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Kapitel I Mitten ins Herz A. D. 179, Juni

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Das weite Tal - und das Schlachtfeld, das es beinahe völlig bedeckte -, färbten sich durch die untergehende Sonne mit einem blutigen Rot, fast wie ein Spiegel dessen, was auf ihm in viel dunkleren Tönen lag.

Die wenigen überlebenden Soldaten und Krieger waren längst verschwunden, ihre verletzten Kameraden mit sich schleppend. Das Erdreich war zerwühlt von den Hufen der Streitrösser, von Kampfwagen und anderem Kriegsgerät. In den Vertiefungen sammelte sich das Blut beider Seiten. Dem Blut war nicht anzusehen, aus welchem Fleisch es stammte; es war das gleiche Rot, der gleiche Leben spendende Saft. Nun versickerte er im Ackerboden, der noch vor wenigen Stunden die niedrigen Halme der nächsten Ernte getragen hatte. Doch auf diesem Feld würde dieses Jahr kein Bauer mehr eine Frucht einfahren.

Die Einzigen, die bereits jetzt reiche Ernte hielten, waren die Krähen und Geier, die in großen Scharen gekommen waren, unmittelbar, nachdem der Kriegslärm verebbt war. Von den Vögeln war kein Gezeter oder Geschrei zu hören, nur das kurze Flattern der Flügel, wenn sie sich mit ungelenken niedrigen Hüpfern von einem Leichnam zum anderen bewegten. Das Angebot war zu groß, als dass sich ein Streit zwischen den Aasfressern hätte ergeben können. Außer den leichten Flügelschlägen waren nur leises Picken und Hacken vernehmbar. Aufmerksame Ohren hätten vielleicht noch das Geräusch zerreißenden Fleisches und den stumpfen Klang von auf Knochen treffender Schnäbel hören können.

Der Wind blies sacht, aber stetig und trug den Gestank der Überreste davon. Die Hitze des Tages steckte noch im Boden und würde die auf ihm liegenden Leichen rasch verwesen lassen. Es schien so, als wollte Mutter Erde die Katastrophe, die sich auf ihrer Oberfläche abgespielt hatte, so schnell wie möglich verschwinden lassen. Die Vögel bemühten sich, ihren Anteil dabei zu leisten.

Die Sieger würden zuerst ihre Toten holen kommen. Und diesen Kampf hatten die disziplinierten Römer für sich entschieden. Kaum, dass die Schlacht beendet war, hatte einer der Offiziere einen Reiter entsandt, um die in der Etappe wartenden Wagen herbeizurufen. Doch noch ratterten keine Räder heran.

Stattdessen tauchte ein mit einer Kapuze verhüllter Kopf hinter einem der Hügel auf. Schritt für Schritt erhob sich eine Gestalt, die sich scharf im roten Abendlicht gegen den Horizont abzeichnete. Als sie das ganze Tal überblicken konnte, blieb die Gestalt für einen sehr langen Moment wie erstarrt stehen. Erst ein tiefer, gequälter Atemzug weckte sie aus ihrer Regungslosigkeit. Als sie den Kopf hob, blitzten unter der Kapuze argwöhnisch funkelnde Augen auf. Erfüllt mit Hass, der wie kleine Flammen auf die Szene zu ihren Füßen loderte, als wollte sie sie gemeinsam mit der sinkenden Sonne in Brand setzen. Mit einem Ruck setzte sich die Gestalt wieder in Bewegung und eilte den Hang hinab.

Auch die Sonne schien in ihrem Lauf eine Pause eingelegt zu haben, und nun, als sich die Gestalt wieder bewegte, zog auch sie weiter und berührte endlich den fernen Waldrand.

