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Was das soll? Frag nicht. Sie tut, was sie tut. Nimmt eine Prise Salz aus der Packung, die aufgerissen ist, das Papier ausgefranst, streut es über Gurken, Tomaten, Blätter, andere Blätter, holt die Schere aus einer Schublade, erschrickt, hält inne, und mit der Schere in der Hand dreht sie sich um, lauscht zur Tür – ist da wer?

Jemand? Niemand? Sie lauscht, horcht auf, horcht auf diese Verschiebungen im Raum, die zur fremden Anwesenheit gehören, und spürt doch nur sich: den lauten Herzschlag, das rasende Blut, den Pulsschlag im Kopf. Dieser Moment, in dem jemand unsichtbar die abgestandene Luft zum Schwingen bringt und da ist, da ist, größer ist als alles andere, riesig, das Zimmer ausfüllt, das hinter der Küche liegt, jeden Winkel bis unter die mit Stuck verzierte Decke – das ist der Moment, in dem sie die Kontrolle verliert. Das Ungewisse hat sie im Griff. Mit der Schere in der Hand.

Ist da jemand?

Eine Sekunde, einen noch kleineren Bruchteil als eine Sekunde lang ist sie ausgelöscht. Dann spürt sie die Angst, stützt sich mit der anderen Hand auf die Ablage, auf der noch die Zwiebelschalen liegen, wischt die Finger an der Schürze ab – sie trägt so eine altmodische mit Rüschen an den Trägern –, streicht sich über die Stirn, steckt eine Haarsträhne hinters Ohr, als hätte sie ihren Körper noch unter Kontrolle.

»Ist da jemand?«

Keine Antwort.

Sie macht einen Schritt zur Küchentür, zögert, lauscht, geht noch einen Schritt, noch einen. Dann, mutiger geworden, betritt sie das Zimmer hinter der Küche. Und sieht: niemanden.

Das Fenster zum Balkon steht offen, der Vorhang bewegt sich leicht im Wind. Sie durchquert den Raum, vorsichtig greift sie nach dem Griff der anderen Tür, der zum Flur, und dann passiert es (denn so weit ist sie schon gekommen, jetzt will sie wieder Gestalt annehmen, niemand soll sie auslöschen): Sie reißt die Tür auf. Nichts.

Doch so einfach ist das nicht. Wovor sie Angst hat, das ist noch unsagbar. Sie hat diese Mauer um sich aus dunklen Gedanken. Niemand hat sie eingerissen, ist eingebrochen, durch­gedrungen bis zu ihr. Gelingt es jemandem, ist sie verloren. Noch will sie nicht erkannt sein.

Sie geht zurück ins Zimmer, sie spürt die Kopfschmerzen wieder, die sie schon vorher plagten, wendet sich der Balkontür zu, schiebt langsam, zu langsam, den langen weißen Vorhang zur Seite, niemand dahinter.

Sie schaut vom zweiten Stock, in dem sie wohnt, hinunter auf die Straße. Der Blick auf die oberen Etagen der Häuser auf der anderen Seite verstellt vom Blattwerk der Bäume, die in der Mitte stehen.

Noch einmal ist sie davongekommen. Sie atmet auf.

Da sieht sie die vier Mädchen, die in diesem Augenblick um die Ecke kommen, rauchend. Sie hatte gehofft, dass sie da sind, hat sie gesucht an allen Ecken der Straße. Sind sie da, kann sie sich an ihnen festhalten. Die eine von ihnen, die links, die Grünäugige, ist ihr die Liebste. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese jetzt der in der Mitte in die Rippen pufft, irritiert die Frau am Fenster und fasziniert sie doch, denn die fast schon erwachsene Autorität, die die Grünäugige ausstrahlt, ist stark. Die Mädchen kichern. Sie sind von der Schule drüben um die Ecke; sie treiben sich oft in der Straße herum. Es ist eine Mädchenstraße.

Zwei Querstraßen weiter, dort, wo auch die Gitter sind, die den Bolzplatz einzäunen, treffen sich dagegen die Jungen ganze Nachmittage lang. Ganze Abende, Nächte. Sie hat das beobachtet, wie sie auch ihre eigene Angst und also ihre eigene Vergangenheit beobachtet und dabei niederkämpft, da sie, ließe sie die Vergangenheit zu, doch mit jeder Faser ihres Körpers spüren würde, dass sie ihr Kind vermisst.

