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Kapitel IV Kreuz und Pfahl A. D. 167, Mai

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Túan duckte sich blitzschnell und glitt mit leisem Rascheln in ein dichtes Gebüsch hinein. Er dankte Avnova dafür, dass die Büsche reichlich – und vor allem bunte – Blätter trugen und es noch viele Tage dauern würde, bis diese herabfielen. Er hatte diese hervorragende Deckung bitter nötig, denn etwa hundert Schritte vor ihm bewegte sich ein großer Trupp Römer durch den Wald.

Er verhielt sich völlig still, als die - völlig ungewohnt hintereinander marschierenden Soldaten einem schmalen Tierwechsel folgten. An ihrer Spitze ritt ein einzelner Offizier, ein Centurio, wie Túan erkannte. Rasch zählte er die Legionäre, die in wenigen Augenblicken nur in Speerlänge an ihm vorbeiziehen würden, und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Manipel handeln musste. Er hatte diese römische Bezeichnung wie viele andere den hitzigen Debatten der Dorfältesten entnommen, sie aber erst später einer bestimmten Anzahl Soldaten zuordnen können. Dieser Manipel bestand aus rund 100 Mann und Túan wunderte sich, dass er so gut wie keine Verletzten entdecken konnte. Noch einmal zählte Túan die Soldaten und kam auf 121 Mann. Er wusste, dass die Römer ihre Gefallenen nach der Schlacht ehrenvoll verbrannten und deren Asche in speziellen Urnen nach Hause brachten. Hier sah er aber niemanden solche Urnen mit sich tragen.

Sie haben nicht einen Gefallenen zu beklagen.

Sein Herz stockte für einen Moment, als er darüber nachdachte, was dies wahrscheinlich – nein, ziemlich sicher – bedeutete. Es war ihm völlig klar, dass diese Einheit für die Rauchsäulen über seinem Dorf verantwortlich sein musste, und Angst und Wut kämpften augenblicklich um die Vorherrschaft in seiner Brust und in seinem Herzen.

Er ließ sich noch ein wenig niedriger in das Blattwerk des Busches einsinken, als der Reiter nur noch wenige Pferdelängen von ihm entfernt war.

Túan musterte den Mann genau. Er war noch jung, nicht älter als zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Also gerade einmal acht oder neun Jahre älter als Túan. Auch er war so gut wie unverletzt, nur wenige Kratzer zeigten sich auf der Haut. Staub und Asche vermischt mit Schweiß überzogen Körper und Kleidung. Der Gesichtsausdruck des Centurio drückte … Genugtuung aus. Und eine grimmige Entschlossenheit, das hinter ihm Liegende immer wieder zu tun, wenn es seine Vorgesetzten von ihm verlangen würden.

Túans Blick war anscheinend so intensiv, dass der Mann im Sattel plötzlich genau in seine Richtung sah.

Túan wagte nicht einmal mehr zu atmen, und zwar aus doppeltem Grund. Túan hatte einen wachen Verstand, doch einen gewissen Anteil an abergläubischer Furcht konnte auch er nicht von sich weisen. Einige der ältesten Frauen im Dorf erzählten immer wieder Geschichten vom Bösen Blick, den manche zu besitzen für sich in Anspruch nahmen.

Auch wenn Túan bemüht war, seine Augen abzuwenden, konnte er nicht vermeiden, dass sie an einem Merkmal des Römers förmlich hängen blieben. Ein Muttermal auf der Stirn hatte Túan fälschlicherweise zunächst für einen Dreckfleck gehalten. Der Reiter war ihm aber mittlerweile so nah gekommen, dass Túan befürchtete, dieser könnte sein wild schlagendes Herz hören. Nun war das Gesicht des Mannes unmittelbar vor seinem Versteck, sodass er es deutlich sehen konnte. Das Muttermal saß genau in der Mitte der Stirn und hatte beinahe die Form eines Auges. Die braune Stelle hatte sogar eine Pupille, geformt aus einer haarigen Erhebung, wie Túan es schon bei manchem Hautmal gesehen hatte. Der Eindruck eines dritten Auges ließ den Jungen erneut an die Schauergeschichten der alten Weiber denken. Beinahe hätte er sich bewegt, um seine eigenen Augen zu bedecken, was nach Meinung der Frauen die einzige Methode sei, dem Bösen Blick zu entgehen und dessen Eintauchen in die eigene Seele zu verhindern.

