Читать книгу Die Mächtigen, die Scheinmächtigen und die Ohnmächtigen - Werner Linn - Страница 4
Großmamas Geburtstag
ОглавлениеAm 10. September im Jahr des Herrn 2001 war die Welt noch in Ordnung. Jedenfalls dachte dies Rechtsanwalt Wolf Lenning, als er in seinem sonnendurchfluteten Büro kurz vor der Mittagspause sich zurücklehnte und genußvoll an einer Zigarre zog. „Landau ist doch eine ganz nette Stadt“, dachte er sich, als er aus dem Fenster seines Büros in die Fußgängerzone blickte. Die Sonne ließ eben alles in einem anderen Licht erscheinen. Wieder zur gegenüberliegenden Wand blickend, fiel ihm die Schönheit dieses alten Möbelstückes auf. Dieser Schrank aus dem hohen Mittelalter, der sehr oft düster aussah, hatte jetzt einen hellbraunen, fast goldfarbenen Glanz und man konnte sogar die reliefartig aus dem Holz geschnittenen Gesichter der Heiligen erkennen, die sonst nur schemenhaft schwarz erschienen.
„Der Tag heute ist eigentlich schon gelaufen“, dachte er und war in Gedanken schon im Urlaub, den er nächste Woche antreten wollte.
Die grazile Statuette aus Porzellan auf seinem Schreibtisch schien seine Träume zu beflügeln: Ein nacktes Mädchen tanzt auf einer goldenen Kugel. Könnte die Kugel die Welt symbolisieren?
Rechtsanwalt Lenning beugte sich nach vorne, um die Asche abzustreifen. Die Zigarre war schon ein ganzes Stück abgebrannt, ohne dass er einen Zug getan hatte. Sämtliche Akten schienen bewältigt. An diesem Tag sollte kein Termin mehr stattfinden. Rechtsanwalt Lenning schaltete seinen kleinen portablen Computer aus und wurde zunächst unsanft in die Realität zurückgerufen: Sein Hund, ein schwarzer Labrador kannte das Geräusch der immer langsamer bis zum Stillstand auslaufenden Festplatte des kleinen Rechners. Immer wenn dieses Geräusch zu hören war, konnte er damit rechnen, bald dem Büroalltag entfliehen zu können. Als treuer Kamerad an jedem Tag verharrte der große Labrador völlig ruhig neben seinem Herrn im heute sonnenhellen Büro. Wenn aber die Festplatte durch ein merkwürdiges, tiefer und leiser werdendes Summen ertönte, war das gleichsam das Signal zum Aufbruch und der Aufbruch hatte immer „etwas mit Alarm“ zu tun. Das war nicht unbedingt eine Folge der hektischen Art, mit der Herrchen den Labrador immer mehr oder weniger „aus dem Häuschen brachte“, sondern es ergibt sich ganz einfach, dass unheimlich viele Dinge zum Schluss immer noch zu erledigen sind: Tagespost unterschreiben, noch ein Telefonat, noch eine kurze Korrektur an einem Schriftsatz, ein unerwarteter Mandant, der noch vorsprechen will usw. Dementsprechend war Dax, so hieß der Labrador sehr daran gelegen, möglichst schnell das Büro zu verlassen, bevor noch irgendetwas dazwischen kommen könnte, was den Aufbruch verzögern würde. Also bellte der Hund jedesmal nach dem Abschalten des Rechners und zwar so impertinent, dass, um dem Bellen zu entgehen, Herrchen sich wirklich noch mehr beeilte. An diesem Tag wurde das Bellen vom Läuten des Telefons unterbrochen. Wie Rechtsanwalt Lenning schon am Läuten erkannte, war es ein Auswärtsgespräch. Im Display erschien eine Nummer mit der Vorwahl von Braunschweig. Wolf Lenning glaubte, sofort zu wissen, wer auf der anderen Seite darauf wartete, dass das Gespräch endlich angenommen werde: Seine Sozia war auch Rechtsanwältin, Hildegard Baumer, die in überregionaler Sozietät mit der Kanzlei in Landau verbunden war. Was konnte jetzt noch so eilig und so notwendig sein, dass ihn dieses Gespräch noch gerade erreichte? Lenning drückte auf die Lautsprechertaste, da er meist zu faul war, den Hörer abzunehmen und während des Gesprächs oft mit beiden Händen irgendwelche Arbeiten erledigte. Ein Schnaufen und eine hektische Stimme unterbrachen den bellenden Hund.
„Ich bin hier bei der Polizei!“
Lenning vergaß, an der Zigarre zu ziehen.
„Hildegard, was hast Du mit der Polizei zu tun?“ entfuhr es ihm.
PAUSE
„Die Polizei hat mich...blasen lassen.“
PAUSE
Jetzt war es Lenning, der hektisch schnaufte und fragte: „Und?“, mit Blick zur Uhr „Was wurde festgestellt, hast Du etwas getrunken?“
Die sonst so hektische Stimme aus Braunschweig schien jetzt retardierend langsam, fast als ob ein Schlaganfall die Sprecherin getroffen hätte.
„Das Ergebnis der Blutuntersuchung ist noch nicht da, aber vorläufig festgestellt sind 2 Promille“.
Rechtsanwalt Lenning sprang auf. „Hildegard, wie ist das möglich?! Ich habe es mir schon gedacht, ich habe Dich nicht in der Kanzlei erreicht. Was ist geschehen?“
Auf der anderen Seite jetzt hörbares Stühlerücken, Bewegung...
„Ich geb´ Dir mal den Beamten!“
„Polizeiobermeister Krieger hier, guten Tag“, hörte Rechtsanwalt Lenning von fern die diensteifrige Stimme des Beamten. „Wir benötigen den Führerschein Ihrer Mandantin! (Also hatte Hildegard Lenning Mandat erteilt.)
„Ja und wo ist der?“ fragte Lenning mehr mechanisch-automatisch.
„Nicht da“, lautete es lapidar auf der anderen Seite.
„Ich gebe Ihnen nochmal Ihre Mandantin.“
„Wolf, die wollen eine Hausdurchsuchung machen und den Führerschein suchen!“ klang es hilflos. Das war zu viel für den Anwalt. Er bat, nochmals mit dem Beamten verbunden zu werden.
