lernte sie, dass es etwas gibt, das sie nicht kannte.

Und jetzt? Jetzt hat sie wieder in niemanden Vertrauen. Am wenigsten in sich. Wie ferngelenkt hat sie versucht, alles abzuschütteln: ihr altes Leben, den Mann, das Kind. Und dabei auch diese Freundin zurückgelassen. Sie straft sich selbst. Sogar ihre Stimme, mit der sie früher singend Menschen begeisterte, nicht weil ihr Gesang rein wäre, im Gegenteil, er ist hart und von einer kratzigen Rauheit, hat sie weggelegt, als wäre die Stimme ein Kleid, aus dem sie herausgewachsen ist.

Wie die Grünäugige versucht auch Maria F. nur noch in der Gegenwart zu leben. Heute, heute, aufstehen, sich einen Kaffee kochen, mehr kriegt sie nicht herunter so früh am Morgen, jeder Biss ins Brot ein Hammerwurf.

Darüber, ob sie überhaupt aufsteht, muss sie nicht nachdenken. Die Disziplin hat sie eingeübt, sechs Jahre lang. Noch in ihren Träumen ist aufstehen eingeschliffen. Sechs Uhr. Punkt. Und hat sie erst einmal das trockene Brot gekaut und geschluckt, langsam, ganz langsam, fängt sie an, das, was hungrig in ihr ist, erst richtig zu spüren. Sie setzt sich dann an den Tisch, nimmt das Heft, in das sie diese Geschichte hineinschreibt, die die ihre werden soll, aber jene der Grünäugigen ist, dieses Mädchens, von dem sie noch gar nicht so viel weiß, und schreibt und verwirft und schreibt.

Weil sie nicht viel über die Grünäugige weiß, schreibt sie Sätze, die sie selbst überraschen. Sätze wie den, dass die Grünäugige gläubig ist, weil sie in den Bäumen Gott sieht, eine Einsicht, die niemand ihr zutraut, nicht Taifun, nicht die Freundinnen, und die Lehrerinnen schon gar nicht. Die Grünäugige traut sich das selbst nicht zu, dennoch hört sie manchmal die Bäume sprechen. Was sie sagen, kann sie nicht in Worte fassen, deshalb ist dieses Einverständnis zwischen ihr und den Bäumen, deren Namen sie nicht einmal kennt, für sie sind Platanen, Ahorn und Birken eins, ein Geheimnis. Nur die Kastanien erkennt sie an ihren Blättern.

Und während Maria F. diese Schwäche für die Allmacht der Bäume, der die Grünäugige nachhängt, mit Worten ausmalt, weiß sie, dass sie doch nur über sich selbst schreibt. Sie, nicht die Grünäugige, sieht in den Bäumen eine Größe, die sie als etwas Wertvolles in sich birgt wie früher ihren ersten verlorenen Milchzahn, den von unten links. In einem kleinen glitzernden Kästchen lag er bei den anderen Dingen, die sie für die Schätze der Welt hielt: den blauen Michelin-Elefanten aus Gummi, Muscheln, die ihr der Nasse, der vom Lehrer geschlagen wurde und der sie so Ungerechtigkeit lehrte, geschenkt hat in der dritten Klasse, eine Spieluhr, die nicht mehr ging und die, als sie noch funktionierte, in glockenhellen Tönen »Guter Mond, du gehst so stille« spielte. Wenn sie an die Spieluhr denkt, hört sie das Lied.

Anders als damals ist die Schatzkiste, in die sie die Göttlichkeit der Bäume hineinlegte, nur in ihr. Sie behält das für sich. Sowieso, mit wem soll sie darüber sprechen? Nie aber wird sie vergessen, wie sie als Teenager, noch auf dem Dorf, in der Wohnung stand und sich weinend die Ohren zuhielt, weil sie den Baum, der im Garten gefällt wurde, schreien hörte. Ein alter Ahorn war es, sie hatte ihren Stiefvater angefleht, den Baum stehen zu lassen, er störe doch nicht, im Gegenteil, er spende Schatten im Sommer. Der Stiefvater aber sagte, er verschatte das Zimmer, sie solle sich nicht so anstellen, ein Baum sei nur ein Baum. Sie spürte, wie die Säge kreischend in seinen Stamm drang.

Um aufzuatmen, denn sowohl die Erinnerung als auch das Schreiben erschöpfen, steht Maria auf, legt den Stift zur Seite, zieht ihre Jacke an, zieht sie wieder aus, zieht sie doch wieder über und verlässt die Wohnung.

Sie geht in den Gemeinschaftsgarten, entstanden auf einer alten Brache unweit des Leopoldplatzes. Zufällig war sie dort vor Monaten vorbeigekommen. Es ist ein Garten für alle, und aus einer Laune heraus fragte sie, ob sie ein Beet haben könne. Sie konnte. »Tun, nicht reden«, hat der Mann gesagt, den sie fragte. Jemand hatte die Freude am Gärtnern verloren, seine Beete, die nicht auf dem Boden angelegt sind, sondern in zusammen­gezimmerten Kisten, überließ er ihr.

Damals, als sie fragte, ob sie mitmachen könne, war Herbst, die Beete abgeräumt. Da war nichts als brauner Grund. Sie nahm ihn in die Hände, roch daran. Anders als Sand, von dem sie findet, dass er metallisch riecht, ein Geruch, der sich ihr eingebrannt hat, seit jenem Tag, an dem ihr Leben in zwei Teile brach, erinnert der Duft der krümeligen Erde sie an feucht gewordene Kleider.