Die Krähen und Geier stoben wie eine Flutwelle auseinander, als die hochgewachsene Gestalt sich ihnen näherte, und gaben protestierende Schreie und heiseres Krächzen von sich. Ledersohlen traten mit großen Schritten über Blutpfützen, ausgetretenes Sekret und stinkende Körper hinweg, ohne nur eine Sekunde innezuhalten. Mit Schwung warf die Figur eine Seite ihres Umhanges auf, als sie sich zu den Überresten eines Kriegers niederbeugte, der neben einem römischen Soldaten lag. Ein muskulöser Arm wurde sichtbar, der nach dem Toten griff. Das rechte Knie der Gestalt versank tief im blutigen Morast, doch es schien sie nicht zu stören. Die Abendsonne sank hinter die Hügel und nahm mit dem letzten Tageslicht auch das Geheimnis mit sich, was der Mann dort tat. Was es auch sein mochte, es dauerte nicht lange. Dann erhob er sich, machte ein paar Schritte und kniete sich neben dem nächsten Toten nieder.

Lucia und ihre Leibsklavin Inga erreichten im Schutz der Dämmerung das Schlachtfeld. Die beiden Frauen saßen im ersten Wagen der Kolonne römischer Heiler, gefolgt von annähernd fünfzig männlichen und weiblichen Sklaven zu Fuß. Einige der Wagen hatten ein Dach und Seitenwände, die meisten jedoch waren einfache Karren, die für den Transport von Waren aller Art gedacht waren. Kaum hatten sie den Rand des Schlachtfeldes erreicht, verteilten sich die Sklaven stumm zwischen den reglosen Körpern. Die Ankunft der Sklaven vertrieb die Aasfresser in der Nähe und verwandelte die Vögel, die nun ihren reich gedeckten Tisch verloren, zu übellaunigen Tieren, die sich mit ihren Nachbarn zu streiten begannen. Einige der Sklaven schwärmten aus und jagten die Vögel mit Rufen und drohendem Schwingen einfacher Stangen mit daran befestigten Stofffetzen immer weiter davon.

Die Sklavin trug eine Tunika wie ihre Herrin, jedoch ohne Verzierungen. Der Stoff umspielte ihre vollen, weiblichen Formen und ließ nur wenig von ihrer Haut erkennen. Das blonde Haar wies sie als Germanin aus, die starken Muskeln und der Knochenbau unterstrichen die körperliche Robustheit. Ihr Gesicht strahlte die gleiche Helligkeit aus wie ihre Haut und wäre sie vor Jahren auf einem Sklavenmarkt verkauft worden, anstatt als Kriegsbeute in den Haushalt Lucias zu geraten, hätte sie sicher einen guten Preis gebracht.

Die Römerin schob eine lange Strähne ihres schwarzen, lockigen Haares unter das lederne Stirnband, das sie trug. Nur mühsam konnte der schmale Streifen die Fülle ihres Haares bändigen. Ihre Augen funkelten im dunklen Braun einer Sizilianerin, die Nase war fein geschwungen, die Lippen breit und voll. Ihr Teint zeigte das helle Braun von leicht geröstetem Brot. Ihre blütenweiße Palla stand im starken Kontrast zum warmen Ton ihrer Haut.

Inga spähte aus dem Fenster des Wagens auf die anderen Sklaven. Ihre Augen waren zwar vor Schreck geweitet, doch dies änderte nichts an ihrer Entschlossenheit, ihrer Herrin und Freundin auch dieses Mal zur Seite zu stehen. Zu oft hatten sie beide diese selbst auferlegte Aufgabe schon erfüllt. Es war nicht nötig, ihr dafür einen Befehl zu erteilen. Die kleine Gruppe der Heiler, welche die Kolonne, bestehend aus einem Dutzend flacher, vierrädriger Gespanne, begleitete, stieg dagegen ohne Eile von den Wagen.