„Einer Hausdurchsuchung bedarf es hier nicht, auf keinen Fall. Entweder ist der Führerschein verloren oder aber er wird herausgegeben, das ist doch klar!“
„Ja, klar ist hier nichts“, hörte er die Gegenseite wie durch eine Wand schallen. „Die Staatsanwältin beabsichtigt, hier einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen, wenn der Führerschein nicht freiwillig herausgegeben wird.“
Wolf Lenning ließ die Wohnung und die Kanzlei an seinem geistigen Auge Revue passieren. Das konnte, das durfte nicht sein! Fast geistesabwesend fragte er nach dem Namen der Staatsanwältin, mit der er sich dann sofort verbinden ließ.
„Ja!“, hörte er eine freundliche weibliche Stimme. „In solchen Fällen soll ja verhindert werden, dass noch mit dem Führerschein gefahren wird, bevor die Fahrerlaubnis entzogen werden kann und deshalb brauchen wir den Führerschein. An sich wäre es Zeit, hier einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken, aber in diesem Fall kann man es wohl anders regeln, da die Beschuldigte den Führerschein als verloren gemeldet hat.“
Die Staatsanwältin erklärte es dem immer noch schwer beeinträchtigten Verteidiger. Die Beschuldigte müsse nur nachweisen, dass der Führerschein als verloren gemeldet wurde und man werde von einer Hausdurchsuchung absehen. Wolf Lenning hatte in seinem Leben schon einiges durchgemacht. Insbesondere war ihm bekannt, dass im Rahmen von Hausdurchsuchungen die Staatsmacht nicht gerade zimperlich ist. Lenning ließ sich nochmals mit Hildegard Baumer (So hieß auch die Kanzlei in Braunschweig jetzt) verbinden.
„Kannst Du dieses Dokument nicht vorweisen? Warum hast Du nicht inzwischen einen neuen Führerschein beantragt?“ Die Fragen wurden regelrecht apathisch beantwortet und Wolf Lenning konnte nicht anders, als sich entschließen, sofort nach Braunschweig zu fahren. In Braunschweig wollte er nicht nur nach dem Rechten sehen, sondern sofort veranlassen, dass das Auto von Frau Baumer in die Pfalz verbracht werde und im Übrigen schien die Frage einer Hausdurchsuchung für Lenning noch nicht gebannt.
Rechtsanwalt Wolf Lenning war aufgestanden. Er blickte nachdenklich auf den jetzt nicht mehr sonnendurchfluteten Platz. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, aber noch kamen Sonnenstrahlen durch. Vielleicht war es auch mehr das innere Auge, das die Eintrübung stärker empfand, als sie tatsächlich zu beobachten war. Das Wetter war immer noch schön und stand so im krassen Widerspruch zu der Laune Lennings, die umgeschlagen hatte. Er ging in die Bibliothek, die unmittelbar durch eine Flügeltür an sein Büro anschloss. Auch dieser Raum lag noch in der Sonne. Dafür hatte Lenning jedoch keinen Blick mehr. Er ging ins Sekretariat hinaus und fragte nach seinem Sohn. Gemeint war Lennings ältester Sohn, Wolfhard Friedrich, der jedoch meistens nur Wölfi genannt wurde. Wölfi war in die Registratur in den Keller gegangen, um dort nachzuprüfen, ob die von ihm angestrebte und noch durchzusetzende Ordnung eingehalten wurde. Wölfi war in diesem Punkt sehr kleinlich. Darüber vergaß er oft sein Examen, auf das er sich nun fast 15 Semester vorbereitete.
Wölfi hatte großes Glück gehabt mit seiner Freundin Bea, die er vor fast 15 Semestern kennengelernt hatte. Auch sie studierte inzwischen Jura und wohnte zusammen mit Wölfi in einem kleinen Haus mitten im Wald. In den ausgedehnten Wäldern westlich Landaus hatte nämlich die Großmutter irgendwann einmal ein Wochenendhaus erworben, das sie aber schon seit Jahren nicht mehr nutzte. Irgendwann war es dann zu Wasserschäden und Zerfallserscheinungen gekommen, die Wölfi nicht nur aufgrund seiner Ordnungsliebe geradezu auf die Palme brachten. Wölfi hatte bald alles wieder restauriert und in Ordnung gebracht. Aber Wölfi hatte bei diesem Haus nicht nur ein Nest für sich und seine Bea gefunden, sondern gleichzeitig einen Marder unter dem Dach geduldet, der aus dem Wald gekommen war, als das Haus noch nicht dauerhaft bewohnt wurde. Allein das Raubtier kam schon sehr bald zurück und brachte sich einen Lebenspartner mit. Und so hausten nunmehr in Omas Haus zwei Pärchen...
Lenning ging selbst in den Keller hinunter und traf Wölfi in schlechter Laune an. Der hatte festgestellt, dass wiederum Akten falsch abgelegt waren und war gerade dabei, einer neuen Auszubildenden das Ablagewesen auf seine Art zu erklären. Als Lenning ihn ansprach, hörte er erst gar nicht hin.
„Wölfi hast Du gar nicht gehört, Hausdurchsuchung bei Hildegard?“
Wölfi fuhr wie elektrisiert hoch. „Du machst doch einen Witz!“ Er trat einen Schritt näher. „Komm, wir gehen hinaus und besprechen das Ganze.“
Wölfi und sein Vater stiegen die drei Stockwerke hinauf, ohne dass man beiden die Anspannung anmerken konnte. Oben angekommen gingen sie schnurstracks in die Bibliothek, wo inzwischen die Sonne ihre Strahlkraft wieder verstärkt hatte und trotz des Lammelenvorhangs dem Raum eine helle Freundlichkeit verlieh, die normalerweise Bibliotheken gar nicht zukommt. Wölfi blickte seinen Vater mit sorgenvoller Mine an.
„Du weißt, was das heißt?“
Der Vater nickte.
