Читать книгу Die Mächtigen, die Scheinmächtigen und die Ohnmächtigen - Werner Linn - Страница 8
In Tirol (2)
ОглавлениеDer Gedanke an diese Ereignisse aus dem letzten Skiurlaub hatte augenblicklich Lennings Gedächtnis so stark in Anspruch genommen, dass er die aktuelle Situation – Kriegsbeginn in Afghanistan – ganz vergessen oder verdrängen konnte. Etwa eine Stunde später brachten ihn die Rundfunknachrichten wieder in die Gegenwart mit ihren Problemen zurück. Dort wurde in den deutschen Nachrichten über schwere Luftangriffe berichtet, die die afghanische Hauptstadt getroffen hätten. So gut wie nicht war die Rede von Verlusten der Alliierten. Als der Empfang schlechter wurde, stellte Lenning auf einen neuen Sender um und erwischte einen italienischen Privatsender, der gerade Nachrichten über Afghanistan brachte. Lenning, der italienisch recht gut verstand, hörte wie gebannt, dass mindestens zwei amerikanische Flugzeuge über Kabul abgestürzt sein sollen. Einen Augenblick überlegte er, wie das denn möglich sein könne, wo doch das mittelalterliche Regime nicht über moderne Flugabwehrwaffen verfügte. Da berichtete der italienische Sender von einer Luftlandung in der Nähe Kabuls. Die amerikanischen Fallschirmjäger hätten schwere Verluste hinnehmen müssen. Der Sender ging leider in Rauschen unter, als Lenning das Fahrzeug in das nächste Tal steuerte.
Inzwischen waren die Reisenden an Bruneck vorbei in das Taufer Tal eingebogen und hatten somit das Pustertal verlassen. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Ferienwohnung in Rain, wo Lenning daran dachte, etwas Ruhe zu finden. An diese Stelle am Ende der Welt zog sich Lenning immer dann zurück, wenn er oder ein Familienmitglied dringend der Ruhe bedurfte. Hier oben gab es bis vor kurzem noch nicht einmal Fernsehempfang und die Natur war nahezu unberührt. Erst nach der Mitte der 80er Jahre wurde hier mehr gebaut, doch insgesamt war die idyllische Lage des kleinen Ortes in über 1500 Metern Höhe am Fuß der Rieserfernergruppe so erhalten geblieben, wie sie eh und je war. Die Straße von Sand in Taufers hinauf in die Berge war, als Lenning sie kennen lernte, eine Piste für Geländewagen und er erinnerte sich noch immer sehr gut daran, dass einmal eine Lawine den Weg versperrte, als er noch einen roten Sportwagen fuhr, wo er von der Lawine herunter auf das kleine rote Auto fotografiert hatte. Heute ist diese Strecke besser ausgebaut, als die Brennerstraße und zwei Viadukte sowie eine großzügig angelegte Doppelkehre haben das Abenteuer einer Fahrt von Sand nach Rain schrumpfen lassen auf einen abenteuerlichen Ausblick, wenn man die Kehre im Sonnenuntergang zügig durchfährt und einen Blick über das gesamte Tal erhaschen kann. Heute war es schon dunkel, als sie die Strecke fuhren. Alter Gewohnheit entsprechend drückte Lenning in dem Lawinenschutzviadukt kurz auf die Hupe, so dass das Echo das dunkle Tal gespenstisch widerhallen ließ.
„Ja, warum hat man diese gewaltigen Bauwerke errichtet,“ hörte er Ellen wie aus der Ferne nachfragen, „bei so einer kleinen Straße zu einer seelenverlassenen Gemeinde, die ich noch nicht mal auf der Landkarte finden konnte?“
Lenning wurde aus seinen Gedanken herausgerissen, die immer noch in Afghanistan waren.
„Hier oben sollte einmal ein Stausee zur Stromgewinnung errichtet werden. Man hatte die Straßen schon soweit fertiggestellt, aber letztlich wurde das Projekt entweder aus Geldmangel oder aus Mangel an Courage gegenüber der erstarkenden deutschen Bevölkerung fallen gelassen. Du siehst da vorne den Kirchturm.“
Der beleuchtete Kirchturm der Gemeinde Rain erschien nun links vor den Reisenden.
„Dort wäre entweder das Ufer gewesen oder aber die Kirchturmspitze hätte - wie am Rechenpass - aus dem See herausgeschaut.“
Ellen schauderte. „Die wunderschöne Natur...!“
„...wäre damit denaturiert gewesen“, vollendete Lenning den von Ellen begonnen Satz und überlegte sich, was denn wäre, wenn sie den Staudamm wirklich gebaut hätten und hier oben ein riesiger See das Landschaftsbild prägen würde. Lenning dachte an die fränkische Seenplatte, die auch erst im Zuge des Rhein-Main-Donau-Kanals künstlich geschaffen wurde und heute eine Fremdenverkehrsattraktion ersten Ranges darstellt und das Landschaftsbild eher bereichert als verschandelt hat.
„Ja, jede Medaille hat zwei Seiten“, warf Ellen ein und zeigte auf das im alpenländischen Stil erbaute Haus, vor dem Lenning angehalten hatte.
„Befindet sich hier unsere Ferienwohnung?“ wollte Birgit, die Ältere, wissen, während Carola, die Jüngere, schon ausgestiegen war, um mit Dax den Bach zu suchen, den man zwar nicht sah, aber wegen des erheblichen Rauschens nicht verfehlen konnte.
Die Ferienwohnung war sauber und geräumig, was besonders wegen des Hundes wichtig erschien.
Der nächste Morgen brachte strahlenden Sonnenschein und Lenning hätte glatt den Krieg in Afghanistan vergessen, hätte er nicht das Fernsehgerät eingeschaltet, wo gerade eine Nachrichtensendung lief. Ellen, die das Frühstück vorbereitet hatte, blickte zum Fernsehgerät, ohne auf den Sprecher zu achten und meinte, indem sie aus dem Fenster zeigte: „Schau doch, diese Berge da draußen sind doch viel schöner als im Fernsehen.“
Und tatsächlich hatte der höchste Berg der Gegend, der Hochgall, schon eine weit heruntergezogene Schneekappe, die in der Sonne wunderschön strahlte.
„Das schaut ganz nah aus“, meinte Ellen „Wollen wir nicht dort in den Schnee spazieren gehen?“
Lenning war wieder von der Nachrichtensendung erfolgreich abgelenkt und meinte: „So wie Du gut bei Fuß bist, werden wir den Schnee niemals erreichen. Weißt Du wie weit das ist?“
Ellen schaute hinaus und kam ins Zweifeln. „Wenn Du das schon so sagst. Es sieht sehr nah aus, aber es ist bestimmt nicht so nah, wie es ausschaut.“
Lenning lachte. „Dann mach´ schnell, damit wir wenigstens zur Kasseler Hütte kommen können. Die Kassler Hütte liegt zwar nicht mehr im Schnee, aber von dort hast Du einen wunderschönen Blick und sie ist etwa auf halbem Weg. Dort siehst Du die Kasseler Hütte!“ Lenning wies auf einen kleinen Punkt, den nur er wegen seiner besonderen Ortskenntnis wahrnehmen konnte. Er reichte Ellen das Fernglas und sie staunte.
„Tatsächlich, da ist ein Haus.“
Die Kinder wollten natürlich auch gleich durch das Fernglas schauen und beschlossen, möglichst bald aufzubrechen, um die Sonne zu nutzen.
„Es wird nämlich schon recht früh dunkel. Um 18:00 Uhr ist hier stockfinstere Nacht.“ erklärte Lenning.
Das Frühstück war sehr mager, denn zu viel hatte man nicht mehr zum Mitnehmen gehabt und man wollte ja früh einkaufen gehen. Lenning überlegte, ob es so sinnvoll war, heute zu wandern, um dann morgen erst einzukaufen. Das Abendessen müsste man dann im Restaurant einnehmen, Lenning dachte aber an die Möglichkeit, hier oben im schlechten Wetter tatsächlich nicht mehr wandern zu können, insbesondere weil Ellen und die Kinder hier sehr rigoros waren und bei schlechtem Wetter keinen Fuß vor die Tür setzen wollten. Schließlich beschlossen sie, das diesmal durchzuhalten. Lenning war schnell marschbereit und auch die anderen hatten entsprechendes Schuhwerk bzw. Kleidungsstücke, denn auch beim schönsten Wetter konnte im Gebirge ein Wettersturz nicht ausgeschlossen werden.
Lenning meinte, man könne von hier aus ohne Fahrzeug gehen und die anderen folgten, wenn auch etwas misstrauisch, denn die Wohnung lag auf einem relativ steilen Hügel und man musste zuerst ins Tal, um dann an der anderen Seite den Berg erklimmen zu können.
„Den Weg müssen wir wahrscheinlich wieder zurückgehen?“ fragte Birgit zögernd.
„Natürlich, oder dachtest Du, wir können hier herauf fliegen?“ lachte Lenning, der, obwohl der Älteste, mit Sicherheit am besten zu Fuß war.
Der erste Tag verlief wie geplant. Das Wetter hielt und die Hütte hatte an diesem Tag noch geöffnet, so dass auch die Kinder glücklich waren, als sie einen Almdudler und eine Portion Spaghetti gierig verzehren konnten. Ellen war erstaunt, wie viele Leute doch zu dieser Jahreszeit den Weg zur Hütte gefunden hatten, denn obwohl nur zweieinhalb Stunden reine Aufstiegszeit angeschlagen war, brauchte die Gruppe trotz strammen Marschtempos über dreieinhalb Stunden. Lenning wollte zwar noch etwas höher in die Schneeregionen steigen, aber im Hinblick darauf, dass es der erste Tag war und die Mädchen zu maulen begannen, entschied er sich, nicht zuletzt aus Rücksicht auf den Familienfrieden und auch ein bisschen aus Interesse an einer Nachrichtensendung für eine baldige Rückkehr.