Mit gerunzelter Stirn verfolgte die Sklavin die lustlosen Bewegungen der Männer. Sie sah ihnen an, dass sie nur eine lästige Pflicht erfüllten, auferlegt durch den Garnisonskommandeur. Sie verachtete die Heiler für ihr offenkundiges Desinteresse, war es doch nach ihrem Verständnis eben deren Hauptaufgabe, Menschen zu helfen. Inga wusste, dass die Heiler viel lieber im Kastell geblieben wären, das wenige römische Meilen südlich lag, keine Stunde zu Pferd hinter dem Hadrianswall, gesichert durch Soldaten und ausgestattet mit Zelten, in denen sie den Verletzten wirkliche Hilfe hätten leisten können. Hier, mitten im Dreck, fürchterlichem Gestank und einfallender Nacht, fühlten sie sich anscheinend fehl am Platz. Nur widerwillig folgten sie den Sklaven und warfen hin und wieder einen gelangweilten Blick auf die toten Legionäre, die auf die Wagen gestapelt wurden. Nicht, dass sie kein Gefühl für ihre Landsleute empfunden hätten, das schon, wie Inga sehr wohl wusste. Aber sie hatten schon viel zu viele tote Männer gesehen, als dass sie dieser Anblick noch wie zu Beginn ihrer Dienstzeit auf dieser Insel schocken konnte.

»Halt an!«, befahl Lucia dem Mann an den Zügeln mit leiser, aber befehlsgewohnter Stimme. Ihre Freundin sprang als Erste aus dem Wagen. Wortlos hielt sie Lucia ihre Hand hin und half ihr herunter.

Ihre Herrin hielt kurz inne und legte ihre zarte Hand auf die Schulter der Germanin. Nicht um Schutz zu suchen, sondern weil sie, wie bei jeder dieser Gelegenheiten, um Fassung rang.

Seite an Seite mit Lucia huschte Inga von Mann zu Mann, achtete nicht darauf, dass der Saum ihrer Tunika durch Blut und Schlamm schleifte, und suchte verzweifelt nach Überlebenden. Oft mussten sie die Körper der Männer berühren und umdrehen, denn Verletzte lagen mitunter verdeckt unter ihren toten Kameraden oder waren manchmal in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Leider viel zu selten, wie Inga fand. Sie beobachtete, wie behutsam ihre Herrin dabei vorging, wunderte sich aber schon lange nicht mehr darüber. Schon früher hatte sie – trotz gegenteiliger Vorhersage der Heiler – einigen Soldaten in letzter Minute das Leben retten können. Die Männer ihres Vaters liebten sie dafür und behandelten sie wie eine Mischung aus Göttin und Jungfrau. Viele – allen voran Trebius Servantus, die rechte Hand ihres Vaters – hatten schon um sie geworben und dies nicht nur aufgrund ihrer Barmherzigkeit, sondern auch wegen ihrer Schönheit. Die Germanin, die sie nicht zum ersten Mal auf ihrer Suche zwischen den Verstümmelten und Toten begleitete und wusste, dass Lucia einem heftigen, inneren Bedürfnis folgte, hätte ihre Herrin am liebsten sofort wieder in den Wagen gesetzt. Während sich ihre Hände von Blut und Schmutz dunkel färbten, warf sie einen Blick auf Lucia, die mit verdreckter Palla und hoffnungsvollem Blick durch die dichten Reihen der Gefallenen huschte und in ihrer Besorgnis und Verzweiflung nur noch schöner aussah. Inga war stets zugegen gewesen, wenn der eine oder andere Offizier ihres Vaters versucht hatte, Lucia davon abzuhalten. Allen voran ihr Vater selbst: Magnus Lucius, Praefectus Castrorum des Kastells hinter dem Wall. Doch seine Tochter – mit sturem Ausdruck im Gesicht und unbewusst die Beine in die Grundstellung für einen Kampf gestellt – gewann jede Diskussion mit dem Argument, dass sie nachweislich siebzehn Legionären das Leben gerettet hatte. Seit dem ersten Geretteten hatte sich die kleine, aber wachsende Schar dieser Männer zu einer informellen Leibgarde gebildet, von der auch jetzt zwei in Sichtweite auf sie achteten, obwohl sie außer Dienst standen. Es hätten weit mehr Männer zu ihrer Begleitung bereitgestanden, doch ihre Kommandeure hielten die Schwärmerei für Lucia für übertrieben und ungerecht, wie Inga aus dem Küchengeschwätz erfahren hatte.