„Wie kommen die da drauf?“
Wölfi hatte ja noch nichts davon erfahren, dass Hildegard in angetrunkenem Zustand einer Polizeistreife aufgefallen war. Lenning setzte seinen Sohn mit einigen kurzen Sätzen in Kenntnis, worauf Wölfi kurze Hand nach dem Telefon griff.
„Bea, wir fahren heute noch nach Braunschweig...“
Eine Rückfrage von Bea war anscheinend nicht nötig gewesen, denn das Telefongespräch wurde rasch beendet. Wölfi hatte im Übrigen grundsätzlich etwas gegen das Telefonieren, denn in den heutigen Zeiten sind Telefongespräche die Quelle vieler Ärgernisse. Er schaute seinen Vater noch sorgenvoller an und fragte:
„Wann geht´s los?“
Lenning, der seinen freien Nachmittag schon längst vergessen hatte, sagte mit Blick zur Uhr: „In einer Viertelstunde. Du kannst schon das Auto holen.“
Wölfi hatte verstanden. Für weitere Gespräche war ja jetzt einige Stunden lang Zeit, denn von Landau nach Braunschweig sind es immerhin etwas mehr als 450 km.
Eine halbe Stunde später schon brauste der schwere Wagen mit 4 Personen auf der A5 nach Norden. Rechtsanwalt Lenning saß selbst am Steuer. Auf dem Beifahrersitz hatte Wölfi Platz genommen, während Bea und Dax im Fond saßen. Dax war es zwar gewohnt, hinten die gesamte Breite der Rückbank einzunehmen; dennoch war es ihm lieb, einen Beifahrer neben sich zu haben und so schaute er interessiert zu Bea, die ihn ab und zu im Nacken kraulte. Zu viel Zuwendung durfte Dax nicht erfahren, weil er sonst regelrecht zudringlich zu werden pflegte. Im harmlosesten Fall fuhr er dann seinem Gegenüber mit der Zunge wie mit einem Waschlappen über das Gesicht.
Lenning empfand es als selbstverständlich, dass sein Sohn neben ihm Platz genommen hatte, denn im Normalfall saß Wölfi immer vorne. Am Anfang hatte sich Lenning darüber gewundert, weil er noch von der Vorstellung ausgegangen war, der Platz neben dem Fahrer gebühre der Dame, aber weil er sich bei weiterer Überlegung dies eigentlich nicht ganz schlüssig erklären konnte, akzeptierte er diese Verfahrensweise ohne jeden Einwand.
Beim Start war man diesmal extrem still gewesen. Nichts sollte vergessen werden oder dem Zufall überlassen bleiben. Der Plan war relativ einfach. Lenning wollte mit Wölfi und Bea nach Braunschweig fahren, um zunächst einmal den Wagenschlüssel für den BMW bei der Polizei abzuholen. Dann wollte man gemeinsam essen gehen und danach sollte Wölfi mit Bea im BMW Hildegards zurück in die Pfalz fahren, denn Hildegard würde das nächste Jahr ohnehin kein Fahrzeug brauchen und Wölfi hatte seinen Oldtimer als solchen angemeldet und wollte nicht immer mit dem auffälligen Kennzeichen herumfahren. So kam ihm dieser Umstand sehr entgegen, da er schon gern einmal Hildegards BMW für längere Zeit zur Verfügung gehabt hätte.
Nach einer kurzen Mahlzeit bei einem Schnellrestaurant war die Stimmung wesentlich entspannter. Zwar hatte die Staatsanwältin, mit der Lenning telefoniert hatte, diesem zugesichert, einer Hausdurchsuchung bedürfe es nicht; Lenning aber traute dem Frieden von Grund auf nicht und wollte einen „sensitiven“ Koffer, der in Hildegards Wohnung stand, unbedingt mitnehmen, damit dieser eine neue Heimstadt finden würde. Wölfi kannte insofern alle Umstände und es musste zwischen beiden kein Wort gewechselt werden, denn eins stand fest: Der Koffer musste in Sicherheit gebracht werden. Die Fahrt verlief im übrigen sehr schnell und ohne jede Komplikation. Es war noch heller Tag, als das Fahrzeug das Autobahndreieck Salzgitter passierte und wenig später (bei diesen Geschwindigkeiten wirklich nur kurze Zeit später) verließen die vier die Autobahn bei Braunschweig. Warum ist Hildegard nach Braunschweig gegangen, fragte sich Lenning in diesem Augenblick. Das waren wohl familiäre Gründe gewesen, denn Hildegards Vater hatte ihr dort eine Stellung bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verschafft, die seinerzeit das elterliche Unternehmen prüfte und betreute. Nach dem Tod des Vaters hatten sich auch hier die Verhältnisse maßgeblich geändert und Hildegard war bereits nach einiger Zeit dort ausgeschieden.
Hildegard hatte sich dann endlich in überregionaler Sozietät mit Lenning selbständig gemacht und das Büro lief eigentlich recht ordentlich an. Die anfängliche übermäßige berufliche Belastung führte dazu, dass Hildegard Alfred-Wolf nicht ausreichend betreuen konnte. Alfred-Wolf war Hildegards und Lennings gemeinsamer Sohn, der lange Zeit eine für die schwierige familiäre Situation erstaunliche Stabilität zeigte. Lenning war hierüber grundsätzlich erfreut und sah immer sein Engagement in Braunschweig als Zukunftsinvestition für Alfred-Wolf oder Freddy, wie er ihn meistens nannte. Freddy war auch ein guter Schüler.
Inzwischen war Lenning beim Polizeipräsidium in Braunschweig vorgefahren. An einem Nebeneingang erhielt er Einlass zur Wache, wo man ihm nach einigem hin und her den Autoschlüssel für den BMW aushändigte. Die Beamtin musterte Lenning von oben bis unten und schien etwas auf der Seele zu haben. Lenning sah man sein Alter in keiner Weise an. Er war jetzt Anfang 50 und fühlte sich aber noch sehr viel jünger. Die Beamtin, die wohl Anfang 20 war, war auffallend hübsch. Ihr blondes Haar war in einem Knoten zusammengefasst und Lenning stellte sich vor seinem geistigen Auge vor, wie die Beamtin aussehen musste, wenn der Knoten gelöst war. Lenning schien der Beamtin sympathisch zu sein, denn sie ergriff plötzlich die Gelegenheit, Lenning zu informieren: „Ich war dabei, als Frau Rechtsanwältin Baumer in die Verkehrskontrolle geraten war“.
