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Kapitel II Die grauen Finger des Todes A. D. 167, Mai

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Túan duckte sich, als das Reh auf der Lichtung erschien. Er versuchte, so flach wie möglich zu atmen, was ihm nicht leichtfiel, schließlich hatte er gerade erst eine lange Strecke im Dauerlauf zurückgelegt. Sein Dorf lag einige römische Meilen von diesem Teil des Waldes entfernt. Doch hier gab es ein paar Stellen, an denen die besten Pilze wuchsen. Seinen Eltern hatte Túan nie erzählt, woher er die großen und schön gewachsenen Pilze hatte, denn sie hätten sein Geheimnis jedem im Dorf offenbart. Nicht lange, und andere Jungen und Mädchen wären dort aufgetaucht und die Ausbeute hätte sich auf viele Münder verteilt. Túan war ja bereit, seine Habe mit anderen zu teilen, und verschenkte stets einen Teil seiner Pilze an andere Familien. Doch er befürchtete, dass zu viele Füße das unterirdische Geflecht der Pilzgewächse zerstören würden und bald niemand mehr etwas seiner kargen Kost hätte hinzufügen können. Zu oft hatte er beobachtet, wie dumm und gedankenlos manche Menschen mit den Früchten und Tieren in den Wäldern umgingen.

Aber bis zu dem Tag, an dem in Breith wieder die Pilze wuchsen, war es noch lang. Túan hoffte, heute einen Hasen oder anderes Kleinwild zu erlegen und seinen Eltern bei der Heimkehr stolz zu präsentieren.

Manchmal, wenn er Stunde um Stunde im Wald umherstreifte, meinte er, ein Flüstern zu hören, das weder von bewegten Blättern noch von Tieren herrührte, geschweige denn von anderen Menschen. Dann legte er sich flach auf den Boden, schloss die Augen und sog tief den Geruch der Moose und Flechten ein. In den ersten Minuten identifizierte er alle Geräusche, die er kannte, und schob sie in eine Ecke seines Geistes. Danach dachte er über neue, zunächst unbekannte Laute nach, die an seine Ohren drangen, und konnte sie nach einer Weile fast immer ebenfalls einem Tier oder einer Pflanze zuordnen. Gräser erzeugten im Wind ein anderes Geräusch als eine alte, ächzende Eiche. Das Knarren dünner Äste unterschied sich vom Brechen morschen Holzes, wenn ein Tier darauf trat oder die Pflanze dem Druck einer kräftigen Böe nachgeben musste. Was dann übrig blieb, faszinierte ihn immer wieder. Im Laufe der Jahre hatte Túan sich an die Vorstellung gewöhnt, dass Avnova persönlich zu ihm sprach. Auch wenn er ihre Worte nicht verstand, war er sich sicher, dass er – im Gegensatz zu anderen Jungen – zu einer besonderen Verbundenheit mit ihr fähig war, die ihm Einblicke ermöglichte, die anderen verwehrt blieben. Und Schutz. Ja, er fühlte sich im Wald völlig sicher. Kein Tier, kein noch so dunkler Hain vermochte ihm Angst einzuflößen.

Einmal hatte er zaghaft versucht, seinen Eltern – Bril, seinem Vater, und Rurayleigh, seiner Mutter – diese Dinge zu erklären. Doch schon bei den ersten Worten, die andeuteten, dass er mit seinen feinen Sinnen den Wald ganz in sich aufnahm, hatten sie völlig verständnislos reagiert und ihn angeherrscht, er solle sich im Wald doch mit nützlicheren Dingen wie etwa Holz- und Früchtesammeln begnügen. Ein späterer Versuch beim Dorfältesten endete mit dem, wie Túan fand, wenig einfühlsamen Rat, er möge einen Weisen und Heiler aufsuchen und sich auf Krankheiten untersuchen lassen.

Túan war nie mit dem zufrieden, was man ihm als Antwort auf seine vielen Fragen gab. Immer fragte er noch einmal nach und ließ nicht locker, wenn er glaubte, da wäre noch mehr Wissen verborgen als das, was man ihm anvertraute. Oft wandten sich die Befragten aufgrund seiner Hartnäckigkeit von ihm ab und gingen kopfschüttelnd wieder ihren eigenen Beschäftigungen nach.

