Читать книгу Die Mächtigen, die Scheinmächtigen und die Ohnmächtigen - Werner Linn - Страница 7
In Tirol (1)
ОглавлениеLenning wollte unwillkürlich mit den Gedanken nach Afghanistan zurückkehren. Dies war der feinfühligen Ellen auch sofort aufgefallen, die augenblicklich das Thema wechselte, indem sie auf das Hinweisschild, das die Autobahnabfahrt Pustertal markierte, zeigte und meinte:
„Erinnerst Du Dich noch an den letzten Winter, als wir skifahren waren?“
Lenning war augenblicklich aus seinen Gedanken herausgerissen, und in der Tat fuhren sie soeben an der Ausfahrt Sterzing vorbei und näherten sich Franzenfeste. Im März diesen Jahres war Lenning mit Ellen und den beiden Mädchen in Meransen zum Skifahren gewesen. Damals lag hier wunderschöner Schnee, was wegen der Alpensüdlage nicht ganz selbstverständlich war, zumal im März hier schon erstes Grün durchdringt und die höchste Stelle am Gitschberg nur knapp über 2000 Meter liegt. Lenning hatte damals einen Bandscheibenvorfall erlitten und konnte nicht mehr auf den Skiern stehen... und dann war Rooy gekommen, sein australischer Freund.
Lenning hatte sich gerade zum Arzt begeben und eine Spritze bekommen, als sein Mobiltelefon sich rührte. Auf die Vibration des stummgeschalteten Telefon hin, nahm Lenning das Gespräch an und war nicht wenig erstaunt, Rooys Stimme zu hören.
„Wolf,“ meinte Rooy in der ihm eigenen lakonischen Kürze, „wo steckst Du? Sag es mir genau, ich steh nämlich bei Deinem Auto und warte auf Dich.“
Lenning holte tief Luft: „Rooy, ich kann Dich schon sehen, dreh dich um.
Rooy war in Tirol, welch ein Zufall! Er kam Lenning entgegen und sie schüttelten sich freundschaftlich die Hände.
„Das ist aber eine Überraschung!“ meinte Lenning. „Wo kommst Du denn her? Bist Du allein?“
„Nur der Reihe nach“, meinte Rooy. „Ich komme aus Italien und bei mir ist Ruth. Und was machst Du hier, Wolf? Du bist ja gar nicht zum Skilaufen, obwohl so tolles Wetter ist und so viel Schnee liegt.“
„Ja,“ meinte Lenning, indem er sich streckte, „die Bandscheiben wieder einmal!“
„Die Bandscheiben?“ wiederholte Rooy. „Wenn das all Deine Probleme sind, sei froh. Bei mir spielt das Herz nicht mehr so mit und ich spüre schon wieder die Höhe und die Steigung“, setzte er hinzu.
Die beiden waren nämlich schon in Richtung Hotel und dabei einen winzigen Abhang hinauf gegangen. Rooy hielt mit der rechten Hand seine linke obere Körperhälfte und meinte:
„Ja, bei so etwas bleibt einem der Atem weg.“
Lenning lachte: „Dir bleibt dann auch wo anders der Atem weg“, spottete er und Rooy wollte es gerade überhören, aber da mischte sich eine reizende Stimme in das Gespräch.
„Rooy warte, sonst bleibt Dir wirklich der Atem weg.“
Es war Ruth die sich den beiden von hinten genähert hatte.
„Aber“, meinte sie „für guten Sex reicht es noch.“
Lenning war überrascht über diese Äußerung aus Ruths Mund, aber er verbarg sein Erstaunen und schüttelte ihr freundlich die Hand.
„Das ist aber nett, dass wir uns hier getroffen haben. Habt Ihr schon eine Unterkunft?“
„Ja,“ meinte er. „Nachdem wir Dein Auto hier gesehen haben, nahmen wir an, dass es das beste Hotel am Platz ist und haben uns gleich eingemietet.“
„Ah ja“, dehnte Lenning. „Wahrscheinlich genau neben unserem Zimmer!“
„Genau!“ lachte Rooy und zog Lenning an die Bar. „Lass uns erst einen auf unser Wiedersehen trinken. Es ist ja wirklich ein unglaublicher Zufall. Wir kommen nämlich von einer Messe in Italien und wollten nach Tirol fahren und dann hat es uns hier so gut gefallen, dass wir die Autobahn verlassen haben und Ruth hat im Reiseführer wunderschöne Dinge gefunden; der Ort heißt “Merano.“
Lenning staunte nicht schlecht, dass Rooy Meransen mit Meran verwechselt hatte und dann noch die italienische Bezeichnung wählte.
„Was hast Du denn hier Ruth?“ fragte Lenning und deutete auf ein Buch, in dem Ruth etwas zu suchen schien.
„Das ist ein Wörterbuch, Englisch – Italienisch. Ich möchte nämlich etwas bestellen.“ sagte Ruth.
„Und dann willst Du hier Italienisch sprechen?“ Lenning kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Ja, Wolf, was sollen wir denn sonst in Italien sprechen, vielleicht Chinesisch?“ meinte Rooy.
„Ihr seid noch nicht lange hier, oder? Woher kommt Ihr denn genau?“
Rooy wollte kompliziert antworten, aber das Ganze klärte sich leicht auf. Die beiden waren bei einer Messe für Bäckereibedarf in Modena gewesen und wollten bis zum Wochenende nach Tirol reisen. Dabei war Ihnen nicht bekannt, dass Tirol aus verschiedenen Teilen besteht und Südtirol zum Staatsgebiet der italienischen Republik gehört. In Italien hatten sie sich ein Wörterbuch gekauft und da sie nicht gemerkt hatten, dass sie bereits in Tirol, wenn auch “nur“ in dem Gebiet von Südtirol waren, versuchten sie, jede Kontaktaufnahme auf Italienisch und obwohl sie beide Deutsch gut beherrschten, merkten sie nicht, dass um sie herum überwiegend Deutsch gesprochen wurde.
Lenning fragte, was man denn trinken wolle und auf seine Empfehlung hin entschieden sich die drei für eine Flasche Wein. Lenning sprach den Juniorchef an, der heute selbst bediente und bat ihn um einen gut gekühlten Tiroler Gewürztraminer.
Ruth war immer noch ungläubig: „Auch der Barkeeper spricht ja deutsch!“
Dieser hatte verstanden und sagte ganz ernst: „Liebe Frau, ich kann besser deutsch sprechen als italienisch, obwohl italienisch meine erste Fremdsprache war.“
Rooy und Ruth blieb der Mund offen stehen. Zu oft hatte Wolf Scherze getrieben, auf die sie beide hereingefallen waren, aber diesmal schien es kein Scherz zu sein.
„Sind wir hier in Deutschland?“ fragte Ruth.
Nun lachte der Juniorchef: „Jetzt, wo wir auch bald die gleiche Währung haben und die Grenze am Brenner ohnehin nicht mehr besetzt ist, kann man sagen, wir sind im südlichsten Zipfel Deutschlands.“
„Ganz nah der italienischen Grenze“, merkte Lenning an und man prostete sich zu.
„Der Wein schmeckt wie ein Wein, den wir bei Dir in der Pfalz getrunken haben.“ sagte Rooy. „Ganz genau so würzig.“
„Ja“, schaltete sich jetzt wieder der Juniorchef ein, der sich als recht guter Weinkenner erwiesen hatte. „In der Pfalz wird sehr viel Gewürztraminer angebaut, besonders in der Südpfalz. Jedes Weingut hat “seinen“ Gewürztraminer und man möchte ihn möglichst gut ausgebaut haben und prämiert sehen. In der Pfalz ist er oft lieblicher, dieser kommt direkt aus Tramin, dem Ort, nach dem er seinen Namen hat.“
„Und wo liegt Tramin?“ forschte Rooy, der auch immer sehr interessiert daran war, seine Weinkenntnisse zu erweitern.
„Tramin liegt hier in Südtirol an der Weinstraße.“
„Oh!“ sagte Rooy und machte eine Geste, als ob ihm schwindelig wurde. „Hier gibt es auch eine Weinstraße? Ich war doch mit Dir an der Weinstraße und wir haben Wein getrunken und dazu Kuchen gegessen, Wolf.“
„Mit Zwiebeln drauf!“ ergänzte Ruth und verzog etwas den Mund.
„Ja, bei Euch in der Pfalz gibt es auch eine Weinstraße und zwischen einzelnen Gemeinden sogar Partnerschaften,“ wusste Franzl. „Ich war sogar als Schüler bei einem Austausch dort und es hat mir sehr gut gefallen.“
Die Australier waren sehr erstaunt und das Gespräch wäre noch ewig weitergegangen, wäre Ellen mit den Kindern nicht irgendwann hereingekommen. Sie war auf der Suche nach Wolf und den konnte man im Zweifel an der Bar finden. Ellen war nicht wenig überrascht, Rooy und Ruth hier zu sehen und es fiel ihr sehr schwer zu glauben, dass Wolf das nicht alles geplant und ihr verschwiegen hatte. Wiederholt musste Lenning Ellen gegenüber beteuern, dass es nicht seine Idee war, Rooy im Urlaub zu treffen. Man verabredete sich zum gemeinsamen Abendessen in etwa einer halben Stunde schon, weil Lenning und die Familie danach noch ins Schwimmbad bzw. in die Sauna gehen wollten.
Rooy und Ruth blieben noch eine Zeit lang bei dem fachkundigen Franzl sitzen und staunten nicht schlecht über Gemeinsamkeiten zwischen Tirol und der Pfalz. Sie lauschten seinen Worten, als er über Bergwerke berichtete, die im „Tiroler Stil“ auch in der Pfalz zu finden seien.
„Ich habe gar nicht gewusst, dass die Pfalz Bergbau hat. Jedenfalls hat mir Wolf bisher noch nie etwas davon erzählt,“ meinte Rooy.
Und Wolf, der gerade im Gehen war, meinte „Wenn Du das nächste Mal in der Pfalz bist, werde ich Dir das ein oder andere Bergwerk zeigen. Selbstverständlich nur historische!“ damit verschwand er.
Beim Abendessen war heute der besondere Tag für dieses Hotel. Das sogenannte „Candlelightdinner“ war Höhepunkt der Woche und es gab an diesem Tag sechs Gänge und man musste recht früh anfangen, damit nicht das Ganze zum abendfüllenden Programm wurde. Kerzen brannten auf silbernen Lüstern und das Licht war im Raum leicht abgedunkelt. Selbst am Salatbüfett kam es wegen der dort brennenden Kerzen nicht selten zu Zwischenfällen, wenn Gäste beim Salatholen sich an irgendeiner Stelle, meistens an den Unterarmen leicht verbrannten. Für Lenning war das ein Schauspiel, das ihn so fesselte, dass er oft das Gespräch am Tisch vergaß.
Heute kamen Rooy und Ruth in alpenländischem Stil gekleidet. Auch wenn das Ganze nicht unbedingt zum Candlelightdinner mit weißem Hemd und Krawatte passte, so hatten die beiden ein so exotisches Aussehen, dass selbst Franzl zweimal hinschaute, denn Australier in Lederhose und Dirndl waren ihm noch nicht untergekommen. Schließlich schien das illustre Pärchen Lenning dermaßen zu fesseln, dass er gar nicht bemerkte, dass eine hellblonde Dame sich gerade ihre hellblaue Seidenbluse am Salatbüfett angezündet hatte und quiekend mit Armschütteln durch den Saal nach draußen sprang, wohl um sich mit Wasser zu kühlen.