„Ah, ja,“ Lenning horchte auf. „Was für eine Blutalkoholkonzentration wurde denn festgestellt?“
Die Beamtin schaute Lenning von der Seite an.
„Das darf ich Ihnen nicht mitteilen“.
„Dann unterstellen Sie, dass ich der Verteidiger bin!“
„Auch dann darf ich noch nichts sagen, denn die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.“
Sie wandte Lenning wieder das Gesicht zu. Lenning schaute ihr in die großen Augen und suchte einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. Diesen Punkt gab es.
„Können wir hier nicht eine Ausnahme machen?“.
Lenning lächelte freundlich. Die Beamtin wurde plötzlich rot. Sie schlug die Augen nieder, griff dann in irgendeine Ablage nach rechts unten und zog eine Akte hervor. Wortlos schob sie sie Lenning hin. Die Akte war nicht besonders dick. Aber Lenning sah sofort, was er zu sehen wünschte: Blutalkoholkonzentration 2,... Lenning kam nicht weiter. Er blickte auf die Beamtin.
„Das war doch morgens um 11:00 Uhr!“
„Ja!“ sagte die Beamtin und schlug die Augen wieder nieder.
„Was war dann, wieso wurde die Beschuldigte mit zur Wache genommen?“
Die Beamtin schaute Lenning erst verständnislos an, dann glitt ein schüchternes Lächeln über ihre Züge und sie wiederholte: „Sie wurde mit zur Wache genommen – gefesselt.“
Lenning war erstaunt, Hildegard hatte hiervon gar nichts gesagt.
„Warum?“
„Weil sie um sich schlug“, sagte die Beamtin und schaute zur Wand.
„Ja und wie sind Sie denn da drauf gekommen, wie ist sie denn Ihnen aufgefallen?“
Der Blick der Beamtin wechselte von der Wand zum Fenster.
„Die Frau an der Tankstelle hat uns darauf aufmerksam gemacht. Die Beschuldigte hatte einen sehr wirren Eindruck dort hinterlassen und zudem drei Underberg gekauft“.
Nun glitt ein schüchternes Lächeln über Lennings Gesicht.
„Und von wem ging die Sache mit der Durchsuchung aus?“
„Nicht von mir!“ sagte die Beamtin. „Der Streifenführer wollte nur sicherstellen, dass die Beschuldigte nicht wieder am Straßenverkehr teilnimmt.“
„Ah, so,“ dehnte Lenning, „dann werde ich jetzt dafür sorgen, dass diese Gefahr wirklich ausgeschlossen ist.“
Er griff nach dem Schlüssel.
Die Beamtin verabschiedete sich mit einem sehr freundlichen Lächeln.
„Auf Wiedersehen, Herr Lenning!“ sagte sie und verschwand sofort nach hinten.
Lenning verließ die Wachstube und ging zu dem Fahrzeug, wo Wölfi, Bea und Dax warteten.
„Du warst lange weg!“ empfing ihn Wölfi und Dax hechelte, wobei Speicheltropfen an die Autoscheiben flogen.
„Du hättest doch inzwischen schon ein bißchen mit dem Hund gehen können!“ meinte Lenning, aber Wölfi überhörte das geflissentlich und meinte, man solle sich etwas beeilen, er wolle ja heute noch zurück in die Pfalz fahren. Lenning widersprach nicht. Grundsätzlich wäre es wohl besser gewesen, Wölfi und Bea die Nacht hier zu behalten, aber schließlich wollten beide ins Examen gehen und Lenning wollte keinen Grund dazu liefern, den Prüfungstermin wieder hinauszuschieben. Sie fuhren nun die kurze Distanz bis zur Wohnung Hildegards.
Die Altstadt von Braunschweig ist gar nicht häßlich, meinte Lenning und zeigte dabei auf das eine oder das andere historische Gebäude.
„Ach, Brigitte!“ meinte er, als sich das mobile Telefon meldete. „Sie macht sich wohl Sorgen, denn sie hoffte auf eine baldige Rückkehr des Sohnes.“
Brigitte war nicht erbaut über den Zwischenfall und ärgerte sich zunächst darüber, dass Wölfi, ihr ältester Sohn, mit nach Braunschweig gefahren war. Sie hatte allerdings keine Kenntnis von dem Koffer und der besonderen Dringlichkeit, die damit verbunden war. Lenning konnte ihr das auch nicht am Telefon erklären und sah sich erheblich unter Druck gesetzt, als er Brigitte Rede und Antwort stehen sollte. Aber er blieb wie immer freundlich und Brigitte akzeptierte schließlich die aus ihrer Sicht unnötige Reise nach Braunschweig. In gewissem Sinn konnte Lenning sie auch verstehen, denn sie musste seine Arbeiten jetzt teilweise miterledigen, da eine Reise nach Braunschweig zu diesem Zeitpunkt eigentlich vom Arbeitsanfall her höchst ungelegen kam.
Lenning fühlte sich nicht ganz wohl, als sie bei Hildegard ankamen. Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Rande der Altstadt. Sie hatte dort eine Eigentumswohnung erworben, die zuvor Brigitte gehört hatte. Hildegard hörte schon den Motor und kam mit Freddy heruntergelaufen.
Ganz schnell wollten die beiden in Lennings Fahrzeug einsteigen, doch es stellte sich schnell heraus, dass gar kein Platz mehr war.
„Langsam“, gebot Wolf Lenning. „Zuerst muss Wölfi den Koffer holen.“
Wölfi hatte sofort verstanden und kehrte mit seinem Bruder Freddy zurück in die Wohnung, um nach zwei Minuten mit einem schwarzen Schalenkoffer zurückzukehren.
„Den laden wir am besten in deinen BWM“, sagte er zu Hildegard gewandt. „Wo steht denn der?“, warf Wolf Lenning ein und Hildegard erklärte mit gesenktem Blick, dass sich ihr Fahrzeug immer noch an der Tankstelle befand.