Nur mit Mühe konnte Túan endgültig seinen Blick abwenden und auch der Römer sah wieder auf den Weg vor sich.

Der gesamte Manipel zog an Túan vorbei, ohne ihn zu entdecken. Weder die Soldaten noch Túan selbst ahnten, dass einige von ihnen in der Zukunft wieder auf ihn treffen würden.

Túans Lunge gab leichte Pfeiftöne von sich, als er den Rand seines Dorfes im vollen Lauf erreichte. Er war die Strecke bis hierher in einem gewaltigen Tempo gerannt, ohne Rast, ohne Blick zurück. Je näher er kam, desto stärker wurde der beißende Geruch verbrannten Fleisches, desto dichter hoben sich grauschwarze Rauchwolken vor seinen mit Angst erfüllten Augen gen Himmel und sein Herz schien zehnmal so stark zu pochen wie normal. Mit aller Gewalt unterdrückte er die Gedanken, die ihm erbarmungslos zubrüllten, was hier auf ihn wartete. Sein Unterbewusstsein hatte längst erkannt, was sich vor seinen Blicken noch gnädig verbarg.

Als die Erkenntnis dieses Umstandes doch an die Oberfläche seines mit Panik erfüllten Verstandes drang, hielt er abrupt im Lauf inne, sodass er beinahe gestürzt wäre. Vielleicht versagte ihm sein Gehirn den Zutritt zum Dorf, um ihn vor dem Anblick zu verschonen.

Doch all seine Befürchtungen und schrecklichen Erwartungen wurden übertroffen von dem, was sich nun mit aller Brutalität aus den schon abnehmenden Feuern und dem dünner werdenden Qualm herausschälte.

Das ganze Dorf war niedergebrannt. Keine Hütte, kein Wagen, kein menschliches Werk war unversehrt. Jegliches Vieh war sinnlos abgeschlachtet worden, anstatt es wenigstens mitzunehmen. Doch all dies war nichts gegen die Pfähle und Kreuze, die in dichtem Abstand im gesamten Dorf verteilt waren. Hoch stand so ein Pfahl, schwarz angesengt, und an seinem oberen Ende geschmückt mit einem Leichnam, durch dessen blutige Brust die Spitze des Pfahles ragte oder dessen Glieder von fingerdicken Eisen durchbohrt ihn an ein Kreuz nagelten. Jeder Pfahl trug einen Menschen, den er nur zu gut kannte, mit dem er gelebt, gesprochen, gespielt hatte. Túans Herz verkrampfte sich in der Erwartung, seine Eltern und seinen Bruder auf diese fürchterliche Art platziert an den Stämmen gemartert vorzufinden. Die gleichen Stämme, die einmal einen Pferch für die Rinder gebildet hatten.

Mit einem Mal vernahm er keinen Laut mehr, kein Knistern verlöschender Feuer, kein Brutzeln brennenden Fleisches, keinen Wind mehr, nichts, gar nichts. Wieder schien sein Gehirn ihn in Schutz nehmen zu wollen, doch seine Nase nahm trotzdem die ekligen Gerüche wahr, die von allen Seiten auf sie einströmten.

In seiner inneren Stille zerbrach etwas in ihm, das bisher sein Leben erfüllt hatte. Der glückliche Junge war mit einem Schlag verschwunden und eine neue Identität enthüllte ihre ersten Schatten.

Túan lief wie ein Schlafwandler durch das, was einmal ein lebendiges Dorf gewesen war, mit lachenden Kindern, von denen – den Göttern sei Dank – kein einziges die Pfähle zierte oder tot am Boden lag. Ein Dorf mit jungen und alten Männern und Frauen, die ihrer Arbeit nachgingen und sich Scherze zuriefen.