Die Frau, die eben noch außer sich war, geht zurück in die Küche. Jetzt schämt sie sich, dass es wieder über sie gekommen ist. Aber Scham ist sinnlos. Niemand ist da. Und es Scham zu nennen, wozu? Vielmehr, das wird jetzt klar, ist ihr Gefühl, das sie aufschrecken ließ, eins der Erwartung. Sie erwartet, dass etwas geschieht. »Ich wollte mich schälen wie eine Zwiebel«, sagt sie in die Küche hinein und erschrickt ob ihrer eigenen Stimme. Erst jetzt merkt sie, dass sie die Schere noch immer fest in der Hand hält, ihre Knöchel ganz weiß.

Wo sie nun wieder in der Küche ist, stockt der Fortgang der Geschichte, denn so eine soll es sein; aufgeschrieben in dieser harten Sprache, in der es »Stacheldraht« heißt, hart, präzise, kalt. Nicht »stachliger Draht« als wäre es ein Tausendfüßler, ein Schlangenkaktus, eine Brombeerrute.

Nein, Stacheldraht. Sie sieht ihn vor sich. Es ist die Sprache, die für Verordnungen taugt, sie hat das erfahren, mit Maßnahmen, Stundenplänen, Regeln. Eine Zeit lang hat das Vorgegebene sie zusammengehalten, sonst hätte sie sich aufgelöst.

Aber ach, das Andere gibt es auch. Dass die Sprache keine Grenzen setzt, dass sie Fenster öffnet, weil man sich Zeug ausdenken kann, einfach so: Unterwasserschrank, Göttermilch, Luftröhrenweste, verrauchte Zwergenangst. Wörter, die verzaubern, bevor diejenigen, die sie lesen, sich schulterzuckend abwenden, weil die Wörter wie Träume sind. Gäbe es diese Wildheit in der Sprache nicht, wären die Leute Gefangene ihrer eigenen Sätze. Sie weiß das, denn bevor sie diese Mauer um sich gebaut hat, hat sie sich festgehalten am Unmöglichen, hat die Farben der Sehnsuchtsquallen besungen, bei Gewittern Schutz unter Schmerz­bäumen gesucht und vom karamellisierten Herzwasser getrunken. Sie war Sängerin, eine, die Lieder schreibt. Jetzt aber hat sie Angst vor dem Sprechen. Und vor dem Singen erst recht.

Also Angst.

Auch die Mädchen da unten auf der Straße vor ihrem Balkon kennen Angst, selbst wenn sie furchtlos tun. Die Frau hat, wenn sie langsam die Mädchenstraße entlanggeht und die Teen­ager beobachtet, wie diese sich nach der Schule hier herumtreiben – wohl wegen der Bank, die zwischen den Bäumen in der Mitte der Straße steht, fast eine Allee also –, auch die Angst im Blick der Mädchen gesehen. Und ihre Verlorenheit. Aber ihre Hoffnung, dass Großes geschehen wird, ist größer.

Eben noch für einen Moment ausgelöscht, stiehlt sich diese Frau nun doch wieder in die zukünftigen Leben anderer hinein, in die dieser jungen Mädchen da auf der Straße, um sich vor ihrem eigenen zu verstecken. Sie weiß, dass das feige ist, schilt sich auch einen Feigling, jetzt, wo sich ihre Furcht auflöst und ihr gestocktes, gefrorenes Blut nicht in Würfel geschnitten serviert wird.

Obwohl diese Frau, Maria F. soll sie heißen, in der Togostraße in Berlin soll sie wohnen, also die Hauptrolle spielt in diesem Zeug, das da aufgeschrieben wird, findet sie nun, dass die Geschichte eines der Mädchen von unten von der Straße – sie meint die Grünäugige, der sie manchmal sogar in einiger Distanz folgt – erzählt werden soll und nicht ihre eigene, die sie für ein paar Momente aus der Fassung gebracht hat.

Aus der Fassung?

Ja.

Sie schaut, als wäre es selbstverständlich, sich so von Worten leiten zu lassen, zur Decke, von der die Glühbirne hängt, zwischen Herd und Schrank, ohne Lampenschirm, weil sie in ihrem Leben, und das dachte sie auch früher schon, keinen Lampenschirm finden wird, der ihr gefällt, da Lampenschirme wie Kraken sind, wie Zumutungen in gefasstem Barock, wie monströse blinde Augen, wie Hüte aus einem längst vergangenen Sommer.

Sie ist jetzt froh, dass sie sich mit dem Gedanken an Lampenschirme ablenken kann. Denn eigentlich will sie, was sie zu sagen hat, einfach sagen, schmucklos wie diese Glühbirne. Nur kann sie es nicht einfach erzählen, weil sie das Ende noch gar nicht kennt.

Aber eines ist klar: Maria F. wird trotz ihrer eigenen Schwäche, die sie erfasste, als sie nach dem Zwiebel schälen zur Schere gegriffen hatte, kein Mitleid mit dem grünäugigen Mädchen haben, zumindest nicht mit Worten.

Brombeerkind

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