Der Rückmarsch dauerte wesentlich kürzer und so kam die Gruppe noch bei Tageslicht bei der Ferienwohnung an. Dort standen inzwischen mehrere Fahrzeuge davor und Lenning war überrascht, dass noch so viele Gäste angekommen waren. Zum Abendessen entschloss man sich, in das nur wenige Schritte entfernte Hotel-Restaurant zu gehen. Dieses Hotel soll das älteste am Ort sein. Lenning erinnerte sich noch sehr gut an den Altbau, der unter Denkmalschutz gestanden hatte und dennoch in einem Frühjahr dem großzügigen Bau weichen musste. Die alte holzvertäfelte Gaststube hatte man wieder eingebaut, aber Lenning wusste nicht genau wo. Er kannte die Wirtsfamilie schon sehr lange.
„Ein halbes Menschenalter“, meinte einmal die Wirtin.
Sie war übrigens die freundlichste und intelligenteste in der Familie. Sie war die “gute Seele des Hauses“, während ihr Mann sich mehr der Landwirtschaft widmete und mit Rindern und Schweinen besser als mit Gästen auskam. Lenning hätte lieber im Hotel ein Zimmer genommen, aber der Wirt wollte keine Hunde im Haus haben und schon gar keinen von der Größe eines Labradors. So war Lenning, als die Wirtin ein Zimmer mit Hund kaum reservieren wollte, dazu übergegangen, lieber woanders ein Zimmer zu nehmen. Dieses Mal hatte man sich für eine nagelneue Ferienwohnung entschieden, weil das in jedem Fall komfortabler und bequemer für so viele Personen mit Hund war.
Als Lenning mit den anderen in die Gaststube eintrat, bemerkte er an der Bar einen dunkelhaarigen großen Mann mit Glatze, der ihm sehr bekannt vorkam und obwohl Lenning nicht im ersten Augenblick darauf kam, um wen es sich dabei handelte, musste es ihm in den nächsten Minuten einfallen. Die Familie hatte inzwischen an einem Ecktisch Platz genommen, von dem aus man einen Blick über die ganze Gaststube einschließlich der Bar hatte. Der dunkelhaarige, hochgewachsene Mann an der Bar hatte die Eintretenden noch nicht bemerkt, sondern befand sich in einem sehr intensiven Gespräch mit Doro der Wirtstochter, die hinter dem Tresen stand und gerade offensichtlich nach einer bestimmten Flasche suchte. Als sie Lenning und die anderen an den Tisch gehen sah, erkannte sie ihn. Sie war noch ein Kind gewesen, als er das erste Mal in diesem Hotel logierte. Später war sie dann zu einem auffallend hübschen Mädchen herangewachsen und als Lenning ein Jahr später das Hotel aufsuchte, sah man ihrem Bäuchlein an, dass sie schwanger war. Lenning, der in solchen Fragen weniger Feingefühl hatte, fragte erstaunt, wer denn der Vater sei, erhielt jedoch auf die Frage keine Antwort und rätselt auch heute noch über den Vater des zweiten Kindes, dem Doro wenig später das Leben geschenkt hatte. Die Kinder, ein Bub und ein Mädchen, sahen so verschieden aus, dass sich Lenning des Verdachts nicht erwehren konnte, es müssten verschiedene Väter hier am Werk gewesen sein. Doro mochte Lenning trotz seiner indiskreten Art und kam auch sofort hinter dem Tresen hervor.
„Hallo, Herr Doktor!“ rief sie schon von weitem. „Schön, dass Sie wieder einmal im Lande sind.“
Dann begrüßte sie Ellen und die Kinder, die sie noch nicht gesehen hatte. In diesem Augenblick schaute der Gast an der Bar herüber zu Lennings Tisch. Es geschah in dem Augenblick, als Doro Lenning mit „Herr Doktor“ angesprochen hatte.
Doro flüsterte Lenning zu: „Das ist ein Commissario aus Bozen, der hier einen Fall zu lösen hat.“
Zu ihrem großen Erstaunen kam der Commissario ganz plötzlich von der Bar herüber zum Tisch und grüßte Lenning freundlich.
„Guten Abend, Dottore! Guten Abend Madame!“
„Guten Abend, Commissario!“ erwiderte Lenning, dem plötzlich wieder bewusst war, dass es sich hier um den Commissario handelte, der seinerzeit in Meransen die Ermittlungen wegen der Schießerei geleitet hatte.
„Was führt Sie denn hierher, Herr Kommissar?“ meinte Lenning auf italienisch.
Und der Commissario erwiderte in der gleichen Sprache „Genau das wollte ich Sie auch fragen? Hier sind nämlich zwei Menschen getötet worden.“
Lenning blickte ungläubig auf Doro, die heftig nickte. „Ja, Herr Doktor, stellen Sie sich vor, vorgestern Abend ist drüben beim Pichler Hof ein Auto vorgefahren, zwei Leute sind ausgestiegen und haben vor der Wirtshaustür einen Mann und eine Frau grad so erschossen.“
Lenning blickte den Commissario fragend an. „Ja, da haben Sie es schon gehört und mehr weiß ich auch nicht“, erklärte der Commissario, um jeder Frage Lennings zuvorzukommen.
„Und jetzt machen Sie hier Urlaub, bis der Fall geklärt ist“, lächelte Lenning und klopfte dem Commissario freundschaftlich auf die Schulter. Dieser reagierte humorvoll und lud Lenning dazu ein, ihn bei den Ermittlungen zu unterstützen, ‚damit alles schneller gehen könne’.
„Morgen früh können Sie mich ja ins Leichenschauhaus von Bruneck begleiten. Bei den Toten handelt es sich um Bürger der BRD.“
Lenning schaute Ellen fragend an. „Wir müssen morgen ohnehin Wein einkaufen. Warum sollen wir uns nicht die sterblichen Überreste dieser beiden unglücklichen Menschen ansehen.“
Der Commissario schien sofort verstanden zu haben. „Ach, Sie wollen - wie damals - Wein in der Nähe von Meran einkaufen!“ Lenning bejahte überrascht.
„Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen.“ Der Commissario nahm ohne dazu aufgefordert zu sein, an der Stirnseite des Tisches Platz, an dem inzwischen die Getränke gebracht wurden.
„Sie nehmen mich in Ihrem tollen Auto bis nach Bozen mit, dann können Sie ihre Einkäufe erledigen und wenn Sie abends zurückfahren, steige ich wieder zu und unterwegs in Mühlbach lade ich Sie zu einem „original-italienischen“ Essen ein.“
Lenning war in der Tat überrascht und man einigte sich darauf, früh morgens über Bruneck nach Bozen zu fahren.
Der Spaziergang hatte insbesondere Ellen und die Kinder ermüdet, so dass diese sich sehr bald verabschiedeten, um nach oben ins Zimmer zu gehen. Wie damals in Meransen blieb Lenning noch eine Weile beim Commissario, der ungewöhnlich offen und freundschaftlich erschien und Lenning über verschiedene Einzelheiten des vor kurzem begangenen Verbrechens informierte.
„Die Getöteten sind Deutsche“, wiederholte er „und stammen aus einem Ort, nicht sehr weit von dort, wo Sie herkommen.“
Lenning horchte auf. „Woher kommen die Getöteten?“
„In ihrem Ausweis steht Bad Nauheim. Ich habe bereits über den Dienstweg mit dem Hessischen Innenministerium Kontakt aufgenommen und die dortige Polizei konnte feststellen, dass ein Herr Jeschke mit Frau derzeit Urlaub macht. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich bei den Getöteten tatsächlich um die genannten Personen handelt.“
Lenning horchte auf. „Jeschke aus Bad Nauheim?“ wiederholte er. „Ich kannte einen Mann diesen Namens. Er war Finanzmakler und hieß mit Vornamen Norbert.“
„Norbert?“ der Commissario runzelte die Stirn. „Im Pass des Getöteten steht ein anderer Vorname.“
„So?“ Lenning kam aus dem Staunen heute Abend nicht mehr heraus. „Wie alt ist denn der Tote?“
„Nach den Daten in seinem Ausweis ist er Mitte 50.“
Lenning überlegte. „Könnte stimmen.“
„Na ja,“ meinte schließlich zum Abschied der Commissario „morgen werden Sie ihn ja sehen und uns vielleicht bei der Identifizierung helfen können. Die Schusswunde hat die Toten nicht sehr entstellt.“
„Entstellt?“ Lenning blickte den Commissario ungläubig an. „Wohin sind sie denn geschossen worden? Etwa ins Gesicht?“
Der Commissario nickte und zeigte mit dem Daumen über die Nasenwurzel. „Circa einen Daumenbreit über der Nasenwurzel sind die Projektile eingedrungen, Kaliber 45 ACP.“
Lenning schauderte. „Dann müssen die Leichen einen recht unschönen Anblick bieten.“
Der Commissario zuckte die Schultern. „Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“
Lenning schaute den Commissario nochmals fragend an. „Wer könnte es gewesen sein? Präzise einen Daumen breit über der Nasenwurzel?“ wiederholte er fragend.