Túan blieb stehen und benötigte mehrere Minuten, um seinen Körper zu zwingen, sich herumzudrehen. Er stand in der ehemaligen Mitte der Siedlung und nahm alle Kraft zusammen, um seinen Kopf nach oben zu richten. Mit trockenen, vom Rauch geröteten Augen sah er von Pfahl zu Pfahl und versuchte, die Geschändeten zu identifizieren. Erst nach einer ganzen Weile fiel ihm auf, dass es sich fast ausschließlich um Krieger handelte, mit mehreren Wunden, abgeschlagenen Extremitäten, manch einer ohne Kopf. Doch alle erkannte er an ihrem Haarschmuck oder den Zeichnungen, welche allesamt trugen.

Zu seinem Entsetzen gesellte sich nun unbändige Wut. Sie verdrängte seine Angst und sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Gedanken rasten und lieferten ihm alle möglichen Erklärungen, wo der Rest seines Stammes geblieben war. Sicher war jedes Kind, das noch nicht das Jünglingsalter erreicht hatte, gefangen genommen worden, genau wie jede hübsche oder arbeitsfähige Frau. Sie würden den Römern als Sklaven dienen, ohne jede Chance, diese Grausamkeit jemals zu sühnen. Die Männer jedoch, ob Bauer, Händler oder Handwerker, würden auf die Galeeren geschickt werden. Oder in die Erzminen oder wo auch immer sie den Römern bis zum nahen Tod dienen konnten. Die Krieger hingegen, die das Pech gehabt hatten zu überleben, würden in den Arenen und Kampftheatern in Rom und anderswo im Imperium um ihr Leben kämpfen müssen. Gegen besser Bewaffnete, stärkere und erfahrene Gladiatoren, gegen blutrünstige, aufgestachelte wilde Tiere. Nur die Wenigsten würden dies lange überleben. Selten fand sich einer, der mehr als einen Kampf in so einem Blutpfuhl überstand.

Wenn er in ferner Zukunft seine Freiheit wiedererlangen könnte, was würde er tun? Würde er sich bemühen, längst Verstorbene, an die sich niemand mehr erinnerte, zu rächen? Konnte er die Legionäre und Schlächter beim Namen nennen, könnte er sie herausfordern? Womöglich zum Zweikampf zwingen?

Plötzlich fiel ihm der Centurio ein. Dessen auffälliges Mal würde es ihm, Túan, ermöglichen, diesen Mann und seine Einheit irgendwann in der Zukunft zu identifizieren. Das Gesicht mit dem dritten Auge brachte ihn dazu, vorwärts zu taumeln. Seine Beine mussten sich jetzt bewegen. Wenn er schon keine Chance hatte, dem Manipel nachzueilen, die Soldaten anzugreifen und sie für ihre Taten noch heute büßen zu lassen, dann musste er sich jetzt wenigstens bewegen. Wie ein Trunkener taumelte Túan durch das schwelende und brennende Dorf. Er nahm all die Bilder der Verwüstung wie durch einen blutroten Schleier wahr. Er fand nicht eine Hütte, die noch intakt war, kein einziges Vieh, das noch lebte, nur Vernichtung und Kadaver. Er stürzte zu Boden, rappelte sich auf, torkelte durch kleine Flammen, die ihm die Beinhaare versengten, aber er spürte nichts davon.

Bis ihn sein Zickzackkurs an die Kante des kleinen Berges brachte, an dem sein Dorf lag, und über die Abfall und manchmal zum Tode Verurteilte gestürzt wurden. Sein Schritt verlangsamte sich, auch deswegen, weil hier keine Tierkadaver mehr lagen und das freie Gelände noch den Anschein von Normalität erweckte.

Wäre da nicht von einem Moment zum anderen eine dumpfe Ahnung in ihm erwacht, dass er besser keinen Blick über die Kante werfen sollte. Doch Túan war nicht der Mensch, der vor Ahnungen zurückschreckte. Mit kleinen Schritten ging er vorsichtig näher und sein Herz bereitete sich auf das vor, was hinter der Kante liegen mochte. Die Tränen in seinen Augen versiegten und legten den roten Schleier ab. Das Zittern seiner Glieder erstarb und er machte einen letzten Schritt.

