Читать книгу Mit schlechten Karten gut gespielt - Werner Hübner - Страница 7
Sich zurückhalten war wichtig
ОглавлениеDer Kriegsbeginn ist für mich mit dem Überfall polnischer Soldaten auf den Gleiwitzer Sender verbunden. Wie es sich damit wirklich verhielt, habe ich erst viel später erfahren. Was ich damals lediglich mitbekam, waren vielsagende Blicke, die sich die Erwachsenen zuwarfen, das Getuschel der Verwandten und der Nachbarn oder aber, wenn wir Kinder anwesend waren, für mich unverständliche Worte. Wenn der Nachwuchs oder sogar Fremde zuhören konnten, wurde nämlich bei uns immer Polnisch gesprochen.
Erinnern kann ich mich noch an das Brennen der Synagoge und an die geplünderten Geschäfte, in denen wir oft eingekauft haben. Noch immer habe ich das Bild einer Flammenwand vor Augen. Die sogenannte „Kristallnacht“ am 9. November 1938 wurde von den Erwachsenen totgeschwiegen. Was das alles zu bedeuten hatte, wusste ich nicht, dafür aber umso deutlicher, dass ich nicht fragen durfte. In meiner Familie wurde ganz einfach „Zurückhaltung“ verlangt. Meine Fragen hätten die Eltern nur sehr ärgerlich gemacht. Dabei wollte ich soviel wissen. Ich empfand großes Mitgefühl für das jüdische und polnische Volk. Es gab jedoch niemand, der mir meine Fragen hätte beantworten wollen.
Eines Tages wurde mein zucker- und nierenkranker Vater doch noch eingezogen. Er wurde zu einer Einheit in Maastricht abkommandiert. Es dauere aber nicht lange, und er kehrte wieder zurück. Als wehruntauglich eingestuft, musste er bei der Reichsbahn arbeiten. Von Hunger, Kälte und Luftangriffen hatten wir bis Januar 1945 noch nichts gespürt.
Dann hingegen veränderte sich unsere Welt. Der Januar war sehr kalt, es lag sehr viel Schnee. Auf der Straße sah ich einen nicht enden wollenden Zug von Elendsgestalten vorbeiziehen, angetrieben von Männern in Gefängniskleidung. Auch über diese Menschen wurde nicht gesprochen. Allerdings hörte ich aus dem Getuschel das Wort „Auschwitz“ heraus. Inzwischen hatte ich bereits gelernt, dass ich wie alle anderen wegschauen musste. Für mein Mitgefühl blieb auch hier kein Raum.
In meiner Familie waren materielle Dinge wichtig. Meine Mutter übernahm die Führungsrolle, mir gegenüber war sie auch immer sehr streng. Beispielsweise quälte ich als Backfisch meine Mutter mir zu erlauben, mir beim Friseur Dauerwellen legen zu lassen. Natürlich war alles Betteln vergeblich.
Einige Tage später musste ich mich abends warm anziehen. Meine dreijährige Schwester wurde dick eingepackt, und die ganze Familie lief zu einem großen Platz. Mutter hatte aus einem stabilen Stoff so etwas wie Rucksäcke genäht, die wir nun mitnahmen.
Bevor wir losgingen, hörte ich wie ein Gast zu meinem Vater sagte: „Das ist ja nicht zu fassen, dass Frauen und Kinder noch hier sind. Der Russe steht bereits kurz vor Gleiwitz, und Züge verkehren nicht mehr. Es fährt aber noch ein Bus in den Westen, bring Deine Familie zum Bus!“ Nach einer längeren Wartezeit kam dann tatsächlich ein Bus, der eigentlich nur für schwangere Frauen bestimmt war. Wir durften aber trotzdem einsteigen. Vater blieb zurück.
Der Bus fuhr bis Ratibor. Bei einer Tante, die Beamtin beim Fernmeldeamt war, konnten wir zwei, drei Tage bleiben, dann ging es weiter auf einem Pferdewagen bis Olmütz. Die Straße war voller Menschen, die sich mühsam mit ihrem Gepäck fortbewegten – und auch hier wieder ein bewachter Zug von Elendsgestalten. Ich sah, wie plötzlich zwei von ihnen aus der Gruppe ausscherten und auf ein freies Feld zuliefen. Dann krachten Schüsse. Einer der Männer fiel zu Boden.
In Olmütz wurden wir in einer Schule untergebracht, aber schon nach kurzer Zeit mussten wir weiter. An den nächsten Ort kann ich mich zwar nicht erinnern, jedoch höre ich meine Mutter noch sagen, wir müssten so schnell wie möglich hier weg, denn wenn der Krieg aus sei, gehe es den Deutschen hier schlecht.