Lucia hob den Kopf. Ein feuchtes Schimmern in ihren Augen verriet Inga, dass ihre Herrin in dieser Nacht wieder viele Tränen vergießen würde. Gleichermaßen für Freund und Feind. Auch dieser Punkt gab stets Anlass zu hitzigen Auseinandersetzungen zwischen ihr, ihrem Vater und Centurio Servantus, seinem engsten Vertrauten. Doch auch hier gewann die junge Frau jedes Mal. Zum einen, da sie noch nie einen überlebenden Feind gefunden und somit vor dem Problem gestanden hatte, sich auch um ihn kümmern zu wollen. Zum anderen, weil Servantus Interesse an ihr zeigte und sich die vagen Chancen, die er sich bei ihr erhoffte, nicht durch Kritik zerstören wollte. Wenn die beiden Frauen allein waren, kicherten sie oft über Servantus’ vergebliche Versuche, Lucia näher zu kommen. Sicher, er war ein stattlicher Mann und bei allen geachtet. Doch genauso sicher war sich Inga, dass er in keiner Weise dem Bild entsprach, das sich ihre Herrin von ihrem zukünftigen Ehemann machte.

Plötzlich hob Lucia erneut den Kopf und starrte in das letzte dunkelrote Schimmern der Dämmerung.

»Was ist, Herrin?«, fragte Inga leise und wusste selbst nicht, warum sie dabei beinahe flüsterte.

»Ich dachte, da hätte sich jemand bewegt … es war wohl nur eine Krähe«, murmelte ihre Freundin, blickte aber weiterhin ins Halbdunkel.

Inga folgte ihrer Blickrichtung und spähte angestrengt in die rasch hereinbrechende Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Sie sah nur den Schemen eines satt gefressenen Geiers, der sein Festmahl beendet hatte und zum Himmel aufstieg.

»Herrin, meinst du nicht auch, dass es langsam zu dunkel wird?«

»Ja, du hast Recht.«

Mit einem Kopfnicken erteilte Lucia den Sklaven die Erlaubnis, Fackeln zu entzünden. Inga kniff die Augen zusammen und fixierte gemeinsam mit Lucia die Stelle, von der der Vogel aufgeflogen war.

Im Schein der unsteten Lichter schälte sich in einiger Entfernung ein großer, heller Haufen aus der Dunkelheit, der ihr seltsam vorkam. Lucia reckte den Hals, versuchte sichtlich, deutlicher zu sehen, und öffnete schon den Mund, um nach einer weiteren Fackel zu rufen, als der Haufen sich plötzlich bewegte.

Dann erstarrte sie und riss entsetzt die Augen auf. Inga griff nach ihrer Hand. Der Haufen entpuppte sich als ein Mann, denn starke Arme ragten unter einem ehemals hellen Gewand hervor, das jetzt ziemlich verdreckt war. Nur noch der Rücken zeigte das fahle Weiß einer grob gewebten wollenen Kutte. Doch es schien den Mann genauso wenig zu stören wie der Schmutz an ihren eigenen Kleidern. Mit ruhiger, fast zögernder Geste griff er mit beiden Händen nach seiner Kapuze und schob sie nach hinten. Beide Frauen keuchten auf, als sie das glühende Feuer des Hasses in seinen Augen lodern sahen, während der Blick des Fremden auf ihre römische Kleidung fiel. Beide glaubten sie unabhängig voneinander, in diesen Augen tatsächlich kleine Flämmchen züngeln zu sehen. Inga schüttelte den Kopf, um dieses Trugbild loszuwerden.