Für Sekunden rührte er sich keinen Millimeter. Seine geweiteten Augen nahmen das Bild in sich auf und wie zäher Schleim kroch die Information die Sehnerven entlang zum Gehirn. Dort verharrten die Eindrücke, als weigere sich sein Gehirn, das Bild aufzunehmen und in verwertbare Informationen umzuwandeln. Doch schlussendlich tat das Gehirn, was es tun musste.

Dort unten lagen sie.

All jene, die nicht gepfählt worden waren. Alte Männer und Frauen, Bauern, Handwerker, alles, was weder Krieger noch Kriegerin war. Und Frauen … mit ihren Kindern. Túan sah, dass man ihnen allen die Kehlen durchgeschnitten hatte; ausnahmslos.

Túan stand lange dort und das Bild brannte sich in sein Gehirn, das es nun plötzlich aufsog, als wäre es erpicht, es nie wieder in seinem ganzen Leben zu vergessen. Jedes entsetzte Gesicht, jede klaffende Wunde und jeder einzelne Blutstropfen prägte sich ihm ein.

Sie waren alle tot, niemand war entführt worden, keinem drohte lebenslange Sklaverei. Niemand aus seinem ganzen Clan war mehr am Leben.

»Neeeiiiiiin!«

Sein lang gezogener Schrei hallte laut durch die Klamm, in der die Leichen lagen. Túan mac Ruith, letzter Spross des Clans der Ruith, schüttelte den Kopf. Er rannte von der Kante weg zurück ins Dorfzentrum. Die Wut, die in ihm kochte, steigerte sich zu tiefem Hass auf die Römer, die es sich nicht hatten nehmen lassen, auch noch ihr Zeichen inmitten des vernichteten Dorfes aufzupflanzen.

Der neue Túan, der in ihm wuchs, zeigte ein anderes Gesicht. Verloren waren die kindliche Unschuld, die Freude am Leben und der Natur. Es brodelte in ihm und mit jeder Sekunde formte sich ein neuer Mensch, der mit dem vorherigen nichts, aber auch gar nichts gemein hatte.

Mit wenigen Schritten ging er zur Standarte und trat sie mit einem wuchtigen Tritt in den Staub, nur um sie sofort wieder aufzunehmen und mit einem wütenden Schrei in den nächsten noch brennenden Schutthaufen zu werfen. Die Funken stoben auf und das Feuer fand neue Nahrung am trockenen Schaft des Heereszeichens.

Túan blieb so lange stehen, zitternd vor maßloser Wut, bis die Standarte völlig im Feuer vergangen war, dann hob er sein Haupt und blickte ohne Ziel über das Dorf.

Genau in dieser Sekunde vollzog sich der Wandel vom Jungen zum Mann, auch wenn er an Größe, Kraft und Alter noch weit davon entfernt war. Seine Muskeln, seine Stärke noch nicht in der Lage waren, einem Feind mit der Vehemenz entgegenzutreten, die in seinem Geist bereits anwuchs, sich mit einem Feuer erfüllte, das heller und wilder loderte als alles, was um ihn herum züngelte. Die Bilder, die er hier sah, verschmolzen zu einer gefährlichen Glut, die sein Innerstes erfassten wie ein tief in der Erde fließender Lavastrom. Túan fühlte diese Macht in sich aufwallen, spürte jede Faser seines Körpers bis ins Kleinste hinein durchdrungen von diesem verheerenden Brand, der wie ein grummelnder Vulkan darauf wartete zu explodieren, alles niederzuwalzen, zu töten und zu vernichten.

