Читать книгу Brombeerkind - Waltraud Schwab - Страница 8

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Schwer vorstellbar, dass Maria F. einmal eine Fröhliche war, ein fröhliches Mädchen. Und doch war es so. Ist sie damals als Kind in ein Zimmer gekommen, haben sich die Leute zu ihr umgedreht. »Ah, sie!«, »Ah, wie schön!«. Locken und Lachen und ein Gehen, das einem Springen gleichkam. Nie hat sie sich langsam genähert, sondern ist in die Gegenwart gesprungen. »Sie bringt Wind mit«, haben die Leute damals noch auf dem Dorf, wo sie aufgewachsen ist, gesagt, wenn sie einen Raum betrat; »sie strahlt«, sagten sie, wenn sie ihr auf der Straße begegneten.

Maria wusste das, sie hatte es gehört. »Windlicht« nannte sie sich dann manchmal selbst. »Hier bin ich, Maria Windlicht« – und das war für eine, die noch kein Teenager war, doch auch zu erwachsen und zu sehr in die Leute hineinblickend. Die aber fanden es lustig, weil dieses Mädchen etwas hatte, was ihnen verloren gegangen war: Neugier, Lebenslust, Ungestümheit, Frechheit, Ge­wagtheit. Sie kletterte auf Bäume, sprang von Schaukeln, sie konnte das.

Lebenslust ist der Lebensfaden gewesen, an dessen anderem Ende die Mutter hing, die ihre Depressionen bekämpfte, vor allem, nachdem der Vater weg war, gegangen, Zigaretten holend verschwunden. Insgeheim hat das Mädchen den Vater verstanden, der, einmal eine Richtung eingeschlagen, nicht mehr umkehren konnte. Umkehren kam ihr wie Einknicken vor. Auch ihr fiel das schwer, aber weil sie lachend stur blieb, war es mehr ein Ahnen denn Gewissheit, dass das Lachen sie schützte.

Die Abwesenheit des Vaters brachte nicht Wind, sondern Wolken. Er hat sie doch sonst immer mitgenommen! »Komm, Windfang«, »komm Sonnenschein«, »komm, mein Regenbogen« – seine Kosenamen hatten mit dem Wetter zu tun. Dabei war er gar kein Bauer, der morgens auf das Barometer schaute und in den Himmel, er war Handwerker, reparierte alles, was aus Metall war. Er schlug dagegen und lauschte dem Ton. Als könne er hören, was kaputt ist. Der Schlag gegen einen Kotflügel: blechern, gegen ein Rohr: dumpf, gegen einen Kofferraumdeckel oder eine Motorhaube: hell und scheppernd, gegen einen Zinkzuber: hoch, gegen eine Radkappe: hohl, gegen eine Egge, mit der die Bauern den Boden lockerten: tief. Alles, was aus Metall war, brachte er zuerst zum Klingen, bevor er es reparierte. Als stimme er ein Ins­trument.

Dass ihr Faible für schrille Musik, für solche ohne Harmonie, für Kompositionen, die Pfeifen und Schlagen und Kratzen und Hämmern sind, von der Vorliebe des Vaters kommt, sich den Ton des Metalls anzuhören, nie zweifelt sie später daran. Sie hing an ihrem Vater, himmelte ihn an, fand ihn wunderschön, obwohl er mager war und vom Rauchen schlechte Zähne hatte.

Der Vater hat sie mitgenommen; oft, wenn er mit dem Fahrrad zum Sportplatz fuhr, um Fußball zu gucken; hat sie mitgenommen, wenn er an Feiertagen Durst hatte auf ein Bier im Wirtshaus, sie bekam dann eine Fanta; hat sie mitgenommen, wenn er zum Rhein fuhr, um zu angeln. Träumend saß sie im Boot, schaute dem Vater zu, der wie erstarrt schien, ein schönes Verweilen. Wird sie je gefragt, wie es sich anfühlt, wenn die Zeit stehen bleibt, wird sie antworten: Wenn man im Boot auf dem See sitzt mit jemandem, der mit ausgestrecktem Arm eine Angel hält und den man liebt. »So vergeht die Zeit bleibend.«

Da plötzlich aber wurde der Vater hektisch. Nicht sofort, es gab immer erst diesen Augenblick des Erwachens, diese leise Aufmerksamkeit, die auch sie aus ihren Träumen holte. Dann sah sie, dass sich das Wasser nicht mehr sanft kräuselte, sondern unruhig war, wie ihr Herzschlag. Und sie sah, wie der Vater den Fisch an seiner Angel fast zärtlich überlistete, ihn aus dem Wasser zog, dabei die Augen aufriss, als spreche er mit dem Fisch, als entschuldige er sich, weil die aufgerissenen Augen doch auch Erschrecken waren, Erschrecken vor der eigenen Bereitschaft, einer Kreatur den Kampf anzusagen, die ihm nichts getan hat. Oder machte er dem Fisch von Angesicht zu Angesicht doch klar, wer der Stärkere ist, wer verloren hat, wer sich in sein Schicksal fügen müsse, denn auf einmal veränderte sich sein Gesicht, er schien zu lachen, den Mund öffnete er dafür nur auf einer Seite, im Mundwinkel auf der anderen klebte die erloschene Zigarette.