„Dass ist nicht weit“, bemerkte Wolf Lenning.
„Freddy und Wölfi können zu Fuß hinüber zu der Tankstelle und uns in dem BMW folgen. Den Koffer nehmen wir jetzt noch in den Mercedes; später soll Wölfi ihn umladen und ihn gleich mit in die Pfalz nehmen.“
Da Freddy und Wölfi etwa 200 Meter zu Fuß gehen mussten, brauchte sich Wolf Lenning und die beiden Damen nicht sehr beeilen. Wolf hob den Koffer, der sehr schwer war, in den Kofferraum und ging darauf nochmals in die Wohnung. Hildegard folgte ihm.
„Das war nötig“, bemerkte Wolf Lenning als er zur Toilette ging. Hildegard antwortete nicht.
Wolf kam gleichzeitig mit Wölfi und Freddy bei der Tankstelle an. Die beiden waren schnell gelaufen und Wölfi schnaufte als er den Koffer aus dem Mercedes hob um ihn in dem BMW zu verstauen.
„Der hat ja ein ganz schönes Gewicht“, bemerkte er.
Von der Tankstelle zur Gaststätte fuhr Wolf mit Hildegard allein im Auto, während Wölfi, Bea und Freddy im BMW fuhren. Lenning steuerte den „Weißen Schwan“, eine nette Gaststätte am Stadtrand Braunschweigs an. Auf dem kurzen Weg dorthin erfuhr Lenning weitere Einzelheiten von Hildegard, die jedoch von untergeordneter Bedeutung waren und das Gespräch entfernte sich zwanglos von dem eigentlichen Ereignis des Tages.
Beim Abendessen wurde kaum noch darüber gesprochen und alle waren so hungrig, dass sie es kaum noch erwarten konnten: Semmelknödel mit Steinpilzen sollte es geben. Die Wirtin hatte zugesichert, dass es frische Steinpilze waren und tatsächlich kam ein dampfendes Gericht auf den Tisch, das allen so viel Freude machte, dass man schließlich sogar guter Dinge war, als man das Lokal verließ.
Eigentlich hätte Wölfi sofort heimfahren sollen, aber man war so guter Laune, dass Wölfi und Bea noch einmal zu Hildegard in die Wohnung kamen und man dort noch eine Flasche Wein köpfte. Bea trank - wie üblich bei solchen Gelegenheiten - keinen Tropfen und war nachher die Fahrerin, während Wölfi sich wieder auf den Beifahrersitz gesellte und als schließlich die beiden abgefahren waren, unterhielten sich noch Freddy, Hildegard und Wolf Lenning eine Stunde lang über ganz andere Dinge, nur von dem Vorfall am Vormittag wurde nicht gesprochen. Dax erhielt eine tüchtige Mahlzeit und schnarchte schon, als die anderen zu Bett gehen wollten.
Rechtsanwalt Lenning öffnete dennoch genau um Mitternacht eine Flasche Dornfelder Sekt aus Hambach. Er liebte Pfälzer Wein und insbesondere gefiel ihm dieser Dornfelder Sekt, der dunkelrubinrot im Glas stand und beim Einschenken einen cremigen Schaum von dunkelroter Farbe produzieren konnte, wie kaum ein anderer Rotsekt.
An diesem Abend war schon genug getrunken worden und Lenning brauchte einen Grund die Flasche zu öffnen.
„Heute wäre meine Großmutter 110 Jahre alt geworden,“ sagte er. „Ein Prost auf Großmama.“
Hildegard und Freddy stießen an. Tatsächlich war heute der Geburtstag von Oma Hildegard, auch sie hieß Hildegard und war 1891 in Klagenfurt geboren. In Erinnerungen an Großmama - so wollte sie genannt werden, Wolf Lenning jedoch nannte sie meistens liebevoll „Plüschohr“, (was die Ursache in ihren wohlgeformten rötlich samtigen Ohren gehabt haben musste): vergaßen die drei die Zeit und den unangenehmen Anlass zu dem heutigen Beisammensein ganz.
Die Flasche Rotsekt, die im übrigen die letzte im Hause war, war bald geleert und man ging dann schnell zu Bett, weil es ja schon nach Mitternacht war. Der 10. September war zwanglos in den elften übergegangen: Die große Standuhr hatte zwölf mal geschlagen und schließlich begaben sich auch Wolf Lenning, Hildegard und Freddy zu Bett, um, weil sie inzwischen die nötige Bettschwere hatten, gleich einzuschlafen. Am nächsten Tag würde es sehr viel zu tun geben und Lenning machte innerlich schon seinen Plan, seinen Plan für den nächsten Tag, den 11. September 2001.
Der nächste Morgen brachte gutes Wetter. Lenning begab sich mit Hildegard in das Büro in der Mitte der Altstadt, während Freddy ebenfalls die Wohnung verließ. Im Büro angekommen wurden beide von Susanne erwartet, einer Auszubildenden zur Rechtsanwaltsfachangestellten. Susanne war 20 Jahre alt und hatte kurzgeschnittene, rötlich-braune Haare. Sie kam aus Görlitz und war erst vor kurzem nach Braunschweig gezogen. Eigentlich war sie in die „alten“ Bundesländer gegangen, weil sie so nahe an der Neiße keine Perspektive mehr sah. Aber bei näherem Hinhören war es gerade ihr Freund, der, weil er keine Perspektive im Osten mehr sah, sich auf dem Weg nach Westen gemacht und hier Arbeit gefunden hatte. Susanne arbeitete in der Kanzlei erst seit wenigen Tagen, aber man konnte erkennen, dass sie eine gute Kraft werden würde: Sie konnte fehlerfrei schreiben und entwickelte im übrigen ein überraschendes Maß an Eigeninitiative, was insbesondere Lenning schon seit langem an Auszubildenden vermisste. Susanne hatte die Post schon vorbereitet, denn es war schon 09:30 Uhr, als die Anwälte in der Kanzlei eintrafen. Dass sie sich an diesem Tag verspätet hatten, war wenig verwunderlich für Susanne, denn Lenning hatte bereits eine Diktatkassette vorbereitet, mit der sie sofort anfangen konnte. Die Akten dazu übergab er ihr und sie lächelte ihn freundlich an:
„Wieder einmal Nachtarbeit gemacht?“ fragte sie keck.