Seine Gedanken kehrten zu der ohnmächtigen Erkenntnis zurück, dass diese verbrannte Standarte für lange Zeit das Einzige sein würde, was er den Römern heimzuzahlen vermochte. Ein finsteres Funkeln trat in seine – endlich wieder von Tränen überströmten – Augen. Teils aus Trauer um seine Eltern, seinen Clan, seinen Stamm, teils aus Zorn für die Mörder. Zu dem Funkeln fügte sich ein freudloses Lächeln, die Mundwinkel grausam verzogen, halb die Zähne fletschend. Aus tiefer Brust bahnte sich ein Grollen, ein Brodeln seiner Stimme, wie ein langsam aus der Hölle kriechender Lindwurm hervor. Der helle Ton der Knabenstimme war verschwunden. Der kräftige Schrei, der sich über diesen Ort des Grauens erhob, war der eines Mannes. Ringsum stoben Vögel in Scharen davon. Rehe, Hasen und anderes Wild flohen ob der brachialen Wut in dem Schrei, der lang und mächtig durch die Bäume brach. In diesem Augenblick konnte er nichts anderes tun, als zu überleben. Noch konnte er seine Rache nicht vollziehen. Aber seine Zeit würde kommen.

Für einige Augenblicke spielte er mit dem Gedanken, das Feuer im Dorf erneut anzufachen, um die Leichen zu verbrennen. Dann überlegte er, ob er sie alle begraben sollte. Er allein. Schließlich schüttelte er den Kopf und beschloss, die Spuren der römischen Freveltat nicht zu beseitigen. Jeder, der an diese Stätte kam, sollte sehen, was die Besatzer angerichtet hatten. Er bedauerte sogar, dass er die Standarte verbrannt hatte. Mit diesem letzten Gedanken drehte Túan sich um und schritt langsam zurück in den Wald.

Túan hatte längst den Teil des Landes verlassen, den er auf seinen früheren Streifzügen erkundet hatte. Er irrte mehr oder weniger seit Wochen ziellos durch den Wald und seine anfängliche Verwirrtheit und der grenzenlose Schmerz in seiner Seele waren einem permanenten Brodeln ungestillten Zorns gewichen. Es fühlte sich an wie eine ruhig vor sich hin glimmende Schwelschicht eines niedergebrannten Feuers. Doch diese Glut würde nie mehr verlöschen. Er dachte nicht darüber nach, ob eben diese Glut, dieser Hass auf die Römer, irgendwann von selbst verschwinden würde. Aber eine Überzeugung empfand er dennoch, dass dieser Hass entweder ihn oder die Römer versengen würde. Ein Erwachsener hätte in Túans Situation längst über Rache und entsprechende Möglichkeiten nachgedacht. Aber Túan war noch nicht erwachsen. Doch er befand sich auf dem allerbesten Weg, es zu werden, bloß wusste er es noch nicht.

Es war später Nachmittag und langsam würde er sich einen Lagerplatz suchen müssen. Sein Vorrat an Lebensmitteln war zwar noch für mehrere Tage ausreichend, aber gegen frische Beeren oder auch einen Vogel oder Hasen zum Nachtmahl hätte er nichts einzuwenden gehabt.

Er blieb stehen und sah sich seit Stunden zum ersten Mal wieder bewusst im Wald um. Das Gelände stieg stetig, aber nur leicht an und er hob den Kopf, um Vögel zu entdecken, die ihrem Nachwuchs oder der männliche Vogel seinem brütenden Weibchen Nahrung brachte, und ihm dabei die Position des Nestes verrieten. Túan war sehr geschickt darin, Nester in Fallen zu verwandeln. Er hatte schnell gelernt, dass Eier eine willkommene Ergänzung seines Speiseplanes darstellten, dass die Elternvögel jedoch eine größere Mahlzeit abgaben. Túan vermied bei der Errichtung seiner Fallen immer sorgfältig, die Jungen zu berühren. Manche Vögel hatten es gar nicht gern, wenn ihre Nachkommen oder das Nest nach Mensch rochen. Sie flohen in der Regel und überließen zuweilen das Gelege ihrem Schicksal.

Túan war etwa eine halbe Stunde mit frisch erwachtem Geist leise durch den wilden, unberührten Wald geschlichen, als er in einiger Distanz zwei neue Geräusche hörte. Das erste war das wütende Zwitschern und Gezeter zweier Kornweihen. Das zweite Geräusch war ein Winseln, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von einem unsicheren, aber ärgerlichen Fauchen. Túan kannte mehrere Waldbewohner, die für das Fauchen verantwortlich sein könnten, und ortete stillstehend die Richtung, aus der die Töne kamen.