Rooy war in hervorragender Laune und meinte, beim Wein wolle er nun mitbestimmen. Er hatte von Franzl eine Menge über Tiroler Wein gelernt und wirklich kam auch kurz darauf Franzl, dem Rooy schon zuvor seine Bestellung aufgegeben hatte.
Zur Vorspeise, einem Cocktail mit Nordseekrabben, gab es einen wunderbaren Chardonnay, während der Hauptgang, ein Chateau Briand, als Begleiter einen Cabernet Sauvignon erhielt. Rooy hatte an alles gedacht, sogar ein Grappa kam zum Soufflé. Lenning staunte nicht schlecht und Rooy genoss seine Anerkennung.
„Was machen wir denn morgen alter Knabe?“ begann Rooy, gerade als Franzl hinzukam.
„Hallo Franzl. Komm setz´ Dich da her und trink mit uns ein Glas Grappa!“ bat Rooy, der mit Franzl schon heute Nachmittag Bruderschaft getrunken hatte.
Franzl meinte, am nächsten Tag könne man vielleicht, nachdem die Lifte geschlossen hätten, eine große Schlittenpartie starten.
„Nicht schlecht, wenn nur meine Bandscheiben hier mitspielen würden“, wandte Lenning ein.
„Oh, die Bandscheiben sind bis morgen in Ordnung, Wolf“, sagte Rooy und man verabredete sich für den nächsten Nachmittag auf eine Schlittenpartie vom Gitschberg bis zum Hotel.
Zuvor wollte Lenning mit Rooy und Ruth nach Meran fahren, einen kurzen Einkaufsbummel machen und danach in Nals Wein einkaufen, während Ellen und die Kinder tagsüber zum Skilaufen gingen. Rooy und Ruth waren begeistert. Beide konnten nicht Skilaufen, aber Schlitten fahren; das sollte ihnen gelingen.
Franzl würde die Schlitten organisieren und dann würde es losgehen. Die Runde löste sich erst viel zu spät auf und Lenning und seine Familie sollten kaum noch Zeit für Schwimmbad und Sauna haben, denn bereits um 22:00 Uhr war dort zugesperrt worden. Doch Franzl hatte das Gespräch mitbekommen und versprach, noch einmal aufzusperren.
Insgesamt war die Stimmung sehr laut, als Ellen und die Kinder meinten, sie seien eigentlich schon viel zu müde für ein fast mitternächtliches Bad und die Sauna sei nach diesem opulenten Mahl wohl für das Herz nicht ganz ungefährlich. Lenning jedoch ließ sich nicht beirren und seine Überredungskunst reichte immerhin noch, um Carola, die kleinere von beiden Töchtern, dazu zu bewegen, ihm Gesellschaft zu leisten, während Ellen und Birgit zu Bett gingen.
Carola war inzwischen nicht mehr das ganz kleine Mädchen und Lenning bemerkte, dass sein Töchterchen sich weiterentwickelt hatte. Aus einem Kind begann eine junge Dame zu werden und der Blick auf ihre sprießenden Knöspchen begann Lenning Angst einzujagen. Wie lange würde es noch dauern, bis junge Männer sich um das Nesthäkchen bemühen würden und die Familienidylle würde auf das Höchste bedroht sein. Nicht, dass Lenning Eifersucht empfinden würde, aber er hasste jegliches Eindringen in den familiären Bereich. Rooy wäre eigentlich Lenning im Urlaub auch nicht willkommen gewesen, wäre er nicht mit der Zeit einer seiner besten Freunde geworden. So verstand er aber dennoch Ellen, die das Auftauchen eines Mandanten, wenn auch eines Freundes, im Urlaub nicht gerade begrüßte. Auch sie mochte Rooy und Ruth, allerdings hielt sie beide viel mehr auf Abstand als Lenning, der ja auch am nächsten Morgen mit beiden nach Meran fahren wollte.
„Ja, Familienidylle ist eine Definitionssache“, dachte Lenning und plauderte freundschaftlich mit Carola, die ihren Vater ganz verliebt anschaute.
„Gelt, morgen fahren wir zusammen auf einem Schlitten?“ fragte sie.
Lenning überhörte seine Tochter und dachte an den Zeitplan, der recht schwierig einzuhalten war, wollte man tatsächlich noch vor dem Schließen der Lifte den Gitschberg hinaufkommen.
„Fährst Du mit mir morgen auf einem Schlitten oder muss ich mit Birgit fahren?“ bedrängte Carola ihren Vater.
„Nein, wenn Du willst, fahren wir beide und Birgit kann mit Mama fahren.“
Carola freute sich und klatschte sogar in die Hände. „Dann werden wir gewinnen, denn wir fahren schneller!“ erklärte sie, während sie gerade neues Wasser aufgoss.
Die Hitze war plötzlich spürbar geworden und der neue Aufguss hatte zur Folge, dass beide schon nach kurzer Zeit die Sauna verließen, um ins eiskalte Wasser zu springen.
Carola war immer mehr das Papakind gewesen, während es Birgit, die Ältere, deutlich mehr zur Mutter hinzog. So war es auch nicht verwunderlich, dass Vater und Tochter noch eine geraume Zeit in der Badelandschaft verbrachten und schließlich im Whirlpool Carola die Müdigkeit überkam. Sie gähnte unaufhörlich und das Gespräch begann zu stocken.
„Sollen wir ins Bett gehen?“ meinte Lenning und Carola konnte kaum noch nicken.
Beide wollten gerade das Bad verlassen und suchten ihre Bademäntel, als sie Stimmen hörten. Rooy und Ruth sprachen Englisch miteinander und näherten sich offensichtlich dem Badebereich.
„Morgen wird es wunderbar!“ meinte Rooy und Ruth schien etwas von ihm zu wollen.
„Du fliehst ins Bad, obwohl wir heute früh ins Bett wollten. Weißt Du, was Du mir versprochen hast? Wir sollten jeden Tag guten Sex haben.“
„Oh,“ stöhnte Rooy, „Du mit Deinem guten Sex. Meinst Du nicht, ein Bad oder eine Sauna würden uns jetzt frischer machen?“
„Jetzt ja, aber wenn wir raufkommen...“, meinte Ruth und bemerkte plötzlich Lenning mit Tochter.
Beide schmunzelten und Carola warf ihrem Vater einen vielsagenden Blick zu. Ruth errötete keineswegs und scheute sich auch nicht vor dem jungen Mädchen.
„Dein Freund will lieber ins Bad als ins Bett!“ sagte sie zu Lenning. „Dabei entflieht er bewusst meinen Begierden.“
Lenning war perplex. Eigentlich musste er lachen, aber ganz ernst meinte er: „Ruth, Rooy flieht nicht. Er möchte es nur im Bad mit Dir treiben…“ und ohne Rooys Protest abzuwarten, umarmte er Carola und verließ den Badebereich.
Carola schaute ihren Vater von der Seite an. „Hast Du das eben ernst gemeint?“ fragte sie.
Lenning lachte und nickte: „Ja, den alten Knaben wird noch der Schlag treffen.“
„Eigentlich ein schöner Tod“, meinte Carola und beide gingen die Treppe hinauf.
„Glaubst Du, dass Ruth nur so tut?“
„Interessiert Dich das?“
Carola schüttelte den Kopf.
„Sicher nein, aber ich habe noch nie eine Frau so reden hören.“
„Weißt Du, Carola,“ entgegnete ihr Vater, „als ich so alt war, wie Du jetzt bist, bin ich in England in die Schule gegangen und damals ist mir aufgefallen, dass englische Mädchen viel leichter zu haben waren, als die bei uns zu Hause.“
„Das hat Dir damals sicher sehr gut gefallen!“ lachte Carola.
Lenning grinste: „Na ja, und was ist heute?“
„Ja!“ dehnte Carola. „Bei uns in der Klasse gibt es kaum noch Jungfrauen.“
Lenning schaute seine Tochter missbilligend an.
„Weißt Du, einige haben es schon mit mehreren Jungen getrieben.“
Lenning war entsetzt. „Carola, Du weißt aber, dass sich ein junges Mädchen nicht so einfach wegwerfen sollte.“
Carola nickte ernster als vorher und Lenning meinte beschwichtigend: „Und dazu kommt, das ist mir damals schon aufgefallen, dass Mädchen mit vielem angeben, was sie noch gar nicht erlebt haben.“
„Ja,“ meinte Carola, „wenn ich nur an meine Freundin...“
Das Gespräch wurde unterbrochen, denn Ellen kam ihnen auf dem Gang entgegen.
„Ich wollte schon nach Euch sehen, ob Euch etwas zugestoßen ist!“ rief sie schon von weitem. „Birgit schläft schon.“
„Ja, Ellen,“ erklärte er, „unsere Tochter wird langsam flügge.“
Ellen wusste sofort was Wolf meinte. „Du kannst sie auf jeden Fall nicht einsperren!“ erklärte sie.
„Davon bin ich weit entfernt, aber ich kann ihr erklären, dass sie, als meine Tochter...“
„Sch...“ unterbrach ihn Ellen, „nicht noch heute Nacht.“ und mit strengem Blick dirigierte sie Wolf in sein Bett, während Carola in das Mädchenzimmer zu verschwinden hatte.
Der nächste Morgen begann recht früh. Ellen hatte das Klopfen an der Tür zuerst gehört und stieß Wolf an.
„Dein Freund Rooy kommt, Dich schon abholen. Du hast ja versprochen, mit ihnen nach Meran zu fahren.“
Und tatsächlich war Rooy schon vor 8:00 Uhr an der Tür.
Beim Frühstück ging es heute recht ruhig zu. Die Kinder schienen zu kurz geschlafen zu haben und Ellen fühlte sich nicht ganz wohl. Ruth und Rooy sahen aus, als hätten sie die ganze Nacht durchgezecht und redeten kaum etwas. Der einzige, der wie gewöhnlich morgens guter Laune war, war Lenning, der versuchte, die anderen aufzumuntern, was ihm jedoch nur teilweise gelang. Rooy ging schließlich auf seine Scherze ein und man brach schon bald nach Meran auf.
Es war strahlender Sonnenschein, als Lenning, Rooy, Ruth und Dax sich der Autobahn näherten.
„Wir wollten doch über einen Pass fahren?!“ wandte Rooy ein, als Lenning auf die Autobahn auffuhr.
„Ja, Rooy. Ich habe vergessen, dass sämtliche Pässe noch Wintersperre haben.“ entgegnete Lenning und ohne zu zögern fuhr er zur Mautstelle.
„Gibt es keinen idyllischeren Weg dorthin?“ versuchte es Ruth noch mal. „Die Autobahn kennen wir doch schon, die sind wir gestern gefahren.“
Lenning schüttelte den Kopf. „Wenn es möglich ist, fahren wir über die Landstraße zurück. Aber das sehen wir alles erst heute Nachmittag.“
Lenning wusste, dass eine Fahrt über die Landstraße zu lange dauern würde. Außerdem gab es auch genug zu sehen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, an einem solchen Tag noch Schneeketten aufziehen zu müssen. Nach kurzer Zeit schon rasten sie an Klausen vorbei und Rooy und Ruth kamen aus dem Staunen gar nicht heraus.