Der Commissario nickte abermals. „Auf die kurze Entfernung ist das nicht allzu schwer, aber eine Leistung ist es trotzdem, exakt über der Nasenwurzel.“
„Kennen Sie jemanden, der so schießt?“ fragte Lenning.
Der Commissario blickte Lenning von der Seite an. „Kennen Sie jemanden, Dottore?“
Lenning erwiderte teilnahmslos „Man hört so einiges.“
„Ja.“ bestätigte der Commissario. „Es gibt fast nichts, was man nicht schon vernommen hätte. Gute Nacht, Dottore!“
„Gute Nacht, Commissario.“ Lenning ging mit Dax, dem Labrador, noch mal ins Freie, während der Commissario sich direkt in sein Zimmer begab. Lenning überlegte „Einen Daumen breit über der Nasenwurzel, dass ist nicht untypisch und der Commissario tut, als ob er so etwas noch nicht gehört hätte.“
Die Nacht war kalt und selbst Dax war, entgegen seiner Gewohnheit, sehr schnell bereit, ins Haus zurückzukehren. Lenning fand die Seinen schlafend vor und begab sich ins Bad. So eine Ferienwohnung hat doch große Vorteile, dachte er. Während er das Badewasser einließ, schaltete er den Fernseher ein. Der hiesige Sender brachte keinerlei Nachrichten über den Vorfall und auch aus Afghanistan gab es wenig Neues. Sogar die lokalen Nachrichten im Radio erwähnten den Vorfall im Taufertal nicht. „Möglicherweise eine Nachrichtensperre“, dachte Lenning, wischte den Gedanken jedoch gleich wieder weg, da er annehmen musste, dass in einem solchen Fall der Commissario weniger “zutraulich“ gewesen wäre.
Am nächsten Morgen war es noch recht früh, jedenfalls für einen Urlaubstag. An Lennings Wohnungstür läutete es. Ellen und die Kinder fuhren erschreckt auf. Ihnen war es ganz entgangen, dass es hier, wie in fast jeder gewöhnlichen Wohnung, eine Klingel gab. Lenning begab sich zur Türsprecheinrichtung und fragte, wer da sei.
„Enrico“, hörte er.
„Ah, Signore Commissario!“ Lenning war überrascht. „Sie sind aber früh auf den Beinen.“
„Ja, stellen Sie sich vor, es ist schon 8:30 Uhr.“
„Aber wir wollten doch erst um 9:00 Uhr losfahren.“
Der Commissario wiedersprach. „Wir wollten um 8:00 Uhr beim Frühstück sein.“
Lenning öffnete die Tür.
„Wie lange frühstücken Sie denn üblicherweise?“ fragte er.
„Oh, das Frühstück geht bei mir sehr rasch.“
Ellen war inzwischen fertig und trat in das Wohnzimmer. „Nein, wir möchten feriengemäß frühstücken und nicht so hetzen wie jeden Morgen, wenn die Kinder in die Schule müssen und der Kanzleibetrieb drängt.“
Der Commissario schmunzelte. „Da haben Sie es“, meinte er. „Und wir müssen noch in Bruneck vorbeifahren.“
„Müssen?“ Lenning schaute den Commissario fragend an.
„Ja, Sie wollen uns doch helfen, die Toten zu identifizieren!“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“ fragte Lenning und bangte um den Frieden, denn Ellen machte ein sehr kritisches Gesicht und hatte gerade angefangen die Reste auf dem Tisch aufzubauen.
„Liebling, wir haben noch nicht einmal Kaffee!“ Ellen blickte Lenning mit finsterer Miene an.
„Siehst Du, umso schneller geht es und der Commissario braucht nicht lange zu warten. Heute werden wir das Frühstück für morgen einkaufen und morgen können wir in aller Ruhe frühstücken.“
Dem Commissario war es recht. Die Gruppe begab sich schon nach 20 Minuten zum Fahrzeug, das total vereist war, doch nach kurzer Kratzarbeit war es wieder fahrbereit und alle fuhren in einem Auto die Gebirgsstraße nach Sand hinab. Der Wagen war heute relativ voll besetzt. Dax wollte zunächst nicht akzeptieren, dass der Commissario sich zu ihm setzten wollte und so nahm dieser auf dem Beifahrersitz Platz.
Im Auto “dirigierte“ der Commissario Lenning zu einem Gebäude, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht war. Der Commissario war hier bekannt und so gab es keine Probleme, ohne jede Wartezeit sofort vorgelassen zu werden. Während Ellen und die Mädchen im Fahrzeug sitzen geblieben waren, sollte der “Abstecher“ zur Gerichtsmedizin nur wenige Minuten dauern. Der diensthabende Arzt deutete auf eine Tür und meinte auf italienisch, „der Commissario und Lenning sollten vorangehen.“ Die Tür öffnete sich zu der Treppe, die direkt in den Raum führte, in dem sich die Kühlkammern befanden, wo die Leichen aufbewahrt wurden. Der diensthabende Arzt zog zunächst rechts außen die untere und die daneben liegende Schublade auf und zeigte die beiden fast vollständig entkleideten Leichen. Anders als in der BRD waren in diesem Fall die Leichen nicht zugedeckt. Lenning schauderte etwas, als er in die doch erheblich entstellten Gesichter blickte. Der Frau war der halbe Hinterkopf abgerissen worden und die blutverschmierten Haare klebten auf dem Untergrund. Dem Mann war der Schusskanal doch nicht gerade durch den Kopf gegangen, sondern seitlich hinter dem linken Ohr ausgetreten, was eine sehr unschöne Blutverkrustung deutlich zeigte.
„Dottore, ist das der Ihnen bekannte Herr Norbert Jeschke?“ wollte der Commissario wissen.
Lenning schüttelte den Kopf. „Zeigen Sie mir doch bitte mal seinen Pass.“
„Oh!“ Der Commissario lächelte. „Sie haben wirklich das Zeug zu einem Kriminalbeamten. Den Pass kann ich Ihnen erst in Bozen zeigen, denn er befindet sich in den Unterlagen, die in Rain sichergestellt worden sind. Haben Sie eine Vermutung?“ forschte der Commissario. „Denn ohne Grund werden Sie ja nicht nach den Pässen dieser Leute fragen.“
Lenning schüttelte den Kopf. „Die hier sind mir jedenfalls nicht bekannt.“
„Können Sie sich nicht täuschen?“ wollte der Commissario wissen. „Immerhin sind sie durch die Einschüsse nicht unerheblich entstellt.“
„Commissario!“
Lenning wandte sich zum Gehen, der Commissario folgte und auf der Fahrt von Bruneck nach Bozen wurde sehr wenig gesprochen. Lediglich Ellen hatte ab und zu eine Frage, während die Kinder die Hörer ihrer Musikabspielgeräte in den Ohren hatten.
In Bozen angekommen, parkte Lenning das Fahrzeug direkt auf dem Dienstwagenparkplatz des Polizeipräsidiums. Der Commissario und Lenning stiegen aus, während die anderen im Fahrzeug warteten. Der Commissario hatte gänzlich die Sprache verloren. Lenning knüpfte an die letzten Ereignisse an.
„Commissario, wenn dies nicht der Jeschke ist, den ich kenne, kann es doch ein anderer Mann gleichen Namens sein.“
Der Commissario gab keine Antwort. Während er eintrat, grüßte er kurz, lief zu einem Aktenschrank, griff zielsicher nach einer der dort abhängenden Akten und kam zu Lenning zurück.
„Hier haben Sie die Ausweise, Dottore.“
Lenning warf einen Blick darauf. Die Bilder zeigten eindeutig die Getöteten.
Lenning gab sie dem Commissario zurück, der ihn fragend anblickte.
„Was ich vorhin schon gesagt habe, ich weiß nicht, wie viele Personen es gleichen Namens geben kann. Meinen Namen zum Beispiel führen eine Vielzahl von Personen, die ich überhaupt nicht kenne. Sie brauchen nur in ein elektronisches Telefonbuch zu sehen.“
Der Commissario unterbrach ihn. „Und ich habe in Bad Nauheim nur diesen einen Jeschke gefunden.“
Lenning überlegte. „Wenn dies Jeschke sein sollte, an seiner Stelle jedoch eine andere Person mit seinem Namen eingetragen wurde, könnte es darauf hindeuten, dass ein Identitätswechsel beabsichtigt war.“
„Dottore,“ wandte der Commissario ein, „sind Sie sich denn sicher, den richtigen Jeschke kennen gelernt zu haben?“
Lenning überlegte kurz. „Nun, ich habe einen Mann diesen Namens über mindestens zwei Jahre in unregelmäßigen Abständen gesehen. Er wurde mir als Norbert Jeschke vorgestellt und hat für mich diese Identität solange bewahrt, bis ich ihn aus den Augen verloren habe. Seine Identität habe ich jedoch nicht überprüft und habe dazu auch gar keinen Anlass gehabt.“
„Was haben Sie gesagt, Dottore? Jeschke war Finanzmakler?“
Lenning bejahte nickend. „Schauen Sie, unsere Überprüfung auf dem Dienstweg hat ergeben, dass die hessische Polizei davon ausging, dass dieser Jeschke Finanzmakler war, jedenfalls hatte er ein solches Gewerbe angemeldet und das ist bei Ihnen wohl strenger, als bei uns.“
Lenning nickte. „Commissario, ich muss jetzt mit den anderen nach Nals fahren und wir sehen uns wieder auf dem Rückweg.“
Der Commissario nickte. „Sie haben ja Urlaub, Dottore. Aber überlegen Sie sich noch einmal, ob Ihnen etwas einfällt, die Identität Jeschkes zu fixieren!“
„Auf Widersehen, Commissario!“
„Arrivederci, Dottore!“
Lenning begab sich schnellen Schrittes zu den Wartenden und sie verließen sofort Bozen in Richtung Meran. Ellen konnte offensichtlich ihre Neugier nicht mehr zügeln.