Als er sich einigermaßen sicher war, schlich er noch vorsichtiger dorthin. Er musste nur ein paar Dutzend Schritte machen, dann hatte er den Ort erreicht. Vorsichtig bog er den blattreichen Zweig eines Holunderbusches beiseite und lugte durch die Lücke.

Die beiden zeternden Vögel waren tatsächlich Kornweihen. Ein unscheinbares, aber furchtloses Weibchen und ein prächtiges und noch zornigeres Männchen attackierten ein kleines graubraunes Fellbündel, das neben einem großen Haufen von gleicher Farbe vor ihnen in Deckung sprang. Jedes Mal, wenn einer der Elternvögel herabstieß, zuckte ein kleiner Kopf mit geöffnetem Maul nach oben und das Fauchen erklang. Die Tonlage wechselte von ängstlich bis ärgerlich, je nachdem, wie nahe ihm die Schnäbel kamen oder er selbst die Vögel verpasste. Als wieder der kleine Kopf hinter dem größeren Fellhügel hochsprang, erkannte Túan das Tier.

Es war ein Wolfswelpe, der kleiner war als die beiden erwachsenen Vögel, welche gerade einen erneuten Angriff starteten. Beinahe hätte der männliche Vogel dem Kleinen ein Auge ausgehackt. Aber der tapfere Welpe stolperte über einen Ast und purzelte in einer rollenden Bewegung einen Mooshügel hinunter. Mit tapsigen Hüpfern korrigierte er sein Missgeschick und suchte nach den Vögeln. Die jedoch stoben wütend gackernd davon, als Túan aus dem Busch hervortrat.

Nicht weit von seinen Füßen entfernt lagen eine tote Wölfin und dicht daneben ein weiterer toter Welpe. Der Kleine wies eine ganze Reihe an Verletzungen auf, die einwandfrei als Hiebe der Greifvögel zu identifizieren waren. Die Wölfin jedoch zeigte auf den ersten Blick keinen Hinweis, der ihren Tod erklärte.

Túan trat näher und schob einen Fuß unter den Leib der Wölfin und drehte sie um. Dabei bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass der überlebende Welpe langsam und mit geducktem Kopf ein paar Schritte auf ihn zu kam, stehen blieb, wieder einen Schritt machte und sich dann etwa zehn Schritte weit entfernt zu Boden hockte. Er winselte zwar leise, aber er ließ Túan keine Sekunde aus den Augen.

Der Junge sah nun, was der Wölfin passiert war. Das rechte Vorderbein war vor einiger Zeit durch irgendein Ereignis gebrochen und die offene Wunde hatte sich entzündet. Das ansonsten magere Fleisch der Wölfin war um den Bruch herum aufgeschwollen und rot. Viele Maden krochen darin herum und verbreiteten einen ekelerregenden Geruch.

Die Wölfin hatte nicht mehr jagen können und war schließlich völlig entkräftet hier zusammengebrochen. Die beiden Welpen hatten so lange Milch von ihr bekommen, bis nichts mehr da war. Eine leichte Beute für jeden Jäger.

Túan blickte sich in den Wipfeln um und fand nach kurzer Suche das Nest der Kornweihen, deren Augen böse auf ihn herunterfunkelten. Wahrscheinlich war es Zufall gewesen, dass die Wölfin ausgerechnet direkt vor deren Nest ihr Leben ausgehaucht hatte und sie die Vögel ungewollt noch im Todeskampf zur Verteidigung des Nestes provozierte. Auch ihr Körper wies einige Schnabelwunden auf, doch keine war lebensbedrohend oder für den Tod der Wölfin ausreichend gewesen. Der tote Welpe ging aber allein auf das Konto der Vögel.

Nun, so ist das Leben, dachte Túan und hob ganz sachte seine rechte Hand in den Nacken. Er empfand Verständnis und Wut zugleich.

Die Vögel haben nur ihr Nest beschützt. Dabei haben sie aber einen Welpen getötet, der niemals eine Bedrohung ihres Nestes dargestellt hatte.

Seine Finger tasteten nach dem Griff des langen Messers, das in einer Lederscheide steckte. Er drehte seinen Oberkörper noch langsamer und nahm Ziel.