„Teilweise“, räumte Lenning ein und dachte an die letzte Flasche Dornfelder.
„Aber“ fügte er hinzu, „den größten Teil habe ich erst heute Morgen diktiert“.
Susanne nickte und begann in die Kassette reinzuhören. Der Schriftsatz war einer von unzähligen Schriftsätzen, wie sie in jeder anderen Rechtsanwaltskanzlei auch geschrieben werden. Der Inhalt blieb sicherlich weder Lenning noch Susanne im Gedächtnis und obwohl Susanne erst in der Kanzlei angefangen hatte, waren Diktate und Schriftsätze ihr schon zur Routine geworden. Hildegard telefonierte den ganzen Vormittag. Es hatte nichts mit ihrem Malheur vom Vortag zu tun und schien mehr den Eindruck zu machen, als ob sie sich in die Arbeit flüchtete.
Gegen Mittag ließ sich Rechtsanwalt Lenning von Susanne gerade mit der für den Fall vom Vortag zuständigen Staatsanwältin verbinden, mit der er ja schon telefoniert hatte. Die Staatsanwältin war am Telefon sehr nett und erklärte Hildegards Verteidiger, dass die Angelegenheit wohl im Strafbefehlsverfahren erledigt werden könne. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Anzahl der Tagessätze für die Geldstrafe meinte die Staatsanwältin im Hinblick auf die schwierige psychische Situation der Beschuldigten könne wohl von 20 max. 30 Tagessätzen ausgegangen werden. Lenning lehnte sich wieder einmal zufrieden in seinen Sessel zurück. Das Büro war ähnlich sonnendurchflutet, wie das in Landau und die Stimmung glich derjenigen vom Vortag vor dem Anruf.
„Also meinen Sie, dass die Angelegenheit recht schnell erledigt werden kann?“
„Von mir soll es nicht abhängen“, meinte die Staatsanwältin, aber sie müsse noch mit ihrem Referatsleiter Rücksprache halten.
„Ja“, meinte Lenning. „Keiner will hier die Sache komplizieren. Ein Verschulden ist wohl gegeben, wenn auch kein zu schweres und man solle schließlich die Kirche im Dorf lassen“.
Ob ihn dabei die Staatsanwältin richtig verstanden hatte, wusste Lenning zu diesem Zeitpunkt nicht. Jedenfalls hatte sie eine angenehme weibliche Stimme und war in der Sache durchaus menschlich geblieben. Und schließlich war sie es gewesen, die ja keinen Antrag auf Hausdurchsuchung gestellt hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Durchsuchung erfolgt wäre, bevor Wölfi den Koffer ins Auto getragen hatte! Als Lenning den Telefonhörer aufgelegt hatte, schaute er einige Sekunden auf die Topfpflanzen an einem der Fenster. Sie wuchsen und gediehen prächtig. Warum gibt es in der Pfalz keine solchen Gewächse an meinem Fenster, dachte er und zündete sich eine Zigarillo an. Diesmal war es eine Havanna-Zigarillo, die noch von Weihnachten stammte. Lenning war dieses Jahr nicht zu oft im Braunschweiger Büro gewesen und so war zu erklären, warum die Kiste Partagas noch nicht ganz leer war.
Hildegard kam herein. Eigentlich war es ihr Schreibtisch, an dem Lenning hier residierte, aber zu oft war er ja schließlich nicht da und Hildegard liebte es auch, einmal auszuweichen an den kleineren Schreibtisch im hinteren Zimmer. An diesem Tag hatte sie sich Akten mit hinausgenommen, um diese zu erledigen. Mehrere Klageschriften mussten noch diktiert werden und in einigen Fällen bedurfte es noch des einen oder anderen Schreibens an Mandanten oder Rechtsschutzversicherungen, die auch mehr oder weniger routinemäßig erledigt wurden.
Plötzlich kam Hildegard auf den Schreibtisch Wolfs zu und nahm davor Platz.
„Was hat die Staatsanwältin gesagt?“ forschte sie.
„Woher weißt Du, dass ich mit ihr gesprochen habe?“
„Habe ich mitbekommen.“
„Nichts Wesentliches. Ich nehme an, sie wird einen Strafbefehl beantragen.“
„Das wäre wahrscheinlich das Beste,“ meinte Hildegard.
„Da bin ich mir noch nicht ganz so sicher,“ erwiderte Rechtsanwalt Lenning. „Ein Strafbefehl führt dazu, dass Du nach der Sperrfrist erneut die Erteilung einer Fahrerlaubnis beantragen musst.“
„Ja und?“
Hildegard schaute ihn forschend an.
„Wie sieht´s denn mit deinen Blutwerten aus? Unter Umständen musst Du dann ein medizinisch-psychologisches Gutachten beibringen.“
Lenning schmunzelte und zog an seiner Zigarillo. Hildegard sagte nichts und schlug die Augen zu Boden. Nach einer kurzen Pause schaute sie Lenning direkt an und fragte: „Und was schlägst du vor?“ Lenning blies den Rauch in Ringen aus, die in dem Sonnenlicht besonders räumlich aussahen und erklärte ihr wie einer Mandantin: „Wenn wir die Hauptverhandlung soweit hinauszögern und das möglicherweise über zwei Instanzen, dass die eigentliche Sperrfrist entfällt und eine positive Prognose über den Angeklagten möglich ist, könnte es sein, dass der Richter im Termin die Fahrerlaubnis aushändigt.“
Zunächst schien das einleuchtend für Hildegard zu sein. Im nächsten Augenblick aber fiel ihr ein, dass ihr gesetzlicher Richter wohl ein sehr unverträglicher Mensch war. Richter Fuchs hatte nämlich vor kurzem in einer Verkehrsordnungswidrigkeit gegen Hildegard ein absolut ungerechtes Urteil gefällt und Lenning hatte vor einigen Jahren zwei Mal Erfolg beim Bayerischen Obersten Landgericht, das ein Urteil, gegen ihn selbst von Richter Fuchs verhängt, auf seine Rechtsbeschwerde hin aufgehoben hatte.