„Das haben wir gestern gar nicht bemerkt“, meinte Ruth ehrlich und Lenning konnte es sich nicht verkneifen, anzumerken, dass Ruth wohl durch Rooy zu arg abgelenkt gewesen sei.
Schließlich erreichten die vier Bozen.
„Wisst Ihr was? Ihr könnt Euren Einkaufsbummel in Bozen machen, dann sparen wir uns Meran.“ plante Lenning und fuhr direkt zum Siegestor. Dieses Denkmal faschistischer Baukunst, das allen Tirolern ein Dorn im Auge war, sollte Lenning Anlass geben, Rooy etwas über die Geschichte dieser Stadt zu erzählen. Sie fuhren ganz langsam durch den Halbkreis, als Lenning eine Gruppe von Männern bemerkte, die vor dem Siegestor standen und sich unterhielten. Im ersten Augenblick merkte Lenning, dass es sich wohl um Araber handeln müsste. Auch Rooy blickte zu dieser Gruppe hin, die eben im Begriff stand, vor dem langsam fahrenden Fahrzeug Lennings die Straße zu überqueren. Unwillkürlich hielt Lenning an. Der eine der Männer kam ihm sehr bekannt vor. Dieser Mann blickte Lenning scharf in die Augen. Auch er schien Lenning erkannt zu haben. Jedenfalls verharrte sein Blick länger als normal auf ihm. Die Gruppe überquerte die Straße und bewegte sich weiter in Richtung Westen. Lenning parkte das Fahrzeug am Straßenrand.
„Ihr könnt jetzt hier Euren Einkaufsbummel machen und wir“, er zeigte auf Dax, „gehen ein wenig Gassi.“
Lenning wartete gar nicht erst Rooys oder Ruths Antwort ab, sondern öffnete die Tür. Ihn interessierte die Gruppe Araber, die sich schnellen Schrittes einer Bank näherten. Lenning nickte Rooy freundlich zu, als dieser auf ein Souvenirgeschäft zeigte, in das Ruth schon verschwunden war. Rooy ging in ein Bekleidungshaus daneben und so war im Prinzip vorprogrammiert, dass Ruth und Rooy sich innerhalb kürzester Zeit verlieren mussten. Lenning, der zeitliche Verzögerungen fürchtete, wollte gerade Ruth in den Souvenirladen folgen, als er fast mit einem Mann zusammenstieß, der gerade herauskam. Der Mann hatte eine riesige Nase und ging leicht nach vorn gebeugt.
„Pardon!“ wollte sich der Mann entschuldigen, indem er mit beiden Händen Lenning in die Ellbogenbeugen fasste.
Lenning war sehr empfindlich gegen die Berührung durch Fremde. Eben als er gerade ausweichen wollte, blickte er dem Fremden nochmals ins Gesicht.
„Hallo, sind das Sie, Herr Olschewski oder täusche ich mich?“ begann er stockend, während der Fremde von einem zum anderen Ohr zu grinsen begann und mit beiden Händen zu den Handgelenken rutschte und beide Hände heftig von oben nach unten zu schütteln begann.
„Herr Lenning, wie schön, dass wir uns hier treffen!“ begann der Fremde. „Wir haben uns schon lang nicht mehr gesehen…“ und in Englisch weitersprechend meinte er, er sei einer interessanten Sache hier auf der Spur. „So wie damals in Genf…“ schloss er an.
Und Lenning wurde plötzlich bewusst, wo er den Araber, der vorhin die Straße überquert hatte, schon gesehen hatte. Das war einer der Gruppe, die Lenning seinerzeit als Anwalt betreut hatte, als es darum ging, ein wichtiges Mandat abzuwickeln. Der Mann war Palästinenser, doch sein Name fiel Lenning in diesem Moment nicht ein. Olschewski hatte sich damals plötzlich bei der Gruppe wiedergefunden, doch seine Rolle war für Lenning undurchsichtig geblieben.
„Haben Sie vorhin die Araber gesehen, die in die Bank da drüben gingen?“
Olschewski war keineswegs erstaunt. „Herr Lenning sieht - wie immer – alles!“ meinte er und Lenning auf die Schulter klopfend setzte er hinzu: „Hat alles schon seine Ordnung, wenn der alte Olschewski in Bozen ist, hat auch das seinen Sinn. Aber,...“ er deutete nach der anderen Straßenseite, „selbst wenn die bald wieder herauskommen, ist meine Arbeit schon getan.“
Lenning überlegte kurz. „Warum sagte er das so?“ dachte er und noch. Bevor er mit seinen Gedanken weiterkam, erklärte Olschewski:
„Wo wohnen Sie hier in Tirol?“
Lenning erklärte, dass man beim Skifahren in einem kleinen Ort im Pustertal sei.
„Das ist sehr schön. Ich liebe Schnee“, erklärte Olschewski und kurzerhand fragte er, ob Lenning ihn mitnehmen könne, er wolle eigentlich nicht länger in der Stadt bleiben und ein Abendessen mit Freunden wäre genau das, was er sich jetzt für heute Abend wünschte.
Lenning überlegte nicht lange und fand es lustig, diesen merkwürdigen Menschen Rooy vorzustellen, als es auf der anderen Straßenseite einen lauten Krach gab. Lenning und Olschewski sahen, wie die Araber von vorhin aus der Bank gestürmt kamen, und einer heftig gestikulierend auf die Fahrbahn trat. Ein Auto konnte nur noch durch eine Notbremsung verhindern, dass der Araber umgefahren wurde. Das nachfolgende Auto jedoch vermochte nicht mehr zu bremsen und war mit dem Heck des vor ihm haltenden Wagens kollidiert, was einen lauten Schlag gegeben hatte. Der Araber war vor Schreck wieder zurück auf die Straße gesprungen und wäre dort sicher zu Fall gekommen, wenn ihn zwei andere Männer nicht aufgefangen hätten. Olschewski schaute zu Lenning, der mit Interesse den Vorgang verfolgte.
„Was meinen Sie, was die Herren da drüben getan haben?“ wollte Olschewski von Lenning wissen. Und während Lenning die Schultern zuckte, meinte Olschewski lächelnd „Ich kann es mir schon vorstellen.“
„Sie haben Geld abgehoben oder eingezahlt,“ ergänzte Lenning und wurde nachdenklich.
Diese Männer hatten erregt die Bank verlassen. Was mochte die Ursache gewesen sein und warum war Olschewski an den Männern so interessiert? Da kam Rooy aus dem Bekleidungsgeschäft und zeigte Lenning einen Tiroler Hut, den er gerade erstanden hatte.
„Der fehlt mir noch zu meiner Tracht“, erklärte er und Lenning staunte nicht schlecht.
„Ein richtiger Tiroler Hut, noch dazu mit einem Gamsbart. Die werden in Australien Augen machen!“ lachte Rooy und war nicht wenig erstaunt, als Lenning ihm Olschewski vorstellte.
„Herr Olschewski wird mit uns zurückfahren und heute Abend bei der Schlittenpartie dabei sein.“
„Eine Schlittenpartie?“ meinte Olschewski. „Reizend, auf so etwas habe ich mich schon lange gefreut.“
Olschewski begrüßte Rooy mit Handschlag und während Rooy Ruth vorstellte, sah Lenning wieder auf die andere Straßenseite. Die Araber waren gerade dabei, wieder in die Bank zurückzugehen. Das ganze Verhalten war für Lenning äußerst merkwürdig. Auch fiel Lenning auf, dass Olschewski die Gruppe anscheinend aus den Augenwinkeln beobachtete, während er irgendwelche Höflichkeitsfloskeln den Australiern gegenüber zum Besten gab.
Olschewski beobachtete scheinbar unauffällig die Auseinandersetzung der fremdländisch wirkenden Personen auf der anderen Straßenseite. Durch den Verkehrsunfall war sehr viel Aufmerksamkeit auf diese Gruppe gezogen worden, die offensichtlich darüber nicht sehr glücklich war. Zurufe eines Mannes diesseits der Straße schreckten die Männer auf der anderen Straßenseite auf. Die Gruppe begab sich schnellen Schrittes jetzt zu den Arkaden und verschwand in einer Passage. Ein Autofahrer, wahrscheinlich der des aufgefahrenen Fahrzeuges, versuchte, ihnen nachzueilen und ließ sein Fahrzeug auf der Straße stehen. Nach etwa einer Minute erschien er laut schreiend wieder unter den Arkaden und fuchtelte mit den Händen. Lenning wäre sehr interessiert gewesen, zu erfahren, was sich dort abgespielt hatte, aber Rooy mahnte „man müsse doch jetzt zur Weinprobe gehen und auch noch etwas essen“, und Olschewski riet Lenning massiv ab, dort weiter nachzuschauen.
In seinem eigentümlichen Akzent begann er:
„Wenn man die Nase in etwas steckt, was nicht für die Nase bestimmt ist, sondern möglicherweise für jemanden anders, dann kann es passieren, dass die Nase in einer Mausefalle steckt. Schnapp!“ und mit den Fingern schnalzte er so vor der Nase Lennings, dass dieser unwillkürlich zurückschreckte.
„Lass´ wenigstens meine Nase noch dran“, meinte er und fragte Olschewski, wo er sein Gepäck habe.
Olschewski schien sichtlich erleichtert zu sein, dass Lenning nicht mehr dem Treiben der Südländer auf der anderen Straßenseite folgte und erklärte sofort, man brauche nur an seinem Hotel vorbeifahren. Er könne blitzschnell beim Pförtner sein Gepäck abholen. Das Hotel liege ohnehin an der Ausfallstraße nach Westen. Lenning wollte gerade Olschewski fragen, wieso dieser wüsste, dass man auf der Straße nach Westen Bozen verlassen wollte, als der Mann, der die Gruppe von dieser Straßenseite aus angerufen hatte, plötzlich Olschewski einige Worte in einer fremden Sprache zurief. Olschewski reagierte überhaupt nicht und der Fremde wechselte die Straßenseite, um nach den Arkaden in die Passage einzubiegen. Lenning blickte ihm nach, bis er verschwunden war, dann fragte er Olschewski: „Haben Sie diesen Mann bemerkt? Er hat mit Ihnen gesprochen.“
Olschewski lachte. „Der muss mich verwechselt haben.“
„Was hat er denn gesagt?“ fragte Lenning.
Olschewski wollte gerade antworten, als Rooy mit Ruth erneut zum Aufbruch drängte und betonte, man müsse doch mal ein Mittagessen zu sich nehmen, da sonst insbesondere Ruth krank werden würde.