Der Wurf kam so blitzschnell, dass die Klinge den Hals des Männchens an den Baumstamm nagelte und seine Gefährtin ein erschrockenes Tschit-it-it-it-et-it von sich stieß. Sie behielt den entsetzten Blick noch bei, als der Stein, den Túan vor seinen Füßen aufgenommen und seinem Messer hinterhergeschickt hatte, sie mitten in die Brust traf.

Die Kornweihe fiel aus dem Nest und landete nicht weit entfernt von dem wartenden Wolfswelpen. Der sah zuerst zu Túan, und ihre beiden Blicke versanken für einen sehr langen Moment ineinander, dann siegte der Hunger.

Der kleine Wolf tapste zu dem toten Greifvogel und begann gierig dessen Blut aus der aufgeplatzten Brust zu lecken. Nach kurzer Zeit jedoch verlegte er sich darauf, Fleischfetzen abzureißen und rasch in seinem kleinen Maul verschwinden zu lassen.

Túan grinste und kletterte den Baum zum Nest hoch, schnappte sich das Männchen und die drei unversehrten Eier, die darin lagen, und rutschte behutsam mit seiner Beute wieder zu Boden. Es dauerte nicht lange, bis ein Feuer in einer Mulde knisterte und der Hahn sich an einem hölzernen Spieß drehte.

Während er den Vogel briet, beobachtete Túan den Welpen, der – umringt von einem Haufen mittelbrauner Vogelfedern – immer noch in Sichtweite dasaß und jeden seiner Handgriffe und Bewegungen mit höchster Konzentration verfolgte.

Von der weiblichen Kornweihe war außer den Federn und den Knochen nichts übrig geblieben. Doch der Kleine leckte sich unentwegt das Maul und sein Blick wechselte zwischen Túan und dessen Geflügelbraten, der verführerische Düfte von sich gab, hin und her.

Túan grinste, drehte den Vogel ein letztes Mal und hielt ihn sich dann vor die Nase.

»Riecht gut, nicht wahr?«, sagte er leise und der Wolfswelpe spitzte die flauschigen Ohren. Seine Zunge leckte erneut übers Maul.

Túan nahm sein Messer und schnitt ein Stück Fleisch ab, führte es zum Mund und prüfte vorsichtig die Hitze des Bratens. Dann schob er es hinein und kaute genüsslich.

»Hmm … was meinst du? Belassen wir es dabei? Du hast Mama gefressen und mir gehört Papa?«

Der kleine Wolf legte den Kopf schief.

»Oder möchtest du noch einen Nachschlag?«

Der Junge steckte den Braten samt Spieß schräg in den Boden und zog eine flache Holzschale aus seinem Sack. Er nahm die drei Eier, schlug sie hinein und schob die Schale langsam in Richtung des Welpen. Dann zog er sich ans Feuer zurück und widmete sich seinem Abendmahl.

Túan nagte gerade am letzten Knochen, als die Vorsicht des Welpen von dem lockenden Duft der Eier überwunden wurde. Wieder machte der Kleine drei Schritte, blieb stehen, musterte Túan, der überdeutlich schmatzte und scheinbar wegblickte, um dann wieder ein paar Schritte zu machen.

Als er allerdings die Schüssel erreicht hatte, schmatzte er nicht minder genießerisch als der Mensch vor ihm, der sich seine weit auseinander stehenden Mundwinkel wischte und nun offen den Welpen ansah.

»Endlich satt?« Túan bemühte sich, ruhig zu sprechen und sich nicht hastig zu bewegen.

Der kleine Welpe schnuffelte noch mal in der leeren Schale und setzte sich dann auf seine Hinterbeine.

»Also, ich leg mich jetzt hin, mein Freund«, sagte Túan müde und warf einen Blick auf das verlöschende Feuer. Er zog den Stoff seiner Kleidung um sich und bettete den Kopf auf das Moos. Nach fünf Herzschlägen war er eingeschlafen.

Túan spürte nicht mehr, wie nach Einbruch der Nacht der Wolfswelpe heranschlich und sich an ihn schmiegte.

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