„Ja, wir müssen uns die Sache noch gut überlegen“, meinte Lenning und als ob er prophetische Fähigkeiten hätte, fügte er hinzu, „jetzt müssen wir erst einmal abwarten, was noch auf uns zukommt“.
Zum Mittagessen ging Susanne wieder in dieses amerikanische Schnellrestaurant in der Nähe und brachte Rechtsanwalt Lenning einen Whopper mit. Aus welchen Gründen auch immer, verzehrte ihn Lenning gierig und vermied es, insbesondere angesichts der Situation Hildegards, dazu ein Bier zu trinken.
„Der zweite Burger innerhalb einer Woche und das noch ohne Bier“, dachte er sich im Stillen.
Wenig später fragte Lenning Susanne, ob heute noch Termine ausgemacht wären. Susanne betrachtete den Kalender.
„Hier steht nichts,“ meinte sie. „aber ich schau noch schnell auf dem Bildschirm nach.“
Ja, es war noch ein Termin am späten Nachmittag festgelegt: ein Mandantengespräch, dass genauso gut verlegt werden konnte. Lenning wollte nämlich an diesem Nachmittag eine größere Berufungsbegründung fertigen. Zu diesem Zweck zog er sich üblicherweise an seinen Schreibtisch zurück und bat im Sekretariat, ihm keine Gespräche durchzustellen. Mitunter nahm er auch die entsprechenden Akten und Bücher mit nach Hause, weil er dort am ungestörtesten konzentriert arbeiten konnte. Hier im Büro war nicht mehr sehr viel zu erledigen und Lenning kontrollierte noch einmal das Netzwerk, die Telefonanlage und die Postfreistempleranlage (all das hatte in der Woche vorher irgendwann einmal Probleme bereitet). Nachdem alles in Ordnung war, packte Lenning seine Sachen und sagte zu Hildegard, er werde jetzt in die Wohnung fahren. Dax lasse er hier. Hildegard könne ja nachkommen und Dax dann noch ein bisschen Gassi gehen lassen. Hildegard war einverstanden und so begab sich Lenning zu seinem Fahrzeug, das in der Tiefgarage abgestellt war.
„Das Fahrzeug ist fürchterlich schmutzig,“ dachte er. „Eigentlich müsste es noch gewaschen werden.“
Lenning war fest entschlossen, das Fahrzeug aufzutanken und durch eine Waschstraße zu fahren, denn die Verschmutzung war inzwischen so, dass man die eigentliche Farbe des Fahrzeugs gar nicht mehr erkennen konnte und schließlich waren die Scheiben über und über mit Fliegenresten verschmiert, was auf die rasante Fahrt vom Vortag hindeutete. Als Lenning jedoch über mehrere Ampelkreuzungen gefahren war und über die Ereignisse bis dahin nachdachte, fuhr er automatisch zur Wohnung und vergaß das Tanken und Waschen. Mechanisch öffnete er mit der Fernsteuerung das Tor, fuhr das Fahrzeug an die entsprechende Stelle, griff zur Tasche, in der sich Akten, Diktiergerät und Kommentar befanden und begab sich über die Treppen zur Wohnung.
In diesem Augenblick ertönte das Signal des Funktelefons. Lenning sah sofort am Display, dass es Ellen war, die anrief. Ellen war in der Sozietät in Hessen tätig. Das Büro in Frankfurt war erst vor fünf Jahren eröffnet worden, hatte aber in dieser Zeit einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Ellen war sehr fleißig und führte das Büro in absolut diktatorischer Weise. Beim Personal war Ellen sehr wählerisch und innerhalb der kurzen Zeit hatte sie 20 oder mehr Anwaltsgehilfinnen getestet (Lenning meinte „verschlissen“). Aber schließlich hatte Ellen wirklich Glück und zwar gleich zweimal hintereinander: Uli mit rötlich kurzgeschorenem Haar - damit sah sie fast ein wenig wie Susanne in Braunschweig aus – war eine echte Hessin und verstand es, Ellen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Die von ihr erledigten Arbeiten wiesen kaum Fehler auf und manche Schriftsätze und Schreiben legte sie unterschriftsreif vor, ohne dass sie je diktiert worden waren. Lilli war dunkelhaarig, kam aus dem Osten und wurde zu dieser Zeit insbesondere von Uli ausgebildet.
Lenning nahm das Gespräch auf.
„Was gibt´s“, meinte er, als Ellen aufgeregt in den Hörer schrie: „Hast Du das schon mitbekommen?“
Lenning, der gerade angekommen war, hatte nichts mitbekommen, vor allen Dingen nichts aus Hessen und wunderte sich über diesen Anruf.
„In New York...“ meinte Ellen.
„Nein, ich bin in Braunschweig,“ erwiderte Lenning. „Und in New York war ich im Sommer.“
„Da warst Du doch in Hamburg! Nein, ich meine das mit dem Hochhaus und dem Flugzeug. Ein Flugzeug ist in ein Hochhaus gestürzt. In einen Wolkenkratzer.“
Ellen wirkte wie elektrisiert.
„Und woher weißt Du das? Du hörst doch im Büro kein Radio, im Gegensatz zu mir.“
„Nein, aber Carolyn hat es mir gesagt.“
„Carolyn?“ Lennings Stirn legte sich in Furchen. Carolyn war Lennings kleinere Tochter mit Ellen.
„Ja, Carolyn ist herüber ins Büro gekommen und hat gesagt, ich solle sofort zum Fernseher gehen und zuschauen, es sei etwas Schreckliches in New York passiert.“
Inzwischen hatte Lenning das Fernsehgerät eingeschaltet und tatsächlich sah er die beiden Türme des World Trade Centers vor sich. An einem von beiden war im oberen Drittel eine enorme Rauchentwicklung zu sehen, die sich noch zu verschlimmern schien. Lenning wusste aber beim besten Willen nicht, warum sich Ellen so aufregte.
„Dort brennt es halt,“ stellte er fest.