Kein normaler Mensch hat Feuer in den Augen.

Der Mann schob fast trotzig sein Kinn vor. Sein Blick, der sie nun ungehindert erreichte, brannte sich in Lucias von Tränen erfüllte Augen.

Auf einmal erlosch der Hass in seinem Blick, doch das Feuer blieb. Inga hörte ihre Herrin nach Luft schnappen und begriff plötzlich. Dieser Mann war erfüllt von einer Leidenschaft, die alles versengen konnte, was er als feindlich einstufte. Doch mit jeder Sekunde, in der sein zwingender Blick sie selbst und ganz besonders Lucia bannte, nahm das gefährliche Funkeln in seinen Augen ab.

Inga bemerkte, dass ihre Herrin ganz still neben ihr kauerte. Ein eiskalter Schauder lief ihr über den Rücken, sodass sie sich ganz nah zu Lucia bewegte, bis sich ihre Schultern berührten. Für den Bruchteil einer Sekunde ruhte der Blick des Mannes noch auf Inga. Dann schweiften seine Augen über die am Rande des Fackelscheins wartenden Leibwächter der Frauen, die ihn offensichtlich noch nicht wahrgenommen hatten.

»Druide!«, flüsterte sie und ein Schauer wie von Eisregen lief erneut über ihre Haut.

Der Mann im verschmutzten Umhang schien trotzdem das Wort vernommen zu haben, richtete von Neuem seinen durchbohrenden Blick nur einen Wimpernschlag lang auf die Sklavin und wandte sich sofort wieder Lucia zu.

Lucia kniete vor einem Gefallenen, dessen sichtbare Haut über und über mit blauen Tätowierungen bedeckt war. Sie war mitten in der Bewegung erstarrt, ihm seine langen Haare aus dem Gesicht zu streichen und seine offen liegende Kehle mit zwei Fingern zu berühren.

Der Druide beobachtete die barmherzige Geste und nickte ihr stumm zu, dann erhob er sich in einer fließenden Bewegung und verschwand im Dunkel der Nacht.

Lucias Anspannung löste sich. Sie holte tief Luft und wandte sich ihrer Begleiterin zu.

»Druide, sagst du?«

Inga glaubte für einen Moment, die Augen des Druiden weiterhin in der Dunkelheit leuchten zu sehen. Es verursachte ihr ein Kribbeln auf der Haut. Vorsichtig erhob sie sich.

»Ja, Herrin, ein Gelehrter, ein Heiler.« Sie zögerte kurz. »Und ein Picte.«

Lucia versagte ihr eine unmittelbare Antwort. Stattdessen drehte sie sich zum Licht der näher kommenden Fackeln und trat an den nächsten Körper heran. Erst als sie sich wieder niederkniete und Inga ihrem Beispiel folgte, kam die Antwort.

»Aber er hat versucht zu helfen. Was sollte er sonst hier wollen?« Sie blickte zu Boden und erkannte, dass dieser Mann tot war. Sein Haar hatte die Stichwunde im Nacken verdeckt gehabt.

»Ich weiß es nicht, Herrin«, entgegnete sie leise und nahm ebenfalls ihre Suche nach Verletzten wieder auf.

So arbeiteten sie sich langsam durch die Reihen der Gefallenen. Je näher sie dem Zentrum des Kampfplatzes kamen, desto schrecklicher wurden die Wunden, welche die Gegner sich zugefügt hatten. Gerade knieten sie wieder neben einem Toten, wieder von den Fackeln ein gutes Stück entfernt, als Inga erneut in einigem Abstand die weiße Kutte entdeckte. Der Mann kauerte am Boden. Die Germanin hörte auf, an der Brust eines Gefallenen nach einem Herzschlag zu suchen, und beobachtete atemlos den Mann, der abermals unter seinem Umhang hantierte und sich dann tief zu einem der Getöteten herunterbeugte.

