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Halt, stopp! Diese Geschichte kippt schon wieder ins Traurige. Kein Mensch möchte das lesen. Sowieso Vergangenheit, selbst schöne Momente von früher halten nicht lange. Die Leute möchten Spannung in der Gegenwart, wollen zum Lachen gebracht werden, jetzt. Das ist nicht zu viel verlangt. Vielleicht mit ein paar Episoden aus der Schule in der To-go-Straße? Eine Lehrerin muss auftauchen, die sich mit der Grünäugigen und ihren Freundinnen wie auch mit den Jungs am Bolzplatz abmüht.

Frau Schreier soll die Lehrerin heißen, weil der Name einschüchtert, bei ihr aber nicht, denn Frau Schreier ist sanft und bringt die Kinder immer wieder dazu, an Wunder zu glauben. Einmal fährt sie mit ihnen vom Wedding, dem Stadtteil, wo die Farben schrill sind und sich Stimmen und Formen beißen, nach Charlottenburg, wo alles dezent ist, sahnetortig irgendwie. Weil das auch den Kindern auffällt, fragen sie dort die Lehrerin, ob sie nun in einem anderen Land seien. Frau Schreier fragt, was sie glauben, und »Ja, gebt dem Ort einen Namen«, und sie nennen es »Vielleicht-Deutschland«. Sie fragt dann weiter, wie das heißt, wo sie wohnen, der Wedding nämlich, und die Kinder fragen, ob das auch ein Land sei. Frau Schreier sagt, dass es zu einem Land gehöre, und sie sollen ihr sagen, zu welchem. »Nicht-Deutschland«, antwortet da Gülüstan, deren Namen eine andere Lehrerin zuvor zu einem Land erklärt hat.

Obwohl das jetzt nicht wirklich zum Lachen ist, ist Frau Schreier froh über die Antwort, denn sie sieht, dass Gülüstan nun auch in der Verneinung denken kann. Wenn eine es kann, kann sie den anderen in der Klasse über diese Klippe helfen. Am meisten lernen Kinder von Kindern. Sie will sich das merken, um es im Mathematikunterricht zu verwenden, wenn die negativen Zahlen – eine Herausforderung – drankommen. »Wow, Nicht-Deutschland«, sagt Nilüfer. Das grünäugige Mädchen, das sich die Fingernägel abkaut bis auf die Haut, sagt nichts.

Die Grünäugige ist jung. Deshalb glaubt sie noch, dass alle Attacken nur bis an ihr Äußeres gelangen. Ihre Zähne: bis zur Haut unter den Nägeln. Die Ohrfeige: bis zur roten Wange. Der Tod der Mutter: Gänsehaut und Tränen. Wenige. Sie schämte sich dafür. »Zu alt, um zu weinen«, hat man ihr schon Jahre zuvor gesagt. Das erklärt, warum sie nur ihre Augen aufriss, wenn sie geschlagen wurde. Der erste Kuss: Lippen und Zunge. Kein Speichel, das kommt später. Der erste Penis: hart am Inneren ihres Schenkels.

Jetzt, wo so viel über das Mädchen preisgegeben ist, kann Maria F. es nur schwer ertragen, dass sie noch nicht einmal ihren Namen kennt. Denn je öfter sie »die Grünäugige« sagt, desto abfälliger kommt es ihr vor. Wie früher, wenn sie »die Windlicht« zu ihr sagten. Das will sie doch nicht, weil Abfälligkeit vernichtet. Die Grünäugige soll aber lebendig sein, sodass die, die sie auf der Straße sehen, wenn sie ihre Geschichte kennen, ihr nicht abfällig, sondern mitfühlend begegnen, verständnisvoll.

Und dies, obwohl Mitgefühl und Verständnis keine Selbstverständlichkeiten mehr sind, das Mädchen weiß das. Sie lebt von Halbwaisenrente und Hartz IV. »Herz vier« sagen die Kinder, manchmal auch »Heart for«, das sie dann »heart4« schreiben, und das heißt doch, dass man ein offenes Herz hat für andere. Aber sogar die Grünäugige, die in ihrer Jugend noch auf nichts festgelegt ist, hat verstanden, dass »Herz vier« sie zu einer macht, die weiß, dass sie sich selbst die Nächste ist, als müsste sie sich erschaffen. Dabei, das darf nicht aus den Augen verloren werden, ist es am Ende Maria F., die die Grünäugige in die Welt hebt – und wieder gehen lässt.

Maria wird dies indes so nicht sehen. Aus einem Mangel an ihrem eigenen In-der-Welt-sein-wollen hält sie sich an die Grünäugige und folgt ihr. Folgt ihr jetzt, wo diese sich wortlos von den anderen Mädchen, die noch immer auf der Bank unter den Bäumen herumlungern, abwendet, die Togostraße schräg überquert, um nicht am Imbiss der Bärtigen vorbeigehen zu müssen, weil die Männer, die dort Pizza verkaufen, »ha, Pizza«, gleichzeitig ihren Kunden aus dem Koran vorlesen und jungen Frauen wie ihr abfällige Bemerkungen nachwerfen, da sie gern Haut zeigen. Maria folgt der Grünäugigen, die bis zur Ecke schlendert, in die Kameruner Straße einbiegt und dort ihren Weg fortsetzt bis zur Müllerstraße, ein wenig zu langsam eigentlich, um ihr unbemerkt nachgehen zu können.

Aber Maria ist eine Frau, die nicht auffällt in ihrem grünlich schimmernden T-Shirt, ihrer grauen Jeans, ihren graublonden Haaren. Einzig ihr Gesicht ist zu jung, fast wächsern, die Haut noch so glatt, vierundvierzig Jahre alt ist sie, da könnten schon Falten sein. Die Glätte ihrer Haut, das ist das Ende. Als hätte sie einmal, vor geraumer Zeit, aufgehört zu leben. Als wäre sie eine Figur bei Madame Tussauds, Gott bewahre.