In diesem Augenblick hielt er den Atem an. Von rechts kam ein Passagierflugzeug - Lenning erkannte sofort eine B767 - auf den zweiten Turm zugerast. Zum Schluss in einer Kurve hereingedreht, zerschmetterte die Maschine, einen gigantischen Feuerball hinterlassend, etwas über der halben Höhe des Turms.
„Bist Du noch dran?“ fragte Lenning.
Ellen hatte es die Sprache verschlagen. Offensichtlich hatte auch sie am Fernsehgerät die Geschehnisse verfolgt.
„Eine Fehlleitung des Autopiloten bei diesem strahlendem Wetter kann fast ausgeschlossen werden,“ meinte der Fernsehsprecher.
In diesem Augenblick war für Lenning klar: Hier war ein Anschlag im Gange. Ein gigantischer, präziser Anschlag, von wem auch immer. Lenning versuchte sich die Folgen auszumalen. Das Gebäude würde über viele Stockwerke abbrennen. Viele Menschen waren schon gestorben oder würden in den nächsten Minuten sterben; Lenning dachte an den Fernsehturm von Moskau.
„Ansonsten werden die Flammen nicht bis in die obersten Stockwerke übergreifen und nach unten schon gar nicht. Also, bis nachher,“ verabschiedete er sich von Ellen, denn in diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Hildegard kam herein. Dax stürmte sofort, an seine Futternäpfe, wo er morgens nicht alles aufgefressen hatte und Hildegard starrte auf den Bildschirm, wo zwei Türme wie rußende Fackeln brannten.
„Was ist denn da?“ wollte sie wissen und Lenning setzte sie kurz in Kenntnis, während er Wölfi anrief. Auch Wölfi hatte noch keine Ahnung von den Geschehnissen und schaltete sofort das Fernsehgerät ein. Lenning schaltete von einem Sender zum anderen und alle hatten nur ein Thema, „Anschlag in New York“.
Die Nachrichten überschlugen sich. Man erkannte inzwischen allerorts die Qualität des Anschlags und soeben kam die Nachricht, allerdings zu diesem Zeitpunkt noch ohne Bild, dass ein Passagierflugzeug ins Pentagon, das amerikanische Kriegsministerium gestürzt sei. Wenig später kamen nun auch hier die ersten Bilder und man erfuhr, dass eine vierte Maschine irgendwo im Anflug sei. Tatsächlich wurde auch am Bildschirm eine Passagiermaschine sichtbar, gefolgt von einem kleinen Punkt.
„Das ist ein Jäger!“ meinte Lenning zu Hildegard und in diesem Augenblick war sich Lenning sicher, dass eine Luft-Luft-Rakete abgeschossen worden war. Wie ein langer Finger verband plötzlich eine Rauchspur bzw. ein Kondensstreifen die beiden Flugzeuge. Die Passagiermaschine schien die Richtung zu ändern. Später erfuhr man, dass das Flugzeug in einem Waldgebiet in Pennsylvania abgestürzt sei. Lenning war fassungslos.
„Hier wurde ein Passagierflugzeug abgeschossen“, meinte er lakonisch. „Das kann doch nur dann geschehen, wenn keine andere Möglichkeit besteht, das Flugzeug von einem für sich und andere gefährlichen Kurs abzubringen. Ein Pilot kann im Übrigen selbst sein Flugzeug niemals so in ein Hindernis fliegen“, dachte er, „Also, diese Flugzeuge sind entführt worden.“
Und tatsächlich sprach der Sprecher im Fernsehen diese zur Gewissheit werdende Vermutung wenig später unverblümt aus. „Selbstmordattentäter“, zuckte es Lenning durch den Kopf. Er dachte an Ellen und das Gespräch von vorhin.
Lenning blickte wieder zum Fernseher und dann.., es war kaum zu glauben, der zuerst getroffene Turm des World Trade Center sackte in sich zusammen. Wenig später sollte ihm der zweite folgen und das bei besserer Bildqualität am Fernseher. Wie Kaskaden wurde der Schutt zur Seite geworfen, um dann in endlose Tiefe zu fallen. Lennings Fantasie sah verschüttete Fahrzeuge und Menschen unten auf der Straße. Diesbezügliche Bilder sollten erst viel später kommen. Der sich ausbreitende Rauch, der sogar, wie Lenning später erfuhr, vom Weltraum aus zu beobachten war, verdunkelte das Licht in den Straßen New Yorks. Lenning fühlte sich instinktiv an das alte Testament erinnert. Auch dort war ein Turm zusammengebrochen. Warum Lenning diese Gedanken hatte, konnte er sich zunächst selbst nicht erklären. Später jedoch, als er das wie ein Gerippe aus dem Boden aufragende Reststück der Fassade stehen sah, erblickten auch andere darin die Reste des Turms zu Babel und Lenning wusste plötzlich auch, warum er an dieses Ereignis erinnert worden war. Zunächst gab es verschiedene Telefonate. Lenning rief Wölfi an. Wölfi rief seinen Vater zurück. Ellen meldete sich wieder und schließlich war auch Brigitte in der Leitung, die allerdings von diesem Vorgang noch keine Kenntnis hatte.
Kurz und gut, Lenning kam nicht mehr dazu, seine Berufungsschrift zu diktieren, und was noch schlimmer war, er wusste, dass Wölfi wieder einen Tag Examensvorbereitungen verloren hatte und befürchtete schon, der Zwischenfall von New York könne für Wölfi ein weiteres zusätzliches Semester bedeuten. Ganz plötzlich schien Lenning die Sache so irreal, dass es ihm durch den Kopf zuckte: „Und das an Großmamas Geburtstag“.
Gebannt verfolgte Lenning noch eine zeitlang die Bilder im Fernsehen, die er noch nicht mitbekommen hatte und entschloss sich dann kurzerhand, als Freddy, der auch noch nichts von den Ereignissen wusste, zurückkam.
„Heute gehen wir in den Biergarten!“
Und so begaben sich die vier in einen schönen Biergarten, Richtung Königslutter. Diesen Biergarten, nahe am Wald, kannte Lenning schon viel länger, als das Büro in Braunschweig existierte.