„Wolf, Du weißt, sie hat einen kaputten Magen und wird möglicherweise, weil sie sonst auch nicht gesund ist, das Ganze bis heute Abend nicht durchhalten.“
Rooy war besorgt und Lenning konnte es ihm nicht verdenken. Also begaben sich alle schnell zu dem Fahrzeug. Olschewski stieg vorn ein, denn Rooy hatte ihm seinen Platz, wo er zuvor gesessen hatte, angeboten und lockte nun Dax nach hinten zu sich auf die Rückbank. Das Bild war wirklich malerisch, wie Dax zwischen Rooy und Ruth in der Mitte Platz genommen hatte und nach beiden Seiten wie einen Handkuss seine Zunge hinwarf und schließlich einen Augenblick überlegte, ob er nicht über die Mittelkonsole nach vorn springen sollte, denn Olschewski schien sein Interesse geweckt zu haben. Olschewski seinerseits war dies peinlich und Lenning glaubte, er scheue sich vor dem Hund, weil vielleicht seine Körperausdünstung diesen Hund so zu faszinieren schien. Lenning befahl jedoch Dax, hinten zu bleiben und Dax als folgsamer Rüde gehorchte. Wenig später war das Auto an der Cardornakaserne vorbei, aus der Innenstadt heraus und auf die Schnellstraße aufgefahren.
„Wollen wir ins Braustübl gehen oder in ein Weinlokal?“
Rooy überlegte nicht lange. „Ein Braustübl gibt’s hier auch? Ein richtiges Brauhaus?“
„Ja“, erklärte Lenning. „Es ist zwar ein kleiner Umweg, aber Dir wird es sicher gefallen.
Lenning fuhr auf der Schnellstraße weiter an Meran vorbei bis Algund und direkt auf den Parkplatz des dortigen Brauhauses.
Rooy kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das sieht ja fast aus wie in Bayern. Da ist ein Biergarten auf der anderen Straßenseite, leider noch nicht geöffnet und dann ein Maibaum.“ Er rieb sich die Augen: „Und wie schmeckt das Bier, hey?“ fragte er Lenning und klopfte ihm mit den Knöcheln seiner rechten Hand unsanft auf die Brust.
Lenning verstand diese Hektik zunächst gar nicht, aber dann fiel ihm doch ein, dass Rooy als gebürtiger Niederländer gerade auch eine besondere Schwäche für Bier hatte und beim Hineingehen erklärte Lenning, dass man ja alles durchprobieren könne. Insbesondere seien zu empfehlen ein gutes Pilsner, das hier den sinnig-unsinnigen Namen „VIP“ trug und ein Bockbier, das mit einem beachtlichen Stammwürzanteil seinem Ruf als flüssiges Brot sicher gerecht wurde. Lenning suchte einen leeren Tisch, konnte jedoch nur im hinteren Raum bei den großen Tischen einen halben Tisch unbesetzt finden. Rooy und Ruth setzten sich schon hin, während Lenning und Olschewski zunächst zur Toilette gehen wollten. In diesem Augenblick riss sich der Labrador von Rooy, den Lenning ihm zum Halten gegeben hatte, los und rannte den beiden nach. Zunächst dachte Lenning, das anhängliche Tier wolle ihn nicht allein zur Toilette gehen lassen, staunte jedoch nicht schlecht, als Dax auf Olschewski zurannte und diesen massiv beschnüffelte und plötzlich, keiner konnte es verhindern, ein Taschentuch aus Olschewskis Hosentasche zog. Das Ganze ging so schnell, dass weder Lenning noch Olschewski etwas dagegen tun konnten und auch Rooy, der dem Hund nachgerannt war, sah sich außer Stande einzugreifen. Als Lenning Dax ablegen lassen wollte, stellte er fest, dass es sich um ein blutverschmiertes Stofftaschentuch handelte. Lenning schaute Olschewski an und griff nach dem Taschentuch, das Dax nicht sofort hergeben wollte. Erst als Lenning ihn sitzen ließ und ihm mit der Hand über den Kopf streichelte und „aus“ sagte, ließ Dax dieses Taschentuch los und Olschewski steckte es ein und verschwand auf die Toilette. Lenning ging ihm nach, während Rooy sich mit Dax zurück an den Tisch begab. Lenning kam auf Olschewski zu, der vor dem Spiegel stand und ihn deshalb beim Eintreten sah und sich die Hände wusch.
„Das ist ein scharfer Hund“, meinte er und lachte.
Lenning lachte keineswegs, sondern war sehr ernst. „Haben Sie sich irgendwo verletzt? Das blutige Taschentuch...“
„Nein“, sagte Olschewski zögernd.
„Und woher kommt dann das Blut?“ fragte Lenning nach „Und wer war der Mann, der Sie dort in Bozen angesprochen hatte?“
„Das sind viele Fragen und ich habe keine Antwort“, lachte Olschewski und schaute das Taschentuch an. „Ich hatte Nasenbluten und es ist ein so schönes Taschentuch, dass ich es nicht wegwerfen wollte.“
Es war wirklich ein feines Taschentuch, sogar mit einem Monogramm. Lenning wollte gerade das Monogramm entziffern, aber Olschewski steckte es ein.
„Ein unappetitliches Taschentuch. Sie wollen doch nicht Ihre Nase da hineinstecken?“
Lenning lachte und meinte: „Es ist sogar mit einem Monogramm versehen. Was steht denn da drauf?“
Olschewski zögerte keinen Moment. „Das habe ich ja noch gar nicht gesehen. Lassen Sie mich nachsehen.“
Er zog das Taschentuch kurz vor, hielt es Lenning hin und meinte, „Das ist ein Werbegeschenk von irgendeiner Textilfirma!“
Lenning hatte lange genug das Monogramm anschauen können, um festzustellen, dass es kein ihm bekannter Schriftzug war. „Ist das arabisch?“ und Olschewski steckte das Taschentuch abrupt fort. „Können Sie arabisch?“
Lenning lachte. „Man muss alles einmal versucht haben. Wollen Sie mir nicht das Monogramm noch einmal zeigen?“
Olschewski zog das Taschentuch noch einmal aus der Tasche und hielt es Lenning widerwillig hin. Lenning konnte das Monogramm nicht entziffern und Olschewski steckte das Taschentuch wieder ein.
„Und der Mann, der Ihnen vorhin zugerufen hatte? Was hat er gesagt?“
„Ein Mann hat mir zugerufen?“ Olschewski stellte sich dumm.
„Ja, dort bei dieser Gruppe von Arabern auf der Straße in Bozen..., gerade als wir uns getroffen hatten, nach dem Siegesdenkmal.“
Olschewski zog die Stirn in Runzeln und griff sich mit Zeigefinger und Daumen an die Lippe, presste die Lippenspitze zwischen Zeigefinger und Daumen, dass sein Aussehen noch merkwürdiger wurde, verdrehte die Augen zum Himmel.
Es hatte keinen Zweck. Lenning sah den Mann noch vor sich, wie er Olschewski angerufen hatte, aber es hatte keinen Zweck.
Das Essen schmeckte allen vorzüglich und insbesondere das Bier hatte es Rooy angetan.
„Kann man da ein paar Dosen mitnehmen?“
Lenning schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, aber Du kannst sie vielleicht im Geschäft kaufen.“
„Dieses Starkbier schmeckt hervorragend“, fand er. Rooy hatte gerade ein neues Bier angetrunken, d. h. sich durch den Schaum gekämpft. „Das liebe ich, das ist ein typisch deutsches Bier.“
Lenning lachte: „Aus Südtirol!“ ergänzte er.
Nach dem Essen verließ die Gruppe das Brauhaus und man fuhr zum Weingut in Nals. Das Weingut ist dort in einem alten Schloss untergebracht und verschiedene Fresken zeigen noch, dass es sich um eine originale Anlage handelte. Leider waren die Fresken bis heute nicht restauriert worden und das Schloss machte insgesamt einen etwas verwahrlosten Eindruck. Lenning sah den kritischen Ausdruck in Rooys Gesicht und meinte: „Wir werden ein bisschen verkosten. Du brauchst keine Angst zu haben, die Weine sind sehr, sehr gut.“
Ein freundliches Fräulein begrüßte Lenning fast überschwänglich. „Dass Sie wieder einmal hier sind, Herr Lenning, das freut uns. Haben Sie Gäste mitgebracht?“
Lenning erklärte, man sollte doch vielleicht eine kleine Weinprobe machen; das Fräulein suchte einen großen Schlüssel und man begab sich in eines der Gewölbe, wo eine ganze Weinprobe aufgebaut war.
Lenning fragte nach einem Cabernet Sauvignon und das Fräulein meinte, das sei eine gute Idee; man könne hier den Gegensatz zwischen Bariqueausbau und reinem Fassausbau demonstrieren.
Die Weinprobe verlief sehr laut, denn Ruth und Rooy kamen aus dem freudigen Erstaunen gar nicht mehr heraus. Rooy wollte zwei Kisten dieses guten Weines mitnehmen, aber Ruth meinte, das sei zuviel. Die Fluglinie werde extra Gebühren erheben bei einem solchen Übergewicht. Aber Rooy bestand darauf und so kam es, dass das Auto schwerbeladen gerade noch rechtzeitig, bevor die Lifte schlossen, in Meransen an der Talstation vorfuhr.
Lenning, Rooy und Ruth waren schon sportlich in Skihosen bzw. Winteranzügen. Nur Olschewski war denkbar ungeeignet gekleidet, denn er trug noch seinen Flanellanzug, der jedoch im Schnee nicht ausreichend Schutz bot. Lenning bot Olschewski seinen Parka an, den dieser dankbar annahm. In der Gondel schwebten nun alle der Mittelstation entgegen und sogar Dax der Labrador durfte diesmal mit.
Die Schlittenpartie sollte nach dem Schließen der Lifte stattfinden, nicht nur, weil Lenning und die anderen erst noch aus Meran zurückkommen mussten, sondern auch, weil dies nur außerhalb der Betriebszeiten gefahrlos möglich war. Immerhin sollte die Fahrt praktisch vom höchsten Punkt des Skigebiets über die wichtigsten Pisten bis hinunter durch den Wald zum Hotel führen.
Lenning, Rooy, Ruth und Olschewski kamen an der Talstation der Gitschbergbahn gegen 16:00 Uhr an, gerade pünktlich, um beim Schließen der Lifte ganz oben zu sein. Lenning hatte zuvor noch mit Franz, dem Juniorchef, telefoniert, um diesen mit den Schlitten zu bestellen. Ellen und die Kinder waren ebenfalls pünktlich an der Gipfelstation und alle freuten sich auf die wunderschöne Abfahrt. Zuvor wurde noch ein Gipfeltrunk genommen und dann verteilten sich die verschiedenen Gruppen auf Skier und Schlitten, denn letztere waren nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Franz ließ es sich nicht nehmen, selbst einen Schlitten zu steuern. Auf dem anderen Schlitten saßen Ruth und Rooy. Lenning und Ellen nahmen die Skier und die Kinder freuten sich über den von Franz speziell mitgebrachten lenkbaren Schlitten. Olschewski schaute Lenning fragend an; Lenning verstand.
„Franzl, hast Du was dagegen, einen Fremden auf Deinem Schlitten mitzunehmen?“
Franzl schaute sich um und er blickte Olschewski an. „Oh, meinst den da?“
Lenning nickte. Nicht gerade unfreundlich, aber auch ohne Zurückhaltung setzte Franzl nach: „Jesses heiliger Christ, einen Landsmann vom Chef. Da setz „di“ her.“ Und da er keine Skigarderobe dabei hatte, nahm er im Anzug und in dem von Lenning geliehenen Parka Platz.
„Das wird vielleicht lustig, dem schiebtst den Schnee zu den Hosenbeinen rein und zum Nacken wieder raus“, lachte er.