An der Ecke schaut sich die Grünäugige um. Kennt sie jemanden von denen, die am Imbiss stehen, vor Lidl, vor Real? Jemand, der sie nicht mit Namen ansprechen wird, sondern mit »hallo« und »hey«, und ihr Wortfetzen in einer Sprache zuwirft, die nur sie verstehen: »Ne wa?« »Gel doch!« »Mir egal.« »Alles korall?« (»Was wa?« »Hau ab!« »Alles super?«)

Der Grünäugigen zu folgen, strengt Maria an, weil sie nur von außen auf ihre Welt schaut, sie nur halb versteht, manches denkt sie sich auch aus. Jetzt, wo das alles aufgeschrieben wird – wer schreibt? Sie? Jetzt also, wo sie das alles aufschreibt, erst recht.

Sie fühlt sich wie eine, die aus einem schweren Marmorblock mit Hammer und Meißel Stücke herausschlägt, alles noch grob und doch soll schon Kontur erkennbar sein. Da, eine Figur, ein junges Mädchen, pausbäckig und leichtfüßig, das, wenn es um sich schaut, in alle Richtungen blicken kann, weil es niemandem vertraut, wie auch Maria F. in nichts und niemand Vertrauen hat außer in ihre Hände, mit denen sie mit dem Handwerkszeug die Geschichte aus dem Marmorblock schlägt.

Noch ist sie roh und ihre Finger sind blutig von der schweren Arbeit. Sie umwickelt sie mit Stoffstreifen, die sie von einem alten Laken reißt. Denn es scheint ihr nur richtig, sich in gebrauchte Dinge zu hüllen, die eine Geschichte haben, um sich so aus ihrer eigenen zu stehlen.

Dies ist auch der einzige Grund, aus dem sie der Grünäugigen folgt: Sie will das Leben der anderen. Will es sich zu eigen machen, will sich ihr anverwandeln. So, meint sie, kann sie sich selbst verwandeln, noch einmal von vorne beginnen und eine Zukunft haben, die glänzt.

Plötzlich erstarrt die Grünäugige. Sie hat jemanden entdeckt. Es muss der Mann sein, der vor der Eckkneipe steht, die in­zwischen geschlossen ist. »Zum Korken« hieß sie, die Buchstaben des Schriftzugs hängen schief noch an der Fassade.

Unauffällig gekleidet ist der Mann, so unauffällig wie Maria F., das Gesicht mit dunklem Stoppelbart, der um den Mund heller wirkt, grau. Auch die Haare noch dunkel.

Die Grünäugige rennt über die Straße, die Fußgängerampel schon rot. Da, in der Bewegung, entdeckt er sie. Es dauert eine Sekunde. Dann kommt Leben in ihn. »Kiss!«, ruft er, will ihr hinterherrennen, aber die Autos sind zu schnell, er schafft es noch hinkend, ein Bein nachziehend, bis auf den engen Mittelstreifen, sieht sie im Einkaufszentrum verschwinden.

Er überquert die zweite Fahrspur, achtet nicht auf den Verkehr, es bremst, es hupt, er humpelt zum Eingang, geht hinein, kommt wieder raus, will erst nach rechts, dann nach links, entscheidet sich zu bleiben, zu warten, setzt sich auf einen der Bögen, an denen Fahrräder angeschlossen werden. Eine andere Sitzgelegenheit gibt es nicht, wo man warten kann und den Eingang im Blick hat. Es sei denn, man hockt sich wie die Bettler auf den Boden. Der Mann zündet sich eine Zigarette an.

Maria F. ist mittlerweile auch auf der anderen Straßenseite. Aus dem Abstand hat sie alles beobachtet. Es erinnert sie an etwas. An was? Zu kurz nur hat sie den Mann von vorne gesehen, und jetzt nähert sie sich ihm von hinten. Das geht so nicht. Sie rennt noch einmal über die Straße, mehr auf ihn als auf die Autos achtend, die eben wieder anfahren, weil die Ampel umgesprungen ist, läuft bis zur nächsten Fußgängerampel nur wenige Meter entfernt, immer den Mann im Blick. Ist er noch da? Ist er noch da?

Es dauert, bis die Fußgängerampel auf Grün schaltet und sie ihm nun entgegengehen kann, sein Gesicht ganz grau. Sie zieht selbst Zigaretten aus der Tasche, holt, während sie ihn anschaut, eine aus der Packung, und als sie das tut, begreift sie es. Sie sieht es an seinem Blick. Sie hat das schon oft gesehen. Diesen Hohlraum, der sich auftut, wenn man in die Augen schaut, als läge zwischen Jetzt und Hier eine Steinwüste. (Andere, die etwas gemeinsam haben, Mandeläugige, Homosexuelle, Beinprothesenträger, erkennen sich auch am Blick. Bei denen jedoch liegt zwischen dem Hier und dem Jetzt ein Meer, also Wasser, nicht Dürre und Trockenheit.)

Sie bittet den Mann um Feuer und da, in diesen Sekunden, die sie sich schweigend gegenüberstehen, erkennt er sie auch.

Wie lange?, fragt Maria F., ohne es auszusprechen. Sie fragt nur in ihrem Kopf, er indes hört die unausgesprochene Frage: Drei Jahre, zwei Monate, denkt er. Und du?, fragt er, ohne etwas zu sagen. Sie antwortet nicht, gibt ihm das Feuerzeug zurück, geht weiter, spürt, wie er ihr mit den Augen folgt, und weiß nun, dass sie nicht unsichtbar ist.

Brombeerkind

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