„Was ist mit den Leichen? Sind es die, von denen Du gedacht hast, sie zu kennen, oder war es wieder einmal ein Irrtum?“
Lenning schmunzelte. „Ihr traut mir alle nur Irrtümer zu“, meinte er. „Dieser Jeschke hier ist auf keinen Fall der, den ich als Jeschke kennengelernt habe. Was jedoch feststeht, ist, – und darauf hat mich der Commissario bereits hingewiesen - dass ich niemals Jeschkes Ausweis kontrolliert habe oder mich sonst irgendwie festlegen könnte, dass es Jeschke war, mit dem ich unter diesem Namen über Jahre bekannt war.“
„Vergiss´ die Sache, vielleicht bekommt der Commissario Neuigkeiten, bis wir ihn wieder abholen! Wolf, Du wolltest Urlaub machen und steckst mitten in einem Fall.“ klagte sie.
Lenning überhörte dies. Beim Weinkauf war er mit den Gedanken abwesend, so dass tatsächlich eine Kiste Wein zu wenig eingepackt wurde, obwohl sie schon bezahlt war.
Das Mittagessen wurde mehr oder weniger schweigend eingenommen. Lenning dachte über die Toten nach. Die Einschusswunden gaben ihm zu denken. Lenning wusste, dass diese Art der Tötung eines Menschen nicht die übliche war. Im Fall eines einfachen Mordes oder einer Affekttat hätte der Schütze möglicherweise mehrere Schüsse auf sein Opfer abgegeben, nicht jedoch gerade auf die Stirn gezielt. Für ihn stand fest: Hier handelte es sich um die Tat von Profis. Während der übliche Profi bei der Begehungsweise danach trachtet, Spuren eher zu verwischen, als zu legen, deutete hier alles darauf hin, dass eine regelrechte Exekution ausgeführt worden war.
Lenning dachte unwillkürlich an Geheimdienstkreise. In der Tat hatte Jeschke, jedenfalls der Jeschke, den Lenning kannte, mit diesen Kreisen zu tun. Er war es gewesen, der vor Jahren eingeschaltet worden war, Vermögensmassen aus dem nahen Osten zu verschieben. Damals hatte man sich in Genf getroffen. Anwesend war eine buntzusammengewürfelte Gruppe, bestehend aus mehreren Palästinensern, zwei Syrern, einem Libanesen und einem Iraker. Lenning war als Anwalt eingeschaltet worden, um treuhänderisch den Vermögenstransfer in die Schweiz zu bewerkstelligen. Jeschke sollte die Verbindung zu mehreren Banken herstellen. Das Geschäft war seinerzeit in letzter Sekunde geplatzt und Lenning hatte noch nicht einmal die Anzahlung auf sein Honorar erhalten. Dies war jedoch nicht Jeschkes Schuld gewesen, sondern ein für Lenning nicht ganz durchsichtiger Araber namens Al Amer hatte in letzter Sekunde den Transfer blockiert, ohne dass Gründe hierfür direkt ersichtlich gewesen wären. Später hatte Lenning von einem dort nicht anwesenden Vertrauten erfahren, dass der Grund dafür das mangelnde Vertrauen in Jeschke gewesen sei. Also versah Lenning den ihm bekannten Jeschke in Gedanken mit einem Fragezeichen.
Lenning hatte Jeschke später in Spanien getroffen. Jeschke machte zu dieser Zeit mit seiner Familie in einem kleinen Dorf nahe Rosses Urlaub und Lenning war von Cérbère kommend, kurz nach Rosses gefahren, um mit Jeschke zusammenzutreffen. Dort ging es auch um eine Finanztransaktion, die sich nachher ebenfalls als Misserfolg herausstellte. Jeschke war damals nicht in der Lage gewesen, die erforderlichen Papiere von der Paris Bas rechtzeitig zu erlangen. Gedanklich notierte er bei Jeschke ein weiteres Fragezeichen. Schließlich sollte Jeschke die Finanzierung einer Raffinerie aufstellen, zu der es letztlich ebenfalls nicht kam, weil – Lenning überlegte: „Warum kam es damals nicht zur Ausstellung dieses Akkreditivs?“ Lenning führte das seinerzeit auf die mangelnden Möglichkeiten Jeschkes zurück, der vielleicht mit seinen Verbindungen zu arg geprahlt hatte. Ein weiteres Fragezeichen... und danach hatte Lenning keinen weiteren Kontakt mehr zu Jeschke gehabt.
Lenning war innerlich ärgerlich, dass er in diese Angelegenheit nunmehr hineingezogen worden war und überlegte sich, wie er sie am besten wieder loswerden könnte, denn er fürchtete, dass der ganze Urlaub in Frage gestellt werden würde. Auf dem Rückweg telefonierte er mit dem Commissario, der, um weitere Verzögerungen zu vermeiden, am Freiheitsplatz wartete und kurzer Hand in Lennings Fahrzeug einstieg. Ein weiterer Aufenthalt bzw. eine weitere Verzögerung konnte so vermieden werden.
„Wir fahren über das Sarntal“, entschied Lenning und der Commissario stimmte zu: „Wir haben ja noch etwas Zeit und Sie sind im Urlaub. Die Kinder sollen auch etwas sehen.
„Übrigens“ der Commissario blickte Lenning von der Seite an, „haben wir inzwischen erfahren, dass die Jeschkes seit über einem Jahr nicht mehr in Hessen gelebt haben.“
Lenning betrachtete den Commissario. „Was gibt es noch Neues? Wo haben sie gelebt?“ forschte er.
„Nach unseren bisherigen Informationen haben die Jeschkes ihr Anwesen, wohl ein Gästehaus oder eine Pension bei Bad Nauheim, verkauft und sich nach Italien abgemeldet.“
„Weiß man sonst noch etwas?“ wollte Lenning wissen.
„Ja,“ meinte der Commissario „nach dem Ergebnis unserer Recherchen sollen sie zumindest bis vor einem halben Jahr in Salo gelebt haben.“
„Und danach?“ wollte nun Lenning wissen.
„Danach verliert sich die Spur“, antwortete der Commissario.
„Was werden Sie jetzt tun?“ setzte Lenning seine Fragen fort.
„Wir werden versuchen die Leichen irgendwie zu identifizieren.“
Danach wurde das Thema nachhaltig gewechselt und man bewunderte die Straßenführung durch so viele Tunnel. Auf dem Pass wurde kurz angehalten, damit Dax ein bisschen Auslauf erhalten sollte. Danach ging es über Sterzing und Franzensfeste nach Mühlbach, wo der Commissario in der „Post“ einen Tisch bestellt hatte. Auch beim Abendessen vermied man das Thema um die getöteten Jeschkes.
Während des Essens kam der Commissario plötzlich auf die Vorfälle im Frühjahr zu sprechen:
„Dottore, habe ich Ihnen schon erzählt, wie die Geschichte mit Ihrem Olschewski damals weiterging?“
Lenning schüttelte den Kopf und antwortete nichts, da er den Mund noch voll hatte. Der Commissario zögerte jetzt keinen Moment und berichtete Lenning, dass man den Vorgang in Bozen im März noch genauer untersucht hatte. Eine Gruppe Palästinenser hatte versucht, erhebliche Gelder, die der Autonomiebehörde zustanden, anzulegen, wobei man zunächst die Ostschweiz im Auge hatte. Dort jedoch war es zu Verzögerungen gekommen, die die Palästinenser dann veranlasst hatten, nach Südtirol auszuweichen.
Lenning dachte in diesem Zusammenhang daran, dass er einmal als Anwalt mit genau dem gleichen Hintergrund in Genf beratend tätig gewesen war. Ziel sollte es jeweils sein, die Autonomiebehörde vor israelischen Maßnahmen zu sichern, die darin bestanden, dass von Israel eingenommene Steuergelder eingefroren wurden, um den eigenen Willen gegenüber den Palästinensern durchzusetzen.
Dem Commissario waren diese Zusammenhänge egal, wie Lenning im Gespräch feststellen konnte.
„Jedenfalls blieb die Aktion nicht verborgen. Die Israelis müssen wohl ein hochkarätiges Team zusammengestellt haben, das einen Erfolg der Aktion verhindern konnte“, stellte der Kommissar fest. „Dabei ist es in einer Nebenstraße zunächst zu einem Handgemenge gekommen, bei dem einer der Israelis eine Stichverletzung davongetragen hat. Ein zweiter Israeli war danach zwei Tage verschwunden. Später wurde er, wie auch der inzwischen im Hospital wieder hergestellte Verletzte, ausgewiesen.“
Wolf Lenning war nicht übermäßig erstaunt. „Und wo ist der Zusammenhang mit Olschewski?“ wollte er wissen.