Er hatte Geschichten gehört von Stämmen, deren Bewohner verhungert waren, da sie gnadenlos alles gejagt hatten, was ihnen vor die Pfeile und Speere kam und zu stolz waren, im fruchtbaren Boden Breiths Getreide, Gemüse und Früchte anzubauen. Túan seinerseits war stolz darauf, dass zumindest ein Großteil seines Stammes nicht zu dieser Art von Menschen zählte. Trotz allem würde er seine besten Sammelplätze niemandem verraten, selbst seinen Eltern nicht. Und so hatte Túan es sich zur Angewohnheit gemacht, sein Dorf jedes Mal in einer anderen Richtung im raschen Lauf zu verlassen. Wenn ihm Kinder folgten, konnte keins von ihnen mit seinem Tempo mithalten. Aus sicherer Entfernung grinste und winkte er den Verfolgern zu und schlug danach im Wald mehrere Haken, bis er die Richtung zu seinen Pilzstellen einschlug.

Jetzt aber schaute Túan entzückt auf das Reh am Rand der Lichtung. Die Eleganz und die Anmut des Tieres fügten sich perfekt in das Bild des dichten Waldes um ihn herum, sodass er stumm den Göttern dankte, die dies alles geschaffen hatten. Manchen seiner Altersgenossen machte der Wald Angst: seine starken Bäume, die dichten Sträucher, die wilden Tiere und die vielen Laute. Für Túan mac Ruith, jüngsten Spross aus dem Clan der mac Ruith, war der Wald jedoch eine Heimstätte, ein sicheres Gebiet, ein Quell des Lebens. Er verbrachte so viel Zeit im Wald, dass er sich – wäre nicht sein freundliches Gemüt gewesen – endgültig zum Außenseiter gemacht hätte. Manche nannten ihn schon den Waldjungen, andere begrüßten seine Verbundenheit und nahmen dankbar die Dinge an, die er ihnen lächelnd überließ.

Das Reh war nicht besonders groß, zwar kein Kitz mehr, doch auch noch nicht erwachsen. Viele der Jäger hatten in schlechten Zeiten selbst solche kleinen Rehe gejagt. Túan hätte dies nie getan. Wenn er schon ein Leben auslöschen musste, um sich und seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, so sollte es ein großes Tier sein, dessen Fleisch lange reichen würde und das vorher ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, um sich zu vermehren. Als Túan aber mit Gleichaltrigen darüber gesprochen hatte, hatten sie ihn nur verständnislos angeblinzelt und sich mit einer Mischung aus unsicherem und abfälligem Lachen abgewandt. Erwachsene oder gar die Jäger darauf anzusprechen, hatte er nicht mehr gewagt.

Sein Atem hatte sich mittlerweile beruhigt. Das junge Reh hatte begonnen, an den frischen Trieben der Baumschösslinge zu knabbern. Es wedelte mit den Ohren und dem kurzen Schwanz, um lästige Insekten zu vertreiben, die summend die Luft bevölkerten. Túan wurde von ihnen ebenfalls umschwärmt, doch er schwitzte nicht, obwohl er lange gerannt war. Heute war zwar ein heller Sonnentag, doch die Luft war kalt. Wenn der Wind drehte, konnte man das Salz darin riechen, das vom Meer her ins Land getragen wurde.

Plötzlich hob das Reh den Kopf und schnupperte. Túan tat es ihm automatisch nach und roch im gleichen Augenblick den Rauch. Und in derselben Sekunde kroch ihm ein zweiter, hässlicher Geruch in die Nase. Süßlich, ekelhaft und alles durchdringend. Auch wenn Túan nur zwölf Sommer zählte, so kannte er doch den Gestank brennenden Fleisches. Und dieses Fleisch war kein erlegtes Wild, das am Spieß briet.

Plötzlich schienen ihn die schweren Stämme der Bäume zu erdrücken und sich als unsichtbare Gewichte auf seine Brust und sein Herz zu senken. Mit raschen Schritten trat er auf die kleine Lichtung und ignorierte das Reh, das erschrocken einen Satz ins Dickicht machte und mit hastigen Sprüngen verschwand. Túan suchte den Himmel ab und entdeckte mehrere ferne, dünne Rauchsäulen. Er musste nicht darüber nachdenken, was dort lag. Sein Orientierungssinn war durch seine vielen Ausflüge so ausgeprägt, dass er immer genau wusste, wo er sich befand und in welcher Richtung sein Heimatdorf lag.

Der Rauch und der Gestank kamen genau von dort.

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