»Was tut er da?«, flüsterte Lucia, die ihrem Blick gefolgt war. Ihre Worte waren kaum mehr als ein Hauchen.

Inga kniff die Lider zusammen und hielt beide Hände als Schutz gegen das Licht der Fackeln seitlich an ihre Schläfen. »Ich glaube … er spricht mit dem Toten.« Ihre Worte waren nur eine Spur lauter als die ihrer Herrin, doch es genügte.

Sein Kopf ruckte herum und wieder stach ein drohendes Leuchten unter der Kapuze hervor, bevor sein Blick über ihre Gesichter wanderte und das Glühen seiner Augen langsam abnahm. Wieder nickte er und Inga hatte den Eindruck, dass diese kurze Bewegung alles ausdrückte: Seine Anerkennung ihrer Hilfsbereitschaft und vor allem der Umstand, dass er in ihnen keine Feinde oder eine Bedrohung sah. Inga wagte nicht, sich vorzustellen, wie er wohl reagiert hätte, fiele seine Beurteilung über sie anders aus.

Sie verfolgte, wie er rasch den Verschluss wieder auf die Öffnung des kleinen Weinschlauches setzte, aus dem er der liegenden Gestalt zu trinken gegeben zu haben schien.

»Er hat einen Verletzten gefunden«, hauchte Inga. Freude und Unbehagen rangen in ihrem Herzen. Ihre Herrin nickte ihr zu. Gerade als Inga sich erheben und den Fremden ansprechen wollte, sprach er unverständliche Worte in das Ohr des toten Kriegers vor ihm, sprang dann auf und verschwand erneut in der Finsternis.

Als Inga erkannte, dass in der Römerin nun endgültig die Neugier erwacht war und sie dem Druiden nachschlich, erbleichte sie und rappelte sich auf. Mit eiligen Schritten stapfte sie durch den Morast.

»Herrin, was tust du? Folge ihm nicht, ich bitte dich.« Bevor sie weitersprechen konnte, drehte sich die junge Römerin zu ihr um und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Ohne auf eine Entgegnung zu warten, nahm sie die Verfolgung des Fremden auf. Inga verfluchte ihre Herrin und sich in Gedanken, folgte ihr aber mit – so hoffte sie zumindest – leisen Schritten. Nach wenigen Minuten gelangten sie an den gegenüberliegenden Rand des Schlachtfeldes. Auf der anderen Seite, halb verborgen durch Nacht und unsteten Fackelschein, warteten ihre Wagen. Die beiden Leibwächter beobachteten die Frauen, bewegten sich aber nur verhalten, da sie ohnehin mit keiner Gefahr rechneten. Den Mann hatten sie nicht wahrgenommen.

Für einen Moment schoss Inga der Gedanke durch den Kopf, dass sie bei aller Fürsorglichkeit scheinbar doch keine so guten Leibwachen für die Frauen darstellten, und verzog missmutig den Mund.

Der Wind hatte an Stärke zugenommen und die Wolken passierten im raschen Wechsel den Mond, der sich bleich am Himmel zeigte. Noch nicht ganz voll spendete er dennoch genügend Licht, um Einzelheiten erkennen zu können.

Die Sklavin warf sich zu Boden und zog Lucia mit sich. Hier, am Rand des Gemetzels, lagen die Leichen weit verstreut und auch das Gras war an manchen Stellen unversehrt. Die niedrigen Halme des Feldes – oder zumindest das, was davon übrig geblieben war – lagen weit hinter ihnen. Die Krähen und Geier wirkten in der Dunkelheit wie böse Schatten, die sich zu den aufsteigenden Seelen der Gefallenen gesellten. Mancher Vogel erhob sich satt und träge und flatterte in die Nacht.