Der Commissario schüttelte den Kopf. „Nicht so stürmisch“, meinte er, sichtlich die Neugier des Anwalts genießend. „Das Taschentuch, das wir bei Meransen gefunden haben, wurde auf die Herkunft des Blutes im Labor untersucht und stellen Sie sich vor, das Blut stammte tatsächlich von dem Verletzten. Wir wissen zwar bisher nicht, ob Olschewski direkt mit dem Taschentuch in Verbindung stand, jedenfalls wurde es in der Nähe der Stelle gefunden, wo an dem Abend der Schlittenpartie der erste Schuss gefallen ist.“
Lenning erzählte jetzt dem Commissario mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, dass ihm gewisse Zusammenhänge bekannt waren, nämlich dass Dax das Taschentuch in Algund Olschewski aus der Tasche gerissen hatte. Der Kommissar war überrascht.
„Wenn Sie mir das gleich gesagt hätten, hätten wir es etwas einfacher gehabt. Damit steht fest, dass Olschewski zu dieser Gruppe gehörte. Wahrscheinlich hat er dem Verletzten erste Hilfe geleistet und dann jedoch das Taschentuch, das offensichtlich von ihm stammte, wieder an sich genommen. Das Monogramm war hebräisch, allerdings habe ich die Einzelheiten vergessen.“
Lenning freute sich, dass der Kommissar nicht nachtragend war und bat ihn in seiner Erzählung fortzufahren. Dieser zögerte nicht lange.
„Zwei Tage später haben unsere Leute dann eine Leiche gefunden.“
Wolf Lenning horchte auf. „Wo?“ wollte er zuerst wissen.
Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Nicht wieder so stürmisch, Dottore. Fragen Sie doch zunächst, um wen es sich handelte.“
Lenning nickte. „Fahren Sie fort, bitte!“
Beide, der Kommissar und Lenning hatten aufgehört zu essen.
„Es handelte sich um einen der beiden Palästinenser, die in Bozen entkommen waren. Die anderen wurden zunächst in Haft genommen und dann abgeschoben.“
Der Kommissar berichtete weiter, dass der Tote in einem Dickicht unterhalb der Waldabfahrt gefunden wurde.
„Wir konnten nicht mit letzter Sicherheit feststellen, ob er sich selbst dorthin geschleppt oder ob ihn jemand an diese Stelle verbracht hatte. Spuren waren in diesem Gebiet so gut wie nicht auszumachen, zumal die meisten Flächen wieder verschneit waren. Aus der Tatsache, dass der Tote auf dem Weg zu der Stelle, wo das Geschoss in den Schlitten eingeschlagen ist, gefunden wurde, lässt sich der Schluss herleiten, dass auch hier ein Zusammenhang besteht. Wir gehen davon aus, dass entweder der andere Palästinenser an dieser Stelle Olschewski auflauern wollte oder aber der verletzte Palästinenser verfolgt wurde und in diesem Zusammenhang der Schuss zwar auf den Verfolgten abgegeben worden war, sein Ziel jedoch verfehlt hatte.“
Wolf überlegte kurz. „Sie hatten gesagt, dass man zwar das Projektil, nicht jedoch die Hülse gefunden hätte.“
Der Kommissar nickte.
„Daraus ist doch zu schließen, dass wohl mit einem Revolver geschossen wurde.“
Der Kommissar nickte wieder.
„Handelt es sich denn um Schüsse aus der gleichen Waffe?“
Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein, der Tote war mit einer 45er getroffen worden. Bei dem Projektil am Schlitten handelte es sich um eine .357 Magnum.“
Einen Moment verwirrt, fragte Wolf Lenning den Commissario, ob er Olschewski in Verdacht habe, den Palästinenser getötet zu haben.
Der Commissario verneinte. „Nein. Ich glaube nicht, dass er eine 45er bei der Schlittenpartie dabei hatte. Das wäre zu auffällig und auch letztlich zu gefährlich gewesen. Er war offensichtlich auf der Flucht und das nicht allein. Wir konnten anhand der vom Hotel aus geführten Telefonate feststellen, dass er mit jemandem in der Nähe von Bozen Verbindung hatte. Bei diesem Telefonpartner muss es sich wohl um den einen Mitarbeiter gehandelt haben, der wie gesagt, bei der Auseinandersetzung in Bozen unverletzt geblieben ist. Sie haben doch von einem Mann berichtet, der Olschewski über die Straße etwas zugerufen hatte.“
Wolf Lenning erinnerte sich daran, dass tatsächlich jemand Olschewski etwas zugerufen hatte, was dieser ihm gegenüber abgeleugnet hat. Dass er dem Commissario davon berichtet hatte, wusste er jetzt nicht mehr genau, bejahte jedoch die Frage des Kommissars.
„Dieser Mann muss Ihnen gefolgt sein und bei der Schlittenpartie Olschewski Hilfestellung geleistet haben. Wir konnten jedenfalls feststellen, dass ein Motorschlitten an der Station an einen Ausländer ausgeliehen worden war. Höchstwahrscheinlich hat Olschewski Franzls Schlitten nicht unfreiwillig verlassen, sondern war abgeholt worden. In diesem Zusammenhang müssen sie wohl mit den Palästinensern zusammengetroffen sein, die sich wahrscheinlich ebenfalls an Eure Spur zum Gitschberg gehängt haben“, fuhr der Commissario fort. Er berichtete von den Auswertungen der Untersuchung, dass nämlich keinerlei weitere Blutspuren auffindbar gewesen waren, so dass für die Ermittlungsbehören feststand, dass ein tätlicher Angriff der Palästinenser wohl kaum vorgelegen haben konnte.
„Wahrscheinlich hat Olschewskis Partner sofort das Feuer eröffnet und einen der Verfolger zumindest lebensgefährlich verletzt. Daraufhin sind wohl die beiden geflüchtet, gefolgt von Olschewski und dessen Partner. Olschewski muss dabei wohl dieses Taschentuch verloren haben, das uns so viele Rätsel aufgegeben hatte.“
Wolf Lenning sann nach und fragte schließlich den Commissario, wie es denn zu dem zweiten Schuss gekommen sein mochte. Dieser legte die Stirn in Falten.
„Das konnten wir nicht mehr genau rekonstruieren. Insbesondere wissen wir nicht, warum die Palästinenser, wenn sie bewaffnet waren, sich nicht gegen Olschewski und seinen Freund zur Wehr gesetzt haben.“
Lenning schüttelte unwirsch den Kopf. „Ich glaube, dass hier Ihre Leute gedanklich einen Fehler gemacht haben. Der angeschossenen Palästinenser war wohl nicht bewaffnet, sonst hätte er sich in der Tat verteidigt. Er musste auch alleine gewesen sein, denn spätestens nachdem auf ihn geschossen worden war, hätte der zweite, der wohl bewaffnet gewesen sein musste, zurückgeschossen. Ich glaube vielmehr, dass die beiden sich getrennt haben müssen, um so Olschewski sicher zu bekommen. Nachdem der erste Schuss gefallen war, konnte der zweite, der an der Waldabfahrt den anderen auflauerte, davon ausgehen, dass Olschewski auf diesem Schlitten mitkommen musste. Dass der Schuss schließlich ins Leere ging, war ein Ergebnis seiner Aufregung oder ganz einfach ein Irrtum.“
Den Commissario befriedigte dieses Ergebnis nicht. „Wieso gehen Sie überhaupt davon aus, dass der zweite Schuss von den Palästinensern kam? Ich halte es vielmehr für wahrscheinlich, dass zu diesem Zeitpunkt sowohl Olschewski als auch sein Partner bewaffnet waren. Dabei hat wohl eine Verfolgung stattgefunden, wobei wir nicht ausschließen, dass Olschewski und sein Partner es selbst waren, die den tödlich Verletzten an eine andere Stelle verbrachten, um zu verhindern, dass er vorzeitig gefunden werde. Dann könnte es so sein, dass der Schuss bei der Verfolgung des Zweiten gefallen ist oder dass man einfach nur deshalb geschossen hatte, um weitere falsche Fährten zu legen und insbesondere die Ermittler davon abzuhalten, an der anderen Stelle zu genau zu suchen.“
Wolf Lenning und der Commissario konnten sich nicht über die Beurteilung des Vorfalls einigen, aber schließlich war es ja egal. Fest stand, dass ein Mensch das Leben verloren hatte, während andererseits Olschewski ebenso einen Partner gehabt haben musste, wie der erschossene Palästinenser.
Wolf hatte noch eine Menge Fragen, die der Commissario entweder nicht beantworten konnte oder nicht beantworten wollte.
„Unser Essen ist schon ganz kalt“, wehrte er ab „Und schließlich langweilen wir die Signora und die Kinder.“
Ellen nickte heftig und bat, doch das Thema zu wechseln, zumal man sich ja mit den Kindern im Urlaub befand. Danach kam noch ein großer Nachtisch, insbesondere zur Freude der Mädchen.
Der Commissario war jetzt sehr witzig aufgelegt und erschien als interessanter Gesellschafter, so dass es schon sehr spät war, als man nach Rain zurückkehrte. Der Commissario verabschiedete sich, nachdem sich Lenning und Ellen nochmals für die Einladung bedankt hatten.
Zum Abschied meinte Lenning noch: „Commissario, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann?“
Doch der Commissario winkte ab. „Wenn wir weitere Fragen haben, werde ich mich melden.“
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging Lenning zum Hotel Hochgall hinüber, um sich nochmals mit dem Commissario zu unterhalten und erfuhr, dass dieser schon um 8:00 Uhr abgereist war.