Und los ging´s. Voran fuhren Lenning und Ellen, es folgten dicht darauf die Kinder. Gerade wegen der Kinder konnte nicht so schnell gefahren werden und die Skifahrer fuhren mehr Bögen als unbedingt erforderlich, um auf dem steilen Stück Geschwindigkeit abzubauen. Und in diesem Augenblick kamen die Schlitten der Erwachsenen. Rooy mit Ruth und Franzl mit Olschewski. Sie jagten wie Geschosse den Hang hinunter und während sich Rooy mit Ruth in der ersten größeren Schneewehe überschlug und beide im Schnee landeten, jagte Franzl mit Olschewski zu Tal. Lenning blickte ihnen nach. Sie rasten an der Zassler Hütte vorbei, obwohl man doch dort noch einmal einkehren wollte. Lenning ärgerte sich etwas über Franzl, konnte ihn aber dennoch gut verstehen: Franzl hatte sich auf eine Abfahrt mit Freunden gefreut und hatte plötzlich auf dem Schlitten einen Ausländer, der Deutsch mit sehr fremden Akzent sprach. Lenning blickte zurück. Rooy und Ruth hatten sich vom Schnee befreit und saßen wieder auf dem Schlitten. Dies dauerte jedoch nicht lange, denn als ein Weg die Piste kreuzte, flog der Schlitten über den Weg hinweg und Rooy und Ruth landeten erneut im Schnee. Diesmal gelang es ihnen nicht, sich aus eigener Kraft zu befreien. Lenning musste zu Hilfe kommen und danach waren die beiden so erschöpft, dass von einer Weiterfahrt zunächst abgesehen wurde. Man zog die Schlitten zu der Zassler Hütte hinauf, um einen Glühwein zu trinken. Nach kurzer Zeit gesellte sich zu der Gruppe auch wieder Franzl. Da das Gelände dort nicht zu steil war, sah man Franzl auch keinerlei ernsthafte Ermüdung an.
Franzl stellte den Schlitten vor der Zassler Hütte ab und kam herein, ließ den Blick schweifen und fand die Gruppe um Lenning, die an einem freien Tisch in der Gaststube linker Hand zum Eingang Platz gefunden hatten. Lenning winkte Franzl, der ihn schon bemerkt hatte und fragte ihn sofort nach Olschewski, den er nicht in Franzls Begleitung sehen konnte.
„Der ist abgeblieben,“ meinte Franzl, „kurz bevor ein Schuss gefallen ist.“
„Ein Schuss gefallen?“ Lenning schaute Franzl fragend an und meinte dann: „Ja, ich glaube ich habe einen Schuss weiter unten gehört.“
„Wo der herkam, kann ich nicht sagen, aber es war nicht weit weg, von dort, wo ich Olschewski verloren haben muss. Wir sind über einen querverlaufenden Weg gefahren und mit dem Schlitten ganz schön durch die Luft geflogen, dabei hat es uns umgedreht.“
„Und Du hast nicht nach Olschewski gesucht?“ fragte Lenning ungläubig.
„Ich habe schon gesucht, aber ich konnte ihn nirgends finden. Er muss zu Fuß weitergegangen sein.“
Lenning überlegte, was nun zu tun sei. „Vielleicht ist er auch schon vorher abgeblieben und hat den Flug mit dem Schlitten gar nicht mehr mitgemacht.“
Franzl zuckte dabei unwillkürlich die Schultern, so als ob er seiner Gleichgültigkeit Ausdruck verleihen wollte.
„Du hast ihn nicht gemocht!“ meinte Lenning und schaute wiederum Franzl prüfend an.
Franzls Miene verzog sich überhaupt nicht. „Gemocht hin, gemocht her, ich hätte ihn heil unten ans Ziel gebracht, hätte er sich nicht davongemacht.“
„Du bist lustig, der Mann hat einen Anzug und Halbschuhe an und Du sagst, er hat sich hier im Schnee davongemacht. Normalerweise müssten wir sofort die Bergwacht alarmieren oder zumindest selbst noch einmal mit dem Lift hinauf fahren und die Strecke absuchen.“
Lenning war etwas ärgerlich, konnte jedoch nicht jetzt Rooy und Ruth allein zurücklassen, da die nunmehr soweit waren, dass sie wieder aufbrechen wollten.
„Bitte fahr´ uns jetzt nicht weg, sondern bleibe bei uns und das ganze nicht zu schnell“, bat Rooy. „Du weißt, ich bin herzkrank.“
Lenning musste unwillkürlich lachen. „Der, der so schnell gefahren ist, warst Du mit dem Schlitten, während ich mit den Skiern immer gebremst hab´, um Dich nicht zu verlieren. Ich dachte Du kannst Schlitten fahren?“
„Kann er auch,“ mischte sich nun Ruth ein, „aber er fährt nur am Deich hinunter und lässt dann auslaufen. In Holland sind keine so hohen Berg“… und sie lachte auch.
Offensichtlich hatten beide ihren Humor wiedergefunden und Lenning hörte noch Ruth Rooy verwarnen: „Heute Abend bist Du wieder eine richtige Schlafmütze, weil Du Dich den ganzen Tag so verausgabt hast...“
Lenning musste wieder lachen und Franzl, der das Ganze auch mitgehört hatte, meinte: „Die haben Probleme!“
Ellen und die Kinder waren zuerst fertig und nun ging es von der Zassler Hütte noch ein Stück steil bergab, wo dann die Waldabfahrt sehr flach auslaufen würde. Um dort noch genügend Geschwindigkeit zu haben, wartete Lenning, bis alle anderen vorausgefahren waren, denn er wollte im Schuss möglichst viel Geschwindigkeit gewinnen, so dass er dann auf der flachen Strecke alle überholen konnte. Lenning hatte am Waldrand zuletzt Ellen und die Kinder verschwinden sehen und war dann losgefahren. Dabei hatte er eine solche Geschwindigkeit, dass es durchaus reichen musste. Als er sich der Gruppe näherte, die erstaunlicherweise eng zusammenfuhr, krachte ein Schuss und Lenning sah, wie Franzls Schlitten einen Ruck machte. Holz splitterte und Franzl bremste unwillkürlich den Schlitten bis zum Stehen. Ellen und die Kinder hatten auch angehalten und im nächsten Augenblick war Lenning heran.
„Da hat jemand auf uns geschossen!“ rief Franzl und zeigte den zersplitterten Holm im vorderen Bereich seines Schlittens.
„Da hast Du noch mal Glück gehabt.“
„Meinst Du, das war Absicht?“
Lenning war auf diese Idee noch nicht gekommen, erschrak aber umso mehr, als er Ellens blasses Gesicht sah.
„Komm, wir wollen schnell hier weg!“ riet Ellen. „Bleib Du jetzt auf jeden Fall bei uns.“ Ellen war dem Weinen nahe.
Lenning bat Franzl, ein Auge mehr auf die Australier zu haben, da er instinktiv spürte, dass Ellen großen Wert darauf legte, nunmehr von Wolf mit den Kindern möglichst schnell zum Hotel gebracht zu werden. Die Australier würden den Schlitten bald ziehen müssen, denn an dieser Stelle war kaum Gefälle und Rooy und Ruth würden den Schlitten ohnehin hier nicht mehr richtig in Fahrt bringen können. Die Kinder schoben sich mit den Beinen rhythmisch an, so dass ihr Schlitten doch etwas Fahrt bekam, während Ellen und Wolf sich mit den Stöcken vorwärts arbeiteten. Schon nach kurzer Zeit fiel das Gelände ab zum Hotel und die Familie fuhr geradewegs an der Kirche vorbei zum Hoteleingang. Dort wurden schnell wie nie Skier und Skischuhe sowie Schlitten in den entsprechenden Skischuppen verbracht und danach begaben sich alle in die Zimmer. Gesprochen wurde bis dahin gar nichts. Schließlich, als alle schon die Skikleidung abgelegt hatten, meinte Ellen: „Du bringst uns noch mit Deinen komischen Freunden in Gefahr.“
Lenning, der immer noch an einen Querschläger bzw. an einen Zufall glaubte, trat diesem Vorwurf entgegen und wies Ellen darauf hin, dass kein Mensch annehmen könne, es sei absichtlich auf Franzls Schlitten geschossen worden.
„Wer hätte denn ein Interesse daran haben sollen, uns zu beschießen und wenn er ein Interesse dran gehabt hätte, dann wären sicher noch weitere Schüsse gefallen.“
Lenning baute sich vor Ellen auf „Und schließlich war unser Freund Olschewski gar nicht mehr dabei.“
„Vielleicht wurde deshalb nur der Holm des Schlittens getroffen. So zu sagen, als Warnung.“ Ellen war nicht unterzukriegen. „Mein Gefühl sagt mir, dass wir knapp an einer Katastrophe vorbeigegangen sind und Du weißt das genauso. Der Schuss war kein Zufall!“
Lenning gab jedoch noch nicht auf. „Es ist schon vorher einmal ein Schuss gefallen; hast Du das nicht gehört?“
Ellen überlegte, sie hatte den ersten Schuss, den Franzl erwähnt hatte, nicht gehört. „Der hat vielleicht auch Olschewski gegolten und der liegt vielleicht draußen im Schnee und ist schon starrgefroren.“ Ellen schauderte.
Lenning überlegte abermals, aber ihm fiel nichts mehr ein. „Wenn das so ist – wir müssten sowieso nach ihm suchen gehen. Ich geh mal hinunter zu Franzl und frag´ nach, was er in die Wege geleitet hat.“
Lenning begab sich hinunter zur Rezeption und traf dort Franzl, der schelmisch grinste.
„Geh´ mal an die Bar und schau´ mal, wer da sitzt.“ empfing er Lenning schon von weitem.
Lenning begab sich sofort durch die Glastür zur Bar und fand dort Olschewski, der sich gerade eine Havanna angezündet hatte.
„Hallo, Mister Lenning“, empfing er Wolf. „Darf ich Sie zu einer echten Romeo & Julietta einladen und vielleicht noch zu einem kleinen Glas Rotwein?“
Olschewski schien seinen merkwürdigen Akzent regelrecht zu pflegen. Lenning betrachtete ihn von oben bis unten. Er hatte offensichtlich einen anderen Anzug an und auch die Schuhe waren nicht die, mit denen er die Schlittenpartie unternommen hatte.
„Ihren Mantel habe ich dort zum Trocknen aufgehängt“, fuhr Olschewski fort und deutete nach dem offenen Kamin, in dem ein Bilderbuchfeuer flackerte und knisterte und seinen Schein auf den gegenüberliegenden Stuhl warf, über dem Lennings Feldjacke hing.
„Ist gleich trocken, alles nur halb so schlimm.“ Olschewski strahlte über das ganze Gesicht. „Kommen Sie, zünden Sie sich endlich die Havanna an, sonst reicht es nicht mehr bis zum Abendessen“, forderte er Lenning zur Eile auf.
„Wir haben Sie überall gesucht. Wie sind Sie denn hierher gekommen?“
„Wie ein alter Mann eben hierher kommt – zu Fuß!“ Dabei glitt er vom Barhocker und machte einige Schritte, die auf deutliche Plattfüße schließen ließen.