Einmal nahm der Vater auch ihren jüngeren Bruder mit ins Boot. Nicht dass sie das toll fand, sie wäre lieber mit dem Vater alleine dort gewesen, nur so war träumen möglich. Der Bruder verstand nicht, wieso er still sitzen soll, verstand die Magie des Nichtstuns nicht. Und dann passiert es: Gerade als es am schönsten ist, wird der Bruder unruhig, steht auf, sagt, er will jetzt Fußball spielen, kickt gegen die Bootswand, das Boot schwankt, der Bruder kippt auf die Seite, das Boot neigt sich, er fällt ins Wasser. Sie will noch nach ihm greifen, erwischt ihn, verliert selbst das Gleichgewicht und fällt hinterher. Beide können nicht schwimmen, beide versinken.

Der Vater lässt die Angel fallen, springt in den Fluss. Zuerst packt er ihren Bruder und zieht ihn heraus, hievt ihn ins Boot und taucht dann nach ihr. Sie fühlt sich schwebend, als könne sie fliegen. Alles sei blau gewesen wie die Luft, sagt sie später, als wäre sie aufgefangen von den Elementen, »ich hatte keine Angst.« Wenn sie noch Jahre danach davon erzählt, sagt sie, dass es schön war.

Danach brachte der Vater ihr und dem Bruder das Schwimmen bei. Er stand im seichten Wasser und hielt sie, wie er auch Fische im Arm hielt, er sagte ihr, dass sie die Beine bewegen müsse, die Arme, und sie fühlte sich geborgen wie später nie wieder. Sie hätte ewig sein Fisch sein können. Aber manchmal nahm er sie an den Händen, und sie musste mit den Beinen schlagen, ohne den Boden zu berühren. Als sie es schon besser konnte, hielt er sie an den Beinen, und sie schwamm mit den Armen, wissend, dass sie nicht fortkommen kann. Erst als sie und auch ihr Bruder schwimmen können, dürfen sie wieder mit ins Boot. Aber so schön wie zuvor war es nie mehr.

Warum der Vater sie zurückgelassen hat, wo sie doch eins waren, wenn sie angeln gingen, das hat sie nicht verstanden. Anders als ihre Mutter aber lässt sie seine Abwesenheit nicht gelten. Sie wird wütend auf ihn. Und weil er nicht da ist, schlägt sie in ihrer Wut auf alles ein, erst auf Kissen, dann auf die Wände, dann auf die Möbel, schlägt auf Türen, auf Tische, schlägt auf Teller und Schüsseln, manche gehen zu Bruch, schlägt und schlägt, schlägt zuletzt auch auf die Mutter ein, weil sie will, dass ihre Mutter so wütend auf den Vater ist wie sie, und dann schreit sie, dass der Vater böse sei, böse, und als sie lange genug geschlagen und geschrien hat, blickt sie sich um und sieht in das erschrockene Gesicht ihres Bruders und in das erloschene der Mutter.

Da verstand sie, dass sie strahlend sein muss, nicht nur für sich. Dass sie Freude in die Welt tragen muss, um irgendwo wieder ein Feuer zu entzünden, das bis in das Wohnzimmer zu Hause reicht. Sie redete mit den Leuten, sagte, dass sie schöne Kleider trügen, dass ihre Gärten schön seien, dass die Vögel schön singen. Sie dachte sich Sätze aus, die die Leute verzauberten, weil sie sie nicht ganz verstanden, wohl aber spürten, dass sich Poesie darin verbirgt, obwohl sie es nicht so hätten benennen können. »Ich möchte die Wolken fangen, geht es dir auch so?«, antwortet sie an einem heißen Sommertag auf die Frage ihres Onkels, als Langeweile über dem Dorf lag. »Lass uns Regenschleier tragen«, flüstert sie ihrer Nachbarin zu, als eine Beerdigung am Haus vorbeizog. »Du bist die Tonleiter hinaufgestiegen und hast ganz oben getanzt«, sagt sie zu Alberta, ihrer Tante, die die hellste Stimme im Dorfchor hatte.

Die Leute wiederum riefen immer noch »Das Windlicht kommt«, wenn sie sie sahen, um so das Geschehene, das Verschwinden und nicht Wiederkommen, über das nicht geredet wird, weil niemand die Worte kannte, die dafür vorgesehen sind, zu überdecken mit Freude.

Aber je älter Maria F. wurde, je mehr sich die Brüste unter ihrem Pullover abzeichneten, desto öfter sagten die Leute: »Die Windlicht kommt.« Da hörte es auf, lustig zu sein.

Brombeerkind

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