Lenning hätte fast einen handfesten Streit mit Ellen bekommen und er musste auch selbst zugeben, dass die Familie etwas anderes unter Urlaub verstehen konnte, als den Stress, der durch das Zusammentreffen mit dem Commissario allen entstanden war. Aus diesem Grund zeigte sich Lenning überaus nachgiebig und man blieb am nächsten Tag zu Hause. Ellen las in einem der von ihr mitgebrachten Bücher, Birgit spielte sehr viel mit Dax und Carola hörte Musik und schaute Fernsehen. Lenning betrachtete zunächst das Wetter, das relativ nass war, jedenfalls hatte er eigentlich für diese Jahreszeit mit nicht so viel Regen gerechnet. Auch er schaute Fernsehen und wurde in allen Nachrichten mit dem Thema Afghanistan konfrontiert, ohne dass man wirklich wichtige Neuigkeiten erfahren konnte. Offensichtlich war das Regime in Kabul stabil, obwohl eine militärische Chance von Anfang an für jeden auch nur halbwegs Kundigen nicht bestand. Die Nordallianz, die besonders von den Amerikanern unterstützt wurde, hatte sich bei der Stadt Massa-i-sharif festgefahren und die US-Luftwaffe war zunächst damit beschäftigt, Stützpunkte in den ehemals südlichen Sowjetrepubliken zu errichten. Für Lenning war dies die eigentlich wichtige Neuigkeit.
„Also will man die Russen aus ihrem Hinterhof vertreiben.“ sagte er mehr zu sich selbst, als er diese Nachrichten hörte. Ellen schaute von ihrem Buch auf und meinte versöhnlich:
„Mach´ auch ein bisschen Urlaub und beschäftige Dich nicht andauernd mit Politik und Krieg.“
Lenning schaute nach der Uhr. Es war inzwischen Dämmerung und die Uhr zeigte 17:30 Uhr. „Wann essen wir heute zu Abend?“ wollte Lenning wissen.
Ellen klappte das Buch mit einem lauten Geräusch zu und schaute Lenning fast liebevoll an. „Was hättest Du denn gern heut´ Abend?“
Die Familie hatte zu Mittag diesmal nichts gegessen, denn man war spät aufgestanden und hatte ein reichliches Frühstück gehabt. Das Frühstück bestand im Wesentlichen aus in der Molkerei eingekauften Käse und aus Tiroler Speck, dazu gab es Tiroler Vinschgerln, kleine Vollkornbrote mit Kümmel und Fenchel. Lenning war überrascht über Ellens offensichtliche Friedfertigkeit, nachdem sie vorher sehr kriegerisch jeden Annäherungsversuch Lennings erfolgreich zurückgeschlagen hatte.
„Wir könnten heute die Speckknödel machen und dazu eine feine Sauce. Ich will Dir auch helfen!“ betonte Lenning.
Ellen stand auf. Sie hatte im Bett gelegen und sich bis zum Hals zugedeckt. Lenning war deshalb sehr erstaunt festzustellen, dass sie schwarze Strumpfhosen trug und einen schwarzwollenen Pullover.
„Mach´ doch schon einmal einen Wein auf“, bat Ellen. „Ich komm dann sofort zum Kochen.“
Lenning hatte, ohne dass es Ellen gemerkt hätte, bereits eine Flasche Lagrein geöffnet und schenkte sich und ihr ein Glas ein.
„Das ist wirklich mein Lieblingswein!“ Ellen schlürfte den Wein, was sonst gar nicht zu ihr passte. „An dem könnt´ ich mich wirklich besaufen.“
Lenning lachte. „Wir haben genug davon.“
Ellen lachte auch. „Für hier ja, aber daheim ist der Rest in spätestens zwei Monaten weggetrunken.
„Wir konnten nicht mehr einkaufen, weil wir nicht mehr Platz im Auto hatten.“ verteidigte sich Lenning, der in Ellens Äußerungen wieder eine Kritik erblickte.
„Und im übrigen ist der Wein sündhaft teuer geworden. Wir haben diesmal über zehn Mark pro Flasche bezahlt“, meinte Ellen, die den Abrechnungsbon aufbewahrt hatte.
„Ja, wenn ich an früher denke...“ Lenning kam ins Schwärmen. „Damals hab´ ich für den gleichen Wein drei Mark oder drei Mark fünfzig bezahlt. Die Schwanburg ist halt jetzt zu einer der teuersten Weinerzeuger hierzulande geworden und der Wein heißt auch nicht mehr „Lagrein dunkel“, sondern nur noch einfach „Lagrein Riserva“.“
Ellen war glücklich, Lenning von den politischen Themen abgebracht zu haben, denn sie fürchtete, dass er nachts nicht schlafen könne, wenn er sich zu arg mit dieser Materie, insbesondere nachmittags und abends beschäftigte. Sie führte also bereitwillig ein Gespräch über gute Weine und schöne alte Zeiten und dabei hatte sie in aller Schnelligkeit den Herd angemacht und Wasser aufgestellt. Inzwischen waren auch die Kinder hereingekommen und wollten gerade die auch frisch eingekaufte Schokolade nehmen, als Ellen ihnen strikt verbot, vor dem Essen noch irgendetwas, seien es sehr gute Kartoffelchips in Olivenöl ausgebacken oder weiße oder sonstige Schokolade, zu sich zu nehmen. Stattdessen durften sie den Tisch decken und Lenning ließ es sich nicht nehmen, eine große Portion Parmesankäse zu reiben.
Beim Abendessen wurde -wie üblich- das Fernsehgerät ausgeschaltet und es kehrte tatsächlich endlich etwas wie Ferienidylle ein. Die Kinder verschwanden nach dem Abendessen in ihr Zimmer, wo auch ein Fernsehgerät stand, während Ellen sich „ihrem“ Wolf zuwandte.
„Eigentlich ist die Zeit viel zu knapp und es ist viel zu schade, sich zu streiten.“ begann sie und rückte auf der Eckbank immer näher an Wolf heran. Dieser legte den Arm um sie und meinte seinerseits nun auch sehr versöhnlich „Was wollen wir denn morgen unternehmen?“
„Mach´ einen Vorschlag, Du kennst Dich hier besser aus.“
Lenning überlegte. „Ich würde sagen, wenn das Wetter es zulässt, gehen wir zur Ursprungsalm.“
„Ist das nicht zu weit?“ fragte Ellen gleich wieder besorgt, ob Lenning ihre Friedfertigkeit zum Anlass für eine, wie sie sich ausdrückte, “Ochsentour“ nahm.
„Nein, das ist gar nicht sehr weit und wir können variieren. Wir können früher über die Säge zurückgehen oder wir können den Weg über noch ein Tal nehmen. Ganz wie es uns gefällt.“
Ellen blieb etwas skeptisch. „Was hast Du noch für einen Vorschlag?“
„Ja, wenn das Wetter nicht so halten würde, könnten wir eventuell ein Schaubergwerk aufsuchen.“
„Das wäre auch etwas Besseres für die Kinder“, freute sich Ellen und blickte hinaus. „Das Wetter war heute wirklich hundsmiserabel, wie man hierzulande sagt.“
Es regnete und in den Regen hatten sich erste Schneeflocken gemischt.
„Morgen kann alles wieder anders sein“, bemerkte Lenning, der ins Bad gegangen war. „Weißt Du was, ich lass´ uns jetzt ein heißes Bad ein und morgen überlegen wir neu. Einer der Vorschläge wird auf jeden Fall passen.“
Ellen stimmte zu und verschwand nochmals in ihr Schlafzimmer. Als sie zu Lenning ins Bad kam, war sie splitternackt. Das Badezimmer war erfüllt von dem für Kiefernadelbäder typischen, mit Eukalyptus verstärkten Duft.
„Ein heißes Bad ist genau das, was ich jetzt brauch´“, meinte sie und glitt in die Wanne.
Schaum ließ ihren Körper bis auf den Kopf und die Brüste völlig verschwinden. Lenning begab sich nochmals in das Zimmer, holte ein Glas und die Flasche Lagrain und stieg nun ebenfalls in die Badewanne, die überzulaufen drohte. Dies veranlasste Ellen, sich aufzusetzen, so dass ihr Oberkörper wieder aus dem Schaum herausragte. Lenning hatte hinter ihr Platz genommen und schob sie in der Wanne leicht nach vorne. Ellen drehte den Kopf halb zur Seite, was schon für einen recht intensiven Kuss genügte. Dann nahm sie einen kräftigen Schluck aus dem viel zu kleinen Rotweinglas und meinte:
„Wolf, schenk´ noch einmal nach!“
Wolf streckte den Arm zu der kleinen Kommode hinüber, die gerade noch von der Wanne aus erreichbar war und füllte das Glas, entgegen seiner üblichen Art bis zum Rand und stellte die Flasche zurück.
„Das ist ökonomischer, als wenn ich beim nächsten oder übernächsten Einschenken die Flasche wegen meiner nassen Hände auf den Boden fallen lasse und sie kaputt geht.“
Gerade als Lenning die Flasche zurückgestellt hatte, ging das Licht aus. Zunächst dachten beide, die Kinder hätten vielleicht von außen versehentlich oder mit Absicht den Lichtschalter für das Badezimmer gedrückt.
Ellen rief auch sofort „Wer hat denn hier das Licht ausgemacht?“
Aber statt einer Antwort kam Carola ins Bad gestürmt und schien etwas verstört. „Es gibt nirgends mehr Licht, ich habe auch nach draußen geschaut.“
Im nächsten Augenblick war auch Birgit im Badezimmer und bestätigte „Im ganzen Ort ist kein Licht, wir haben einen totalen Stromausfall.“
„Gut Kinder,“ meinte Lenning, „dann könnt Ihr Euch drüben hinsetzen und eine Kerze anzünden und vielleicht ein Spiel spielen. Ihr könnt auch uns eine Kerze herbringen.“
Ellen lachte laut auf „Und woher sollen die Kinder die Kerzen nehmen? Hast Du welche mitgebracht?“ fragte sie.