„Und so sind Sie den ganzen Weg, von der Zassler Hütte bis hierher zum Hotel gegangen?“
Olschewski nickte sehr ausgeprägt und hielt Lenning eine Romeo & Julietta hin. Lenning nahm sie, öffnete die Zellophanhülle und bedankte sich, roch daran und entzündete sie mit dem Gasfeuerzeug, das ihm Olschewski reichte.
„Ja, der Herr Franzl!“ rief Olschewski munter, als der Wirt hinter die Bar kam. „Trinken Sie auch ein Glas Rotwein mit?“ Olschewski machte eine einladende Handbewegung.
Franzl knurrte etwas, was weder Lenning, noch Olschewski verstanden. Ihm war anzusehen, dass er froh war, Olschewski hier wieder heil zu sehen.
„Wie haben Sie denn das geschafft, wieder hierher zu kommen?“
„Das hat mich Herr Lenning schon gefragt“, entgegnete Olschewski „und ich kann nur immer wieder auf meine tapferen Füße zeigen, die mich haben so schnell den Weg hierher finden lassen.“
Lenning und Franzl schauten sich ungläubig an.
„Sie hat jemand mitgenommen, stimmt´s?“
Franzl versuchte Olschewski aus der Reserve zu locken. „Ich weiß, wo Sie vom Schlitten abgesprungen sind, war ein Motorschlitten.“
Olschewski schaute Lenning an. „Was bitte ist ein Motorschlitten, Herr Doktor?“
Lenning schüttelte den Kopf. „Das werden wir nie herausbekommen, wie Olschewski hierher gekommen ist. Dabei müsstest Du doch am besten wissen, wo er geblieben ist.“
Franzl schüttelte den Kopf. „Ich bin so schnell gefahren und hab nichts mehr gesehen, gehört, gefühlt oder gerochen.“
Lenning lachte laut. „Achso, Du hast sozusagen die Nase vor dem Wind gehabt.“
Olschewski schien nicht zu verstehen und wiederholte, er sei zu Fuß den ganzen Weg hierher gekommen und habe auch entsprechend nasse Schuhe und nasse Hosen gehabt.
„Ich bin Dir aber nicht böse, mein Freund,“ sagte er zu Franzl „denn ich habe ja gewusst, auf was ich mich einlasse!“ Und er strahlte wieder über das ganze Gesicht.“
Lenning überlegte kurz. „Haben Sie einen Schuss gehört?“
„Einen Schuss?“ Olschewski kicherte vor sich hin. „Einen Schuss, nein zwei Schüsse!“ sagte er und schaute Lenning erwartungsvoll an. „Wer hat geschossen, Sie etwa?“
Lenning machte eine abweisende Handbewegung. „Das ist kein Witz, Herr Olschewski. Haben Sie nun einen Schuss gehört oder nicht?“
Olschewski schaute Lenning und dann Franzl gespannt an. „Das war eine Fehlzündung von einem Auto. Sie meinen heute Mittag in Bozen.“
Lenning schüttelte heftig den Kopf. „Nein, heute Abend im Schnee.“
Olschewski hob sein Glas. „Das ist ein guter Scherz. Ein Hoch auf den Schützen, vielleicht hat er sogar getroffen!“
Jetzt schien Franzl die Fassung verlieren zu wollen. „Herr Olschewski, der Schuss ist unmittelbar vor mir, ungefähr 15 Zentimeter, eingeschlagen. Wäre ich nur ein bisschen schneller gefahren, hätte es mich getroffen.“
Olschewski schien jetzt ernster zu werden. „Ach, mein Leben!“ rief er und dann „Ach, das wäre entsetzlich gewesen.“
„Ja, der Schlittenholm ist durch“, meinte Lenning. „Sie können sich das draußen ansehen.“
Olschewski bestand darauf, sofort zum Schlitten zu gehen und Lenning führte ihn mit Franzl hinaus, wobei Lenning und Olschewski die Zigarren in den Händen hielten.
Olschewski überlegte einen Moment. „Wenn ich noch auf dem Schlitten gesessen hätte, dann hätte Franzl weiter vorn gesessen und dann wäre er jetzt mausetot.“ wobei nicht klar war, ob Olschewski Spaß machte oder ob er dies ernst meinte.
„Glauben Sie, dass das ein gezielter Schuss war?“ fragte Olschewski.
Lenning betrachtete jetzt Olschewski noch genauer. Vielleicht war das die Anstrengung, dachte Lenning und vielleicht ist Olschewski wirklich den ganzen Weg zu Fuß durch den Schnee gegangen. Dann überlegte er sich, wie es möglich sein könne, dass jemand diese große Entfernung in dieser kurzen Zeit zurückgelegt haben konnte, denn immerhin waren Lenning und die anderen nicht sehr lange, sondern höchstens zwanzig Minuten in der Zassler Hütte gewesen, während Olschewski bei ihrer Rückkehr schon umgekleidet und zumindest der Parka schon fast trocken war. Olschewski kann unmöglich diesen Weg zu Fuß zurückgelegt haben, meinte Lenning und im übrigen müsste er den Schuss gehört haben, den Franzl erwähnt hatte.
Franzl meinte in diesem Moment „Da war vorher schon ein Schuss, Herr Olschewski und den müssten Sie gehört haben, denn der war unmittelbar in unserer Nähe und so laut, dass ich regelrecht erschrocken bin.“
Olschewski zuckte die Schultern. „Ich habe keinen Schuss im Schnee gehört. Sie haben sich vielleicht das ganze nur eingebildet.“
„Eingebildet? Und der gesplitterte Holm?“ meinte Franzl ärgerlich. „Ich habe die Sache jedenfalls zur Anzeige gebracht, denn es kann nicht angehen, dass hier oben jemand im Wald herumschießt.“
„Vielleicht war es ein Jäger“, versuchte Olschewski nach einer Lösung zu suchen.
Franzl schaute wieder Lenning an und meinte nur kurz „Um diese Zeit, Herr Olschewski. Was soll der denn jagen?“
Olschewski setzte die unschuldigste Miene auf, die nur möglich war. „Vielleicht Hasen…“ und hob den Zeigefinger.
„Ja, Skihaserln, die jagt man aber nicht mit dem Schießgewehr.“
Franzl fing wieder an zu schmunzeln und als Olschewski sich entschuldigte, weil er einmal hinausgehen müsse, meinte Franzl zu Lenning „Da hast einen richtigen Deppen mitgebracht oder...“ er machte eine Pause „...oder einen ganz gerissenen Gauner.“
Lenning nickte zustimmend. „Ich glaube eher das Letztere.“
„Ihr geht nun am besten hinüber in den Speisesaal, dort fängt nämlich jetzt das Abendessen an“, meinte Franzl und Lenning begab sich mit Olschewski hinüber, wo gleichzeitig Ellen und die Kinder sowie die Australier eingetroffen waren.
„Da sind Sie ja wieder, Herr Olschewski!“ rief Rooy und Ellen schien ebenfalls erleichtert zu sein. „Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, dass Ihnen etwas zugestoßen sein könnte.“
Lenning erklärte, Herr Olschewski sei zu Fuß hier herüber gegangen und Olschewski nickte heftig.
„Meine Füße haben mich bis hierher getragen. Brave Füße!“ und sein Lachen war so ansteckend, dass schließlich die ganze Runde in ein Gelächter ausbrach.
Lenning unterhielt sich beim Abendessen besonders mit Ellen, während Olschewski und Rooy die Ereignisse des heutigen Tages heftig diskutierten.
Schließlich wurde das Dessert gereicht und Lenning hatte gerade sein Glas ausgetrunken, als Franzl diskret von hinten an ihn herantrat.
„Draußen ist ein Kommissar, der in der Sache wegen der Schüsse ermittelt. Würdest Du vielleicht mit an die Bar kommen? Er hat auch ein paar Fragen an Dich.“
Lenning schaute Ellen an, die die Augen nach oben rollte und folgte Franzl in den anderen Raum, wo das Kaminfeuer eine mollige Wärme abgab. Für Lenning schien der Raum fast überheizt. Direkt am Kamin saß ein hochgewachsener Mann mit dunklen kurz geschnittenen Haaren und einer Stirnglatze. Er sah aus, wie sich Lenning einen Commissario vorstellte.
Lenning ging jetzt voraus, an der Bar vorbei zum Kamin. Franz kam sofort nach und stellte vor.
„Herr Rechtsanwalt Lenning, Herr Commissario Vecchio.“
Der Kommissar hatte sich erhoben und begrüßte Rechtsanwalt Lenning mit einer Verbeugung und Händedruck. In einem Deutsch mit deutlichem italienischen Akzent begann der Kommissar:
„Herr Lenning, Sie sind Zeuge eines Vorfalles oben im Wald geworden.“
Etwas Lauerndes lag in seinem Blick und verriet Lenning, dass es sich um einen Vollblutkriminalbeamten handelte.
Lenning nickte: „Es ist geschossen worden.“
Der Kommissar stutzte. „Nicht auf Sie?“
„Ein Projektil ist in einen Schlitten eingeschlagen“, erklärte er sachlich.
„Ja, ich habe schon gehört, es ist niemand verletzt worden. Dennoch, in diesem Fall kann es nicht ohne Folgen bleiben“, sagte der Kommissar bestimmt und Lenning nickte beipflichtend.
„Ist Ihnen von einem solchen Fall in der Vergangenheit etwas bekannt?“ wollte Lenning wissen.
Der Kommissar betrachtete Lenning mit einer gewissen Skepsis. „Was meinen Sie damit, Herr Rechtsanwalt?“
Lenning sah den Kommissar fragend an. „Ist es das erste Mal, dass hier oben im Wald ein Schuss gefallen ist?“
Am Zögern der Antwort erkannte Lenning, dass dem Commissario die Frage nicht angenehm war und er wich der Frage mehr oder weniger aus, indem er darauf verwies, dass nicht alle Tage Schüsse am Gitschberg fallen. Lennings Neugier war nun geweckt und er folgte der zum Platznehmen einladenden Handbewegung des Kommissars und wurde nun direkt.
„Ich habe heute schon einmal einen Schuss gehört.“
Der Commissario blickte sehr erstaunt auf. „Heute noch einen Schuss?“
Lenning machte eine Erstaunen ausdrückende Handbewegung: „Heute gegen 17:45 Uhr haben wir bei der Zassler Hütte einen Schuss gehört.“
Der Kommissar blickte Franz an, der mit einer Flasche Wein und drei Gläsern hinzukam. Lachend wollte der Kommissar abwehren „Nicht im Dienst!“ aber sein Gesichtsausdruck und auch seine Handbewegung machten deutlich, dass ihm die Einladung zu einem Glas Rotwein nicht ungelegen kam. „Das war heute schon ein schwieriger Tag“, meinte er erklärend, als er dann doch das angebotene Glas zum Mund führte. „Es gab nämlich einen Alarm unten in Brixen.“
Lenning und Franzl nickten zunächst etwas teilnahmslos, aber für Lenning wurde die Sache spätestens dann interessant, als der Commissario fortfuhr.
„Da gab es nämlich eine Auseinandersetzung bei Leuten aus dem Nahen Osten.“
„In Brixen?“ Lenning schaute den Commissario verdutzt an und ohne genau zu wissen warum er es tat, meinte er, „Ich dachte, die hätten sich in Bozen in die Wolle bekommen?“
Nun war das Erstaunen vollkommen auf Seiten des Commissarios. „Herr Rechtsanwalt, wer hat denn das gesagt?“
Lenning zuckte die Achseln und schaute Franzl an, der ebenso erstaunt war, wie der Commissario. „Herr Kommissar, woher kommen Sie?“ wollte nun Lenning wissen.