Inga hatte den Druiden im schwachen Licht des Mondes nur entdeckt, weil der saubere Teil seines Umhanges einen hellen Fleck inmitten der Düsternis erzeugte. Wieder war er über einen Körper geduckt. Lucia und Inga strengten ihre Augen an, doch ziehende Wolken schoben sich ausgerechnet jetzt vor das Antlitz des Mondes. Ungeduldig wartete Inga, bis eine größere Wolkenlücke am Himmel entstand und sie die Szene wieder beobachten konnten.

Der Druide hatte seinen Umhang zurückgeschlagen und seine in Leder gekleideten Beine waren zu sehen. Mit seiner linken Hand hielt er den dicht tätowierten Kopf des Liegenden ein wenig in die Höhe. In seiner Rechten hielt er einen im Mondlicht glänzenden Gegenstand.

Die Germanin erkannte trotz der schlechten Lichtverhältnisse sofort die kurze Klinge.

»Was will er mit dem Messer?«, flüsterte Lucia und sah gebannt in die Nacht.

»Herrin …«, hauchte Inga dicht bei ihr und wollte Lucia auf ein weiteres Paar glühender Augen in der Dunkelheit hinweisen. Dieses Augenpaar befand sich nur einen Steinwurf weit von dem Druiden entfernt und Inga schien es, als seien sie ein wenig schräg gestellt und schwebten etwa in Hüfthöhe über dem Boden in der Dunkelheit. Doch Lucias gebieterische Geste zwang sie zum Schweigen.

Wieder hatte es den Anschein, als spräche der Druide leise auf den am Boden Liegenden ein, dieses Mal jedoch in eindringlichem Ton. Und obwohl Inga zu weit entfernt war, um auch nur eines der Wörter verstehen zu können, hatte sie trotzdem den Eindruck, dass die Worte von Traurigkeit und Bedauern durchdrungen waren. In Lucias Augen las sie, dass es ihr genauso ging. Plötzlich öffnete der scheinbar tödlich Verletzte seine Augen und seinen Mund, doch mehr als ein gequältes Stöhnen brachte er nicht mehr hervor.

Der Druide hob sein Gesicht zum Mond und stieß ebenfalls einen unterdrückten Laut größter Qual aus. Das zweite Augenpaar verschwand. Aus der gleichen Richtung erklang das leise Jaulen eines Wolfes. Dann rammte der Druide mit einem plötzlichen Ruck die Spitze seiner Klinge direkt ins Herz des vor ihm Liegenden.

Inga erstarrte vor Entsetzen und hielt sich die Hände vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, den sie beinahe ausgestoßen hätte. Lucia klammerte sich an Ingas Hand. Im Mondlicht sah Inga frische Tränen auf Lucias Wangen. Auch Ingas Augen entströmten Tränen. Aber sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Mit verschleiertem Blick beobachtete sie, wie der Druide nun den Kopf des Mannes, dem er gerade den Gnadenstoß gegeben hatte, behutsam zu Boden gleiten ließ und die Klinge in seiner Hand gegen den Weinschlauch eintauschte. Er löste den Korken vom Hals und setzte ihn an die Lippen des Toten. Der Schlauch schien nun fast leer zu sein und Inga sah zu, wie der Mörder die letzten Tropfen sorgfältig in den Mund des Erdolchten träufelte. Dann verschloss er den Schlauch hastig und raunte weitere Worte, die Stirn gegen den Kopf des Toten gedrückt, in ein Ohr des Toten. Ohne einen weiteren Blick auf den Gefallenen zu verschwenden, stand er auf, raffte seinen Umhang dicht um sich und war mit wenigen Schritten endgültig in die Finsternis eingetaucht.

Inga schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Der Druide war genau in die Richtung gegangen, aus welcher der Wolf gerufen hatte. Aber sie verzichtete darauf, ihrer Herrin davon zu erzählen, denn sie konnte sich nicht vorstellen, was ein Wolf mit einem Druiden zu schaffen haben könnte.

Druide der Spiegelkrieger

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