Was sie anpflanzen wolle, hatte jemand gefragt. Und ohne zu zögern, sagte sie »Brombeeren«. Nichts sonst. Mit einer Entschlossenheit, die es denen, die sie gefragt haben, unmöglich machte, nein zu sagen: Nein, doch keine Brombeeren. Da brauche sie sich nicht solche Mühe machen, die wüchsen doch überall von alleine. Nur einer hat wissen wollen, ob sie die großen, die ohne Dornen nimmt, und da hat sie genickt, obwohl sie bis dahin gar nicht wusste, dass es welche ohne Dornen gibt.

Seither wachsen in ihren Kisten Brombeeren, die die Finger schwarz färben, so schwarz wie die Nacht mit violettfarbenem Schatten, so schwarz wie das Blau hinter geschlossenen Lidern, so schwarz wie das Haar des Kindes in ihren Träumen. Wenn sie die Beeren isst, sagt sie »Mora« und saugt die erdige Süße aus ihnen, als stille die Beere sie.

Im späten Winter aber, wenn die Sträucher schon Knospen ansetzen, isst sie auch diese. Sie schmecken nach Pistazien, und obwohl die Knospen hell sind, gräulich und von einem pastelligen Braun, das fast blau wirkt, sieht sie sie grün.

Kommt sie aber im Frühling und Sommer im Garten vorbei, setzt sie sich auf eine einfache Holzbank, die jemand zwischen die Hochbeete gebaut hat, und schaut den Pflanzen beim Wachsen zu. Und manchmal, bei der Zucchini im Nachbarbeet etwa, dort, wo auch die Butterkürbisse über den Rand der Kiste hängen, meint sie, die sich streckenden Fasern, die immer länger, immer härter werden, zu sehen. Sie kann ihre Wahrnehmung in die Zeitlupe verschieben und da geht das schon.

Im letzten Sommer hat es angefangen, dass sich dieser Mann neben sie setzte auf diese zusammengezimmerte Bank. Sie sprachen nicht miteinander, nicht mit Worten jedenfalls, nur mit den Augen. Ja, sie grüßen sich, aber der Gruß ist mehr ein Nicken. Bald sagen die anderen, die dort auch gärtnern, »die Schweigende« zu ihr. Ihn nennen sie »den Biologen«. Je länger der Sommer geht, desto näher rücken die Worte. »Drüben sitzen die Schweigende und er«, sagt jemand. Eine andere: »Ach, auch da, sie und der Biologe.« Und während sie es sagen, schauen sie die beiden nicht an, betrachten sie nur aus den Augenwinkeln, um ja keine Bewegung zu verpassen.

Wenn der Biologe aufsteht, streicht er sich die Hose glatt, als wäre er nicht im Garten, sondern auf einem Amt, hätte eine Wartenummer gezogen, die gerade aufgerufen wird. Steht sie indes auf, ist es, als wolle sie eine Last abwerfen. Und da ist ja auch eine. Deshalb kann sie mehr als seine wortlose Nähe nicht ertragen.

Müde vom Zuschauen der sich reckenden Pflanzen macht sie sich vom Garten auf den Weg nach Hause, mit einer Mohrrübe in der Hand, zwei Blättern Russischem Kohl, die er ihr nickend gibt, die sie dann schneiden will, dünsten und essen. Und doch nicht isst. Sie weiß, dass es etwas anderes gibt als die Leere, aber sie ist noch nicht bereit dafür.

Auf dem Rückweg verlangsamt sie den Schritt, wenn sie die Mädchen auf der Bank unter den Bäumen in der To-go-Straße entdeckt. Mitunter setzt sie sich auf die zweite Bank, die etwas abseits steht und nicht so geschützt ist, aber doch nah genug, um die Mädchen im Blick zu haben und ihre Worte aufzufangen, wenn kein Flugzeug über die Straße fliegt. Dieses etwas zu hohe »Süüüüüß«, dieses zu schrille »Heyyyy«, dieses etwas zu langsame »Moooorgen«, das kein Morgen sein wird, sondern immer ein Jetzt. »Komm, wir gehen.«

Maria F. sitzt auf der Bank und knüpft die Erzählfäden der Mädchen zu einem Teppich, in dem jeder Knoten aus Sehnsucht und Erwartung besteht, nicht aus Schmerz, und sie weiß dennoch nicht, wo das hinführt, denn beim Teppichknüpfen ist alles Gegenwart.

Beide, sie und die Grünäugige, wedeln mit der Hand und vertreiben Schmeißfliegen. Weil Hundebesitzer ihre Hunde auf der Wiese hinter dem Platz mit den Bänken ausführen, gibt es viele davon.

»Hey, komm«, sagt Gülüstan, bewegt sich aber nicht vom Fleck, und auch Maria F. bleibt auf der Bank sitzen und fragt sich, wie sie je diesem Journalisten sagen soll, was sie denkt und wie ihr Leben ist. Und dass da dieses Kind war, das sie nicht beschützt hat, und dass sie jetzt die Grünäugige beschützen möchte, obwohl es bisher keinen Anhaltspunkt für diese Absicht gab.

Brombeerkind

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