„Vom Provinzkommissariat in Bozen“, klärte ihn der Kommissar auf und nickte bedächtig.
„Dann waren Sie heute Mittag noch in Bozen?“ wollte er wissen.
„Herr Rechtsanwalt, Sie sind wirklich sehr neugierig und normalerweise stelle ich die Fragen“, sagte der Commissario leicht pikiert. „Aber wenn Sie mir den Sinn Ihrer Frage erklären könnten! Ich war heute Mittag noch in Bozen und auch noch am frühen Nachmittag.“
Lenning lachte in seiner offenen Art den Commissario an und meinte, „Ich auch.“ worauf der Commissario einen fragenden Gesichtsausdruck zeigte und Franz schnell dazwischen warf, dass Rechtsanwalt Lenning mit seinen australischen Freunden beim Einkaufen in der Provinzhauptstadt war und im übrigen gar nicht heute morgen hätte Skifahren können, weil er unter einem Bandscheibenvorfall litt. Franzl war so schnell gesprächig geworden, dass Lenning unwillkürlich die Notbremse ziehen wollte.
„Franzl, Du brauchst nicht die ganze Leidens- und Lebensgeschichte erzählen. Der Herr Kommissar ist hier, um diese Schüsse aufzuklären.“
„Ja!“ meinte nun der Kommissar. „Wenden wir uns nun der wichtigen Sache zu.“ Er nippte an seinem Glas und zündete sich eine Zigarette an. „Entschuldigung!“ Er bot Lenning auch eine Zigarette an, die Lenning dankend ablehnte, weil er gerade Olschewskis Zigarre beendet hatte.
„Ich war gerade in der Nähe vom Siegesdenkmal und habe dort tatsächlich eine Gruppe aus dem nahen Osten gesehen... Jedenfalls waren die Leute eindeutig regional zuordenbar.“ Lenning wollte offensichtlich vom Commissario mehr über den Zwischenfall in Bozen erfahren. Dem Commissario war das weiter nicht aufgefallen, denn er nahm den Ball sofort auf.
„Wirklich?“ fragte er noch erstaunter. „Genau in dieser Straße ist es zu der Auseinandersetzung gekommen. Die Leute der arabischen Gruppe haben gerade eine Bankfiliale verlassen, als die Schüsse fielen.“
Lenning ließ das am Vormittag Erlebte vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Die Araber waren aus der Bank gekommen, aber ein Schuss war nicht gefallen. Jedenfalls hatte Lenning nichts bemerkt. Entweder war der Commissario in diesem Punkt nicht offen oder die Gruppe war in einer anderen Bank oder es war noch eine andere Gruppe vorhanden.
Lenning fragte etwas verunsichert den Commissario, ob jemand verletzt worden sei und der Commissario nickte. „Bedauerlicherweise sind zwei Leute bei dem Vorfall getötet worden. Die Angreifer wurden jedoch selbst beschossen und in die Flucht geschlagen. Ihre Identität ist nicht bekannt.“
„Ah,“ dehnte Lenning, „wie viele waren es?“
Der Commissario zuckte die Schultern. „Einer von den Arabern sprach von zwei Personen, der andere will einen Dritten gesehen haben, der allerdings nicht geschossen haben soll.“
„Und in welcher Form spielte sich seine Beteiligung ab?“ fragte nun Lenning seinerseits sehr interessiert.
Der Commissario schaute ihn an und meinte, „Sie hätten Kommissar werden sollen!“
„Auch als Rechtsanwalt übt man oft ein Fragerecht aus.“
Der Kommissar lachte und bedankte sich bei Franzl für ein weiteres Glas Rotwein, das dieser ihm eingeschenkt hatte.
„Werden Sie mir helfen den Fall zu lösen?“
Die Frage war mehr im Spaß gestellt, doch Lenning antwortete nicht ganz ohne Ernst.
„Wenn möglich, ja. Haben wir Personenbeschreibungen?“
Der Kommissar zögerte einen Moment. „Keine genauen, aber Araber sollen es nicht gewesen sein.“
„Deutsche oder Italiener?“ wollte Lenning wissen.
„Wahrscheinlich keines von beiden. Aber warum fragen Sie so genau?“
„Weil ich vor längerer Zeit in Genf eine ähnliche Auseinandersetzung mitbekommen habe.“
„Ah“, sagte der Commissario und wurde immer freundlicher und offener zu Lenning, „Sie haben wirklich eine kriminalistische Ader. Ich habe auch unwillkürlich an diese beiden Gruppen gedacht.“
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Speisesaal und Olschewski trat ein. Sein Blick fiel auf den Kommissar und dieser musterte Olschewski von oben bis unten. Dann fragte er etwas leiser Lenning und Franzl zugleich: „Wohnt dieser Mann hier?“
Doch bevor Lenning antworten konnte, erklärte Franzl, dass Herr Olschewski ein Gast sei, den Lenning mitgebracht hatte. Der Commissario hatte sich beim Trinken leicht verschluckt und hustete. Olschewski war inzwischen an den Tisch herangetreten und folgte der Aufforderung Lennings, in der Runde Platz zu nehmen. Dann erklärte Lenning dem Commissario, dass Olschewski heute bei der Schlittenpartie dabei gewesen war und dass es sich um einen alten Bekannten handele, den er heute zufällig in Bozen getroffen habe. Der Commissario fragte Olschewski, ob er einen Schuss gehört hatte und Olschewski bestätigte dies mit einem breiten Grinsen und meinte auf die Frage, wann das gewesen sei, dass er seine Uhr nicht dabei hatte.
„Aber“, fügte er hinzu, „es war gerade dunkel geworden.“
„Was haben Sie danach gemacht?“ wollte der Kommissar wissen. Olschewski zuckte die Achseln und setzte wieder das sorgenfaltenvolle Gesicht auf und antwortete in aller Kürze: „Dann bin ich zurück zum Hotel!“
„Commissario, wir hatten Olschewski verloren“, erklärte danach Franzl mit sichtlichem Unbehagen. „Aber Gott sei Dank, haben wir ihn wieder unten im Hotel gefunden.“
Und Lenning fügte hinzu: „Er war komplett umgezogen. Der Arme muss total nass geworden sein, wenn er sich zu Fuß zum Hotel durchgeschlagen hat.“
Der Kommissar runzelte die Stirn.
„Höchst sonderbar“, meinte Lenning.
„Ja, woher haben Sie denn den Weg gekannt?“ wollte der Kommissar wissen.
Olschewski war keineswegs auf den Mund gefallen und erklärte in seiner für ihn so typischen Art, für den Kommissar allerdings nicht ganz verständlich, so dass Lenning übersetzen musste, dass er nur bergab zu gehen brauche, um zu Tal zu kommen.
Der Commissario blickte gedankenverloren in das vor ihm stehende Rotweinglas und Franzl wollte dies füllen, als er plötzlich aufstand. „Nein danke, Franzl. Für heute ist es genug. Ich habe heute noch sehr viel Arbeit.“
Olschewski blickte Lenning fragend an. Dieser erwiderte Olschewskis Blick mit der Bemerkung. „Ja, Herr Olschewski, hier besteht tatsächlich eine Menge Erklärungsbedarf.“
Olschewskis Gesicht hatte ein Maximum an Falten erreicht und Lenning überlegte, wo Olschewski die ganze Haut herholen würde.
Der Commissario warf Lenning einen vielsagenden Blick zu, als Olschewski zunächst alle möglichen Ausflüchte suchte und dann schließlich erklärte, er verstehe nicht ganz den Inhalt der Fragen. Lenning überlegte noch einmal: Olschewski hatte irgendetwas mit der Sache zu tun, das spürte er. Aber wie weit steckte er jetzt drin. Lenning dachte an das blutige Taschentuch und außerdem fiel ihm der Mann ein, der Olschewski etwas zugerufen hatte und schließlich war Olschewskis Verhalten heute bei den Schüssen mehr als merkwürdig gewesen. Der Commissario wollte gerade weiter bohren, als Lenning ihm ein Zeichen gab, von Olschewski abzulassen. Warum schließlich der Commissario an dieser Stelle das Thema wechselte, ist schwer – wenn überhaupt – nachvollziehbar, denn offensichtlich hegte er gegen Olschewski einen Verdacht. Lennings Zeichen mag ihm auch ein Indiz dafür gewesen sein, dass auch Lenning in irgendeiner Weise Olschewski nicht traute. Der Commissario fragte plötzlich Lenning auf italienisch, ob er irgendetwas im Zusammenhang mit Olschewski wusste, was für die Aufklärung dieser Ermittlungen von Bedeutung sein könnte und Lenning, der nicht wusste, ob Olschewski überhaupt verstand, meinte lapidar: „Possibile.“
Dem Commissario reichte dies und er trank sein Glas aus und wollte gerade gehen, als Lenning ihm nach draußen folgte. Als sie vor dem Hotel waren, hatte es zu schneien angefangen und der Kommissar betrachtete sein Fahrzeug, das schon ganz eingeschneit war.
„Vielleicht bleibe ich besser die Nacht hier“, meinte er mehr zu sich selbst und Lenning bestärkte ihn in diesem Vorhaben, wobei er vielsagend meinte: „Sie und ich, wir wissen, dass Olschewski irgendwas mit der Sache zu tun hat.“
Der Kommissar schaute Lenning an. „Ja, Sie wollten nicht haben, dass ich ihn weiter befrage. Sie hatten sicher einen Grund dafür.“
„Ja!“ klärte ihn Lenning auf, „Ich glaube es ist besser, wenn ich zuvor noch einmal mit ihm spreche, denn sonst könnte er sich festlegen und dann würde keiner mehr etwas aus ihm herausbekommen.“
Der Kommissar lachte: „Meinen Sie nicht, dass wir Mittel und Wege haben, ihn einfach dann hier zu behalten?“
Lenning überlegte: „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn Sie jetzt hier bleiben, wollen Sie sich noch einmal mit zu uns setzen?“
Der Kommissar meinte, er müsse erst einige Telefonate erledigen und bei Franzl ein Zimmer buchen. So ging Lenning allein in das Kaminzimmer zurück. Olschewski war gerade dabei, sich die Krawatte etwas herunterzuziehen und den obersten Hemdknopf zu lösen.
„Das war sehr hart“, meinte er, „Der Commissario vermutet irgendetwas dahinter.“
Lenning schaute ihn fragend an: „Was meinen Sie, mit „etwas dahinter“?“
Olschewski zog die Lippen etwas nach unten und fuhr mit der Zunge erst über die Oberlippe und dann über die Unterlippe, als ob er sie etwas benetzen müsste, obwohl er zuvor gerade am Wein genippt hatte.
„Dahinter könnte ich stehen“, sagte Olschewski und schaute Lenning an. „Das heißt, er denkt, ich wüsste mehr und hätte meine Finger im Spiel.“
Lenning trank an seinem Glas. Die beiden waren jetzt allein. Offensichtlich hatte sich die Runde, während Lenning mit dem Commissario nach draußen gegangen war, aufgelöst.