„Ich habe immer zwei Kerzen dabei“, antwortete Lenning. „Sie befinden sich in meinem Koffer.“
Und tatsächlich brachten die Mädchen zwei Kerzen und das Feuerzeug. Sie entzündeten eine Kerze, ließen etwas Wachs auf den Waschbeckenrand tropfen und setzten sie darauf. Die andere Kerze nahmen sie mit.
Lenning lehnte sich in der Badewanne zurück und schob auch Ellen mit beiden Armen umschlingend, jede Hand auf eine ihrer Brüste in eine liegende Stellung.
„Ist das nicht romantisch?“ meinte er und Ellen versuchte die zuvor verlorengegangene Stimmung wiederzufinden.
„Diese Badewanne ist sogar größer, als die bei uns daheim“, bemerkte Ellen und versuchte in eine Seitenlage zu kommen, um Lennings Gesicht bei Kerzenschein zu sehen. „Du hast ein sehr schönes Profil“, stellte Ellen fest und zeichnete mit dem Zeigefinger über Lennings große Nase. Lenning seinerseits sah bei flackerndem Kerzenschein seine eigene Silhouette und auch die Ellens. Mit der rechten Hand ihre rechte Brust loslassend, fuhr er ihr mit dem Zeigefinger ebenfalls über die Nase und meinte „Dein Profil ist auch recht signifikant.“
„Ja, wir haben beide große Nasen“, meinte sie und ihre Münder näherten sich einander.
Gerade als sich beide noch näher kommen wollten, wurde die Badezimmertür aufgerissen und beide Mädchen stürmten ins Badezimmer.
„Papa, da war jemand an der Tür“, flüsterte Birgit laut vernehmbar und Carola schloss die Tür mit der rechten Hand, während sie mit der linken Lenning dessen Pistole hinschob.
„Hier, die Mörder von vorgestern sind noch nicht gefasst.“
Lenning lachte laut, während Ellen sofort eine sitzende Haltung einnahm und nervös mit Seife und Waschlappen zu hantieren begann.
„Was soll denn an der Tür gewesen sein?“ fragte sie ärgerlich und Lenning, dem sie fast feindselige Blicke zuwarf, zuckte bedauernd mit den Schultern und wiegte den Kopf.
„Schau doch wenigstens mal nach, Papa“, baten beide Mädchen.
Lenning zuckte abermals bedauernd die Schultern und Ellen war es schließlich, die Wolf ultimativ mit Blick und Stimme aufforderte, doch einmal nachzuschauen, was die Mädchen beunruhigt hätte.
Als Wolf abermals bedauernd die Schulter zuckte und seinerseits nach der Seife griff, wollte Ellen wissen, warum Wolf denn gar so störrisch wirkte und dieser meinte nur lakonisch:
„Warum auch.“
Unter dem Wasser und vom Schaum verdeckt, führte er Ellens Hand zu dem immer noch erigierten Glied. Ellens ärgerlicher Gesichtsausdruck machte einem Lächeln Platz, das aber in Enttäuschung umzuschlagen begann, als beide Mädchen instinktiv auf das Thema Nacht kamen und lautstark jetzt forderten, die Nacht bei den Eltern im Bett verbringen zu dürfen, da die Gefahr im eigenen Zimmer viel zu groß sei. Zum letzten Mal zuckte Wolf mit den Schultern, stand auf, ein Badetuch ergreifend und begab sich in das Kinderzimmer. Dort war der eine Fensterladen zugefallen, während der andere noch im Wind hin und her schaukelte.
„Keine Gefahr,“ meinte er „das war nur der Wind. Seht einmal, es schneit nun schon richtig.“
Tatsächlich schien der ganze Vorplatz schon überzuckert.
Vergeblich versuchten Wolf und Ellen die Kinder dazu zu bewegen, im eigenen Zimmer zu übernachten und entsprechend verlief dann auch die Nacht und gegen Morgen hörte Lenning ein Geräusch am Fensterladen. Nicht sonderlich beunruhigt schlief er noch einmal ein. Kurz darauf waren die Kinder hellwach und weckten durch entsprechenden Lärm auch die Eltern, so dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Die Helligkeit schien auch sämtliche Restängste der Mädchen vertrieben zu haben, so dass diese nicht nur die Fensterläden im Elternzimmer, sondern auch in ihrem Zimmer lautstark öffneten, so dass die Läden in ihre Halterung einrasteten. Beim Öffnen des einen Ladens mussten sie etwas von dem davor stehenden Tisch geworfen haben, denn Carola und Birgit riefen zur Tür hinaus, sie hätten etwas vom Tisch geworfen. Lenning, der inzwischen auch schon angezogen war, ging mit ihnen hinaus und tatsächlich lag dort eine Papiertüte mit sechs frischen Semmeln.
„Das war das Geräusch von vorhin“, meinte Birgit, während Ellen misstrauisch sofort fragte, ob Wolf Semmeln für das Frühstück bestellt hätte. Lenning verneinte, meinte aber, man könne ruhig diese Semmeln essen, denn um diese Zeit frühstücke ohnehin niemand mehr und man wolle sie bezahlen und für den nächsten Morgen vielleicht auch diese Brötchen bestellen. Gesagt, getan. Nicht nur die vier frühstückten heute besser als sonst, sondern auch Dax erhielt ein großes Stück Specksemmel. Danach packte Ellen die Rucksäcke, denn es war strahlender Sonnenschein und sie schien nach dieser Nacht sehr geneigt, den Weg zur Ursprungsalm zu machen. Verständnisvoll zwinkerte sie Wolf zu und meinte:
„Dann schlafen die Kinder wenigstens gut danach.“
Während Ellen die Rucksäcke packte, ging Wolf zum Fahrzeug und entnahm ihm zwei Dosen recht gut gekühlten Bieres und eine Flasche Rotwein. Als er in die Wohnung zurückkehrte, bemerkte er, dass eine Fußspur zum Fenster des Kinderzimmers führte. Verglichen mit der Spur, die zu den Brötchen führte und die scharf abbildet war, war die zweite Spur offensichtlich wesentlich älter und fast zugeschneit. Hätte es fester geschneit, hätte man diese Spur wahrscheinlich gar nicht mehr gesehen. Lenning verfolgte die Spur mit dem Blick bis zur Straße. Dort hatten Fahrzeuge den Schnee schon ganz zerfahren, so dass nichts mehr festzustellen war. Als Lenning das Fenster öffnete, sah er, dass der Schnee von der Fensterbank zusammengepresst war. Offensichtlich hatte jemand hier etwas darauf gelegt oder sich abgestützt, jedenfalls den Schnee zusammengepresst und das wenige, was noch darauf geschneit hatte, konnte diese Spur nicht verschwinden lassen. Lenning begab sich nun in die Wohnung und fragte die Mädchen, ob sie noch einmal das Fenster im Kinderzimmer abends geöffnet hatten.
„Nein, nur morgens.“ meinten sie und Lenning überlegte noch einmal.
Wenn die Kinder morgens den Schnee aus irgendeinem Grund zusammengepresst hätten, hätte kein neuer Schnee darauf gelangen können. Er erwähnte zunächst nichts von dieser Entdeckung und alle marschierten guter Dinge zum Ort hinaus. Das Wetter war das Gegenteil von dem vom Vortag. So gut wie kein Wölkchen war am Himmel zu entdecken und die Sonne hatte eine Strahlkraft, dass sogar die „verfrorene“ Ellen den Anorak auszog und sich um die Hüften schlang. Sie gingen über leicht überzuckerte Wiesen, bei denen noch mehr grün durchschien, als Lenning es zunächst beim Anblick des Vorplatzes vermutet hatte. Der Weg führte aus dem Dorf und in den Bergwald hinein. Einige Steine waren noch etwas glitschig, aber die Wanderer hatten gutes Schuhwerk. Lenning hatte darauf bestanden, dass Ellen und die Mädchen sich Militärstiefel kauften, weil für diese Art von Wanderungen keine besseren Schuhe zu bekommen waren. Entsprechend ausgestattet, war auch nicht zu befürchten, dass in höheren Lagen tieferer Schnee den Wanderern etwas anhaben konnte. Dax, der Labrador freute sich riesig über das bisschen Schnee und sprang ständig voran, um immer wieder zurückzukehren und aus Freude, vor allem an Wolf und Ellen hochzuspringen.
Ellens Laune war wesentlich besser als am Vortag, obwohl die Nacht nicht unbedingt ihren ursprünglichen Intentionen entsprochen haben konnte. Wahrscheinlich hatte auch das Wetter das seinige getan und wenn die Sonne schon so lachte, konnten weder die Kinder noch Ellen verdrießliche Gesichter dazu machen.