„Ehrlich, Herr Olschewski, glauben Sie, der Commissario wird einfach so darüber hinweggehen? So wie ich, als Sie nicht mehr wussten, wer Ihnen in Bozen zugerufen hatte?“
„Haben Sie das dem Kommissar gesagt?“ wollte Olschewski wissen und wirkte immer nervöser.
„Der Kommissar wollte vor allem wissen, was Sie überhaupt mit der Sache in Bozen zu tun haben, ob Sie mehr wissen, als Sie zugeben und er möchte wissen, was das für ein Schuss war, während Sie uns auf der Abfahrt verlassen hatten.“
Olschewski schaute Lenning treuherzig in die Augen. „Zu alledem kann ich nichts sagen.“
Lenning versuchte, ebenso naiv wie Olschewski zu wirken. „Gut, Herr Olschewski, dann sagen Sie eben, dass sie in Bozen keine Araber gesehen haben, während wir bei Ihnen waren und welche gesehen haben, dass Sie keine Schüsse gehört haben, als wir im Wald waren und dass Sie nur einen besseren Weg heruntergefunden haben, als die übrigen Schlittenfahrer, vielleicht weil Sie schon so nass waren.“
Olschewski blickte einen Moment lang starr vor sich nieder. „Sie werden aber lachen, genauso war es.“
„Ja, genau so“, wiederholte Lenning. „Sie haben nichts gehört und nichts gesehen und jetzt wollen Sie auch nichts sagen.“
Olschewski hatte sein Grinsen zurückgewonnen. „Ich gehe jetzt ins Bett. Bis morgen kann mir viel einfallen.“
Lenning überlegte keinen Moment, was Olschewski am nächsten Tag sagen würde. Er wusste, Olschewski war ein durchtriebener Fuchs, der sich schon mehr als einmal aus der Falle befreien konnte. Aber wie er diesmal dem Commissario entgehen würde, wenn dieser erst mal Olschewski auf Widersprüche aufmerksam machen könnte, das war Lenning im Augenblick unklar. Er begab sich danach zu seiner Familie, nachdem nur noch Franzl einmal kurz am Tisch vorbeischaute und auch das Feuer im Kamin am Erlöschen war.
Als Lenning und Ellen am nächsten Tag zum Frühstück gingen, waren die Kinder schon vorausgeeilt. Sie wollten unbedingt bestimmte Brötchen “erbeuten“, die später von allen Gästen vorzugsweise aufgegessen worden wären. Lenning und Ellen machten sich nicht so viel aus diesen weißen weichen Brötchen, sondern nahmen lieber Bauernbrot mit Kümmel und Fenchel. Von diesem war immer genug da und die Gäste schienen es nicht genügend zu schätzen. Als Lenning und Ellen den Frühstücksraum betraten, waren sie wohl bei den Letzten. An ihrem Tisch hatten die Kinder gerade angefangen, vom Büfett alles Mögliche zu holen und deshalb empfanden sie es lästig, als der Kommissar, der einen Tisch weiter saß, mit ihnen ein Gespräch beginnen wollte. Dennoch waren sie höflich und Lenning hörte gerade wie Carola dem Kommissar erklärte, dass ihr Vater gleich kommen müsse und sie die ihr gestellte Frage ansonsten nicht beantworten könnte.
„Guten Morgen, Commissario!“ rief Lenning, als er den Frühstücksraum betrat und der Commissario erhob sich sofort.
„Dottore, wissen Sie etwas über den Verbleib von Olschewski?“
Lenning zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Olschewski musste sich wohl aus dem Staub gemacht haben, denn sonst hätte der Commissario diese Frage nicht gestellt und im Übrigen hätte Olschewski sicher noch am Frühstückstisch gesessen.
„Ist Herr Olschewski eigentlich schon abgereist, Franzl?“ fragte Lenning den Juniorchef, der gerade den Frühstücksraum betreten hatte.
„Jawohl, mein Herr, er hat bereits gestern Abend bezahlt und mich gebeten ihm für heute morgen um 6:00 Uhr ein Taxi zu bestellen.“
„Um 6:00 Uhr?“ Der Commissario staunte und Lenning fühlte so etwas wie Zorn in sich hochsteigen.
„Um 6:00 Uhr ist doch hier noch niemand auf.“
„Richtig!“ meinte Franzl.
„Aber warum ist dann Olschewski so früh im Taxi davongefahren?“ wollte der Commissario wissen. „Hat er irgendetwas dazu erklärt?“
„Nein“, erwiderte Franzl, „Er ist nicht um 6:00 Uhr mit dem Taxi fortgefahren.“
„Er ist nicht um 6:00 Uhr mit dem Taxi fortgefahren?“
„Nein“, erklärte nunmehr Lenning, „er war schon weg.“
Franzl und der Commissario schauten Lenning erstaunt an. „Haben Sie davon gewusst?“
„Nein, natürlich nicht. Aber als ich hörte, dass er weg war, habe ich gewusst, dass er Sicherheitsmaschen eingebaut hat.“
„Sicherheitsmaschen?“ fragte Franzl, während der Commissario durch die Zähne pfiff.
„Das ist ein Gauner! So sagt man doch auf Deutsch. Er hat uns alle hereingelegt.“
„Ja,“ lachte Lenning, „er war zu schlau für Sie und mich. Und das mit dem Taxi war nur, damit er die Nacht Ruhe hatte. In Wirklichkeit ist er höchstwahrscheinlich schon in der Nacht ausgezogen.“
„Immerhin hat er ehrlich bezahlt!“ erklärte Franzl. „Das hätte er genauso gut unterlassen können.“
Lenning lachte. „Das hätte er mir schon nicht angetan. Immerhin habe ich ihn hier als Gast eingeführt“, und zum Commissario gewandt erklärte er, „Commissario, ich wette mit Ihnen, dass Sie ihn auch nicht mehr bekommen, wenn Sie nach ihm fahnden lassen. Der Mann hat wahrscheinlich, bis die Fahndung rausgeht, Ihr Staatsgebiet schon verlassen.“
„Das wollen wir sehen!“ erklärte der Commissario und ging zum Telefon.
Lenning und die Familie nutzten das schöne Wetter und den Neuschnee zu einem ausgiebigeren Skifahren, als sonst und als sie gegen Abend wieder die Stelle passierten, an der der Schuss in den Schlitten eingeschlagen war, stellte Lenning fest, dass das ganze Gelände zerwühlt war.
„Die haben hier Spuren gesucht“, erklärte er Ellen, die zur Eile anspornte, weil sie wegen der Kinder Angst vor dieser Stelle hatte.
Die Skifahrer hatten ungeheuren Durst und wollen noch ins Schwimmbad, bevor sie zum Abendessen gehen würden. Lenning hatte guten Wein aus Nals mitgebracht und der sollte nun auf dem Zimmer verkostet werden. Ellen gefiel der Lagrain besonders gut und sie meinte: „Das ist wirklich mein Lieblingswein.“
„Schau, wir testen einmal, welcher uns besser schmeckt.“
Da klopfte es an der Tür. Lenning rief laut: „Herein!“ und es war der Commissario, der eintrat.
„Dottore, Sie haben recht gehabt. Ihr Olschewski ist auf und davon.“
„Hab ich mir gedacht“, lächelte Lenning.
„Waren Sie eigentlich aufrichtig zu mir?“ wollte nun der Commissario von Lenning wissen. „Oder haben Sie ein bisschen Ihrem Freund geholfen?“
„Aber Commissario!“ wandte Lenning ein, „ich bin gleich beleidigt. Waren Sie immer aufrichtig zu mir?“
„Was meinen Sie?“ lachte nun der Commissario. „Ich habe Ihnen bisher nicht alle Ermittlungsergebnisse mitgeteilt, aber das brauche ich und darf ich auch gar nicht.“
„Gut, aber wie kann ich Ihnen dann helfen? Überlegen Sie! Wenn ich Ihnen irgendwo von Nutzen sein kann, muss ich doch wissen, worauf es Ihnen ankommt. Und ich habe Ihnen bereits gezeigt, dass ich aufrichtig bin.“
„Sie haben die Gruppe in Bozen erwähnt, die dann in der Passage verschwunden ist, wie sie sagten?“
„Ja.“ meinte Lenning.
„Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt Olschewski schon getroffen?“
„Ja.“
„Und er befand sich die ganze Zeit bei Ihnen?“
„Ja, Commissario, worauf wollen Sie hinaus?“
„Ich will nur feststellen, seit wann Olschewski bei Ihnen gewesen ist.“
„Genau kurz davor, als die Gruppe am Siegesdenkmal gestanden hatte, habe ich Olschewski getroffen und dann waren wir zusammen, mit kurzen Unterbrechungen bis äh...er bei der Schlittenpartie verlorengegangen ist.“
„So.“
„Ja, Herr Commissario. Ach Sie haben dort oben an der Stelle nach Spuren gesucht, wo geschossen wurde?“
Der Commissario nickte.
„Haben Sie irgendetwas gefunden?“
Der Commissario nickte wieder.
„Was haben Sie denn gefunden?“
„Wir haben das Geschoss gefunden, aber nicht die Hülse.“
„Und sonst noch etwas?“
Der Commissario zuckte die Schulter.
„Auf, Commissario, Sie haben doch noch etwas gefunden und das lassen Sie mich jetzt wissen, damit ich Ihnen auch helfen kann.“
„Dottore, Sie können mir jetzt nicht mehr helfen, als Sie mir bis jetzt geholfen haben. Und das, was ich noch gefunden habe, steht vielleicht in gar keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Schüssen.“
„Was war es denn, was Sie gefunden haben?“
„Ein Taschentuch und zwar ein blutiges.“ erklärte der Commissario etwas genervt.
„Ein blutiges Taschentuch. Also ist jemand verletzt worden.“
„Ja und nein.“ meinte der Commissario „Es ist jemand verletzt worden, aber lange, lange vorher. Das Blut im Taschentuch war nämlich schon mehrere Stunden, wenn nicht gar einige Tage alt.“
Lenning horchte auf. „Ein Taschentuch? Äh, wie sah es denn aus?“
„Wie ein Taschentuch eben aussieht. Ein Stofftaschentuch mit einem Monogramm eingestickt.“
„Ein Monogramm eingestickt? Was für Buchstaben denn?“ wollte Lenning wissen.
Der Commissario war nun wirklich an einem Punkt angelangt, wo er Lenning nicht mehr verstehen konnte. „Hören Sie, Dottore, Sie stellen Fragen wie ein Kriminalbeamter, aber ich kann sie Ihnen nicht beantworten. Ich weiß nicht, was für Buchstaben eingestickt waren. Ist denn das für Sie irgendwie von Bedeutung oder kann es überhaupt für Sie von Bedeutung sein?“
Lenning schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nur so eine Vermutung gewesen.“
Er rang mit sich, ob er dem Commissario mehr über das Taschentuch erzählen sollte.
„Also, Dottore, verbringen Sie hier noch einen netten Urlaub und dann sehen wir uns vielleicht im nächsten Jahr wieder, wenn Sie hier Urlaub machen.“
Lenning war dem Commissario sympathisch und auch der Commissario genoss Sympathien bei Lenning. Als sie sich die Hände gaben, war sich Lenning sicher, dass er irgendwann dem Commissario seine Erkenntnisse über dieses Taschentuch mitteilen würde.