Nach etwa einer Stunde gelangten die Wanderer zu einer verlassenen Alm. Hier wurde eine kurze Pause eingelegt, die Kinder tranken eine Limonade, während die Erwachsenen zusammen eine Dose Bier zu sich nahmen. Danach sollte es gleich weiter gehen, damit man noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück sei. Lenning, der den Weg kannte, drängte die anderen ständig, da er wusste, dass zum Schluss die Zeit immer zu kurz zu werden drohte. Danach begann der eigentliche Aufstieg zur Ursprungsalm. Teilweise waren hier vereiste Flächen und obwohl Wolf befürchtete, Ellen werde wieder in schlechte Laune verfallen, blieb die gute Laune erhalten, bis man endlich in der Nachmittagssonne die Ursprungsalm vor einem gigantischen Panorama verschneiter Berge sah. Das letzte Stück bis zur Almhütte war wieder schnee- und eisfrei, denn hier hatte ein kräftiger Wind den gesamten Neuschnee gegen die Bergwand gedrückt. Die Wanderer kamen also sehr schnell zu der nicht mehr bewirtschafteten Almhütte, wo sie genügend Tische und Bänke vorfanden und wo eine längere Pause eingelegt wurde. Alle hatten Hunger und Durst. Es gab verschiedene Sorten Käse, Tiroler Speck, Bauernbrote, Vinschgerln und Schüttelbrot, diese knäckebrotartige Spezialität, die Wolf und Ellen nur von Tirol her kannten. Besonders dieses Brot war lecker und passte ideal zu der Flasche Wein, die jetzt gut gekühlt aus der Flasche getrunken, ein eigenes Flair von Luxus vermittelte und immerhin im Zusammenhang mit Mimik und Laune der Eltern auf die Kinder abstrahlte, so dass diese auch einmal von dieser alkoholischen Köstlichkeit probierten. Schließlich rauchten die Eltern noch eine Zigarette, da, wie Lenning betonte, die Zeit knapp werden würde und für eine Zigarre oder Pfeife nicht mehr reichte.
Als man abmarschierte, stand die Sonne noch relativ hoch, aber Lenning kannte die Problematik einer schnell fallenden Wintersonne im Gebirge: Wenn die Sonne hinter den westlichen Gebirgsketten verschwunden war, war wohl noch genügend Sicht, aber es würde sofort sehr schnell kalt werden. Getautes würde gefrieren, den Weg unnötig glatt erscheinen lassen, was wiederum zur Folge hätte, dass sich der Abstieg gefährlicher und langsamer entwickeln müsste, was wiederum zu längeren Marschzeiten und so dazu führen musste, dass man bei stockfinsterer Nacht heimkehren würde. Die Folge davon wäre dann sicher eine schlechte Laune der anwesenden Weiblichkeit. Lenning drängte also, zwar moderat, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ellen mit ihrer Standardäußerung: „Wolf, keinen Stress!“ die wirklich idyllische und romantische Stimmung leicht tangierte.
„Sollen wir uns noch in dieses Buch eintragen?“ rief Birgit, die mit Carola zusammen einige Schritte weiter zum Besucher- oder Gipfelbuch gegangen war, das in einer Holzlade wetterfest aufbewahrt wurde. Die Kinder hatten schon einige Sprüche darin gelesen und baten Lenning, ihnen doch einmal kurz etwas in einer fremden Schrift vorzulesen und zu übersetzen. Lenning begab sich zu den Kindern und stellte fest, dass hier in kyrillischer Schrift etwas stand.
„Prost!“ und dann stand da ein Name. „Lebe einhundert Jahre!“ und wieder „Prost 2001!“
„Da waren schon Russen gewesen.“ meinte Lenning und schenkte dem weiter keine Bedeutung, doch plötzlich blieb sein Auge auf der letzten Eintragung hängen. Hier stand: „Datum ................., K. und O. Jeschke, endlich wieder einmal Urlaub...“ und in Klammern stand „Neujahr 2001.“
Lenning blätterte noch einmal zurück. An der kyrillischen Eintragung blieb er hängen. Lenning blätterte nach vorne, wo sich der Eintrag in kyrillischer Schrift befunden hatte. Er überflog die darüber und darunter liegenden Eintragungen und fand tatsächlich den Namen Jeschke. Die Schrift darüber war sehr schwierig zu entziffern. Wahrscheinlich waren den Schreibenden nach einer Skitour die Finger noch steif; jedenfalls war die Tour mit jemand anderen unternommen worden, dessen Namen jetzt unleserlich und teilweise von der Nässe verwischt war. Lenning überlegte und rief Ellen. Ellen kam – teils war sie neugierig, teils ärgerlich über diesen neuen Fund, der den bisher so harmonisch und idyllisch verlaufenden Ausflug eine Komponente zu verleihen drohte, die alte Ressentiments wiederbeleben konnte.
„Was sagst Du dazu?“ Lenning zeigte ihr zuerst die letzte Eintragung und dann die Eintragung zum Jahreswechsel.
Ellen hatte im Rahmen ihrer beruflichen Erfahrung auch eine gewisse Fähigkeit im Handschriftenlesen entwickelt, konnte jedoch die verwischten erwähnten Namen nicht entziffern. Stattdessen zeigte sie auf eine Eintragung darunter.
„Sieh mal hier, da steht doch Lenning und der hieß auch noch Wolf. Welch´ sonderbarer Zufall“, meinte sie fast schon ärgerlich. „Du warst doch auch schon einmal hier.“
Lenning kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Natürlich war ich schon hier, aber nicht an Neujahr! Du weißt doch, wann ich da war.“
Das schien Ellens aufkommenden Zorn niederzuhalten, denn an Silvester war Lenning zu Hause gewesen. Er überlegte kurz.
„Es gibt verschiedene Personen dieses Namens, das ist richtig. Aber irgendwie weiß ich über alle Bescheid und es würde an ein Wunder grenzen, wenn dieser Lenning hier mit mir nicht bekannt oder sogar verwandt sein sollte. Kannst Du das andere lesen?“
Ellen versuchte es und immerhin einigte man sich darauf, dass in irgendeinem Zusammenhang mit Wolf Lenning dieser Ausflug unternommen worden sein sollte und man ihm deshalb Dank schulde bzw. froh darüber war. Eine Unterschrift Lennings erschien nicht.
„Hast Du mit diesem Jeschke vielleicht einmal über Tirol gesprochen?“ fragte Ellen plötzlich.
„Kann schon sein, aber Genaues weiß ich nicht. Außerdem ist das nicht in dem Teil, im dem Lenning erwähnt wird.“
„Nein, das hier ist eine andere Schrift. Wie lautet denn hier die Unterschrift?“
Lenning versuchte den Namen aus der Unterschrift zu lesen, war jedoch nicht dazu in der Lage.
Ellen meinte “Steiner“ lesen zu können, aber Lenning kannte keinen Steiner.
„Schau´ mal, das sieht aus wie eine weibliche Schrift.“
Lenning fiel niemand ein. „Wir werden das Buch dem Commissario mitbringen.“ bestimmte Lenning.
„Pass´ auf, dass wir nicht unfreiwillig hier länger Urlaub machen. Stell´ Dir vor, der Commissario sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen und behält Dich hier“, spottete Ellen, aber mit einem Gefühl für die Wirklichkeit pflichtete sie Lenning bei, dass der Commissario Kenntnis von dieser Eintragung erlangen müsste.
„Wir rufen ihn an und er soll sich das Buch holen.“
„Das würde mich ja aber direkt verdächtig machen“, erwiderte Lenning und Ellen fand dagegen kein Argument.
„Wenn ich mir schon die Mühe mache, dieses Buch dem Commissario zu bringen, - und nur ihm würde ich es geben - dann würde er mich wohl kaum veranlassen, länger zu bleiben, sozusagen als Dank für die Hilfe.“
Ellen musste hier zustimmen und so packte Lenning das Buch in den Rucksack.
Die Wanderer hatten jetzt schon wieder mindestens eine viertel Stunde verloren und beeilten sich, den Weg fortzusetzen. Die Sonne war immer tiefer gesunken und ein geradezu rötliches Licht ließ die umliegenden schneebedeckten Gipfel erglühen.
„Ist das schön. Sollen wir noch ein bisschen filmen?“ fragte Lenning und zog schon die Videokamera hervor.
„Ich denk´, wir haben es so eilig. Bei Licht kommen wir heute nicht mehr an.“
Lenning meinte, er komme im Laufschritt nach, die anderen sollen vorangehen.
Tatsächlich filmte er die Familie samt Hund vor den im Abendrot erglühenden Gipfeln und setzte sehr schnell nach. Es ging jetzt ein relativ ebener Pfad in einem nach links steil abfallenden Gelände und die Landschaft wurde zunächst immer wilder. Ellen vertraute zuviel auf Wolfs Ortskenntnis, als dass sie Bedenken bekommen könnte, aber die Kinder wendeten sich ängstlich an ihren Vater.
„Bist Du sicher, dass das der richtige Weg ist? Wir haben immer noch die gleiche Höhe.“
„Ja, Ihr Braven. Da vorne geht es umso steiler bergab.“
Die Gruppe marschierte jetzt schnellsten Schrittes, ständig in die Sonne blickend. Nach einiger Zeit sah man auf einem Plateau etwas tiefer eine Almhütte liegen und Lenning erklärte:
„Das ist schon die obere Kofler Alm. Bald haben wir es geschafft.“
Ellen und die Kinder hatten gar keine Zeit gehabt, den Mut zu verlieren und marschierten sehr tapfer in die angegebene Richtung. Schließlich war die Sonne hinter der gegenüberliegenden Bergkette verschwunden und man merkte augenblicklich einen Temperatursturz.
Ellen fröstelte. „Wie lange dauert es noch?“ fragte sie Lenning, der gerade auf die Uhr schaute.
„Es dauert mindestens noch eineinhalb Stunden. Also beeilt Euch!“
Und daraufhin ging es noch schneller als vorher über Felsstücke, denn der Pfad kreuzte hier ein Geröllmeer. Danach ging es auf einem gut ausgebauten Wanderweg sehr steil bergab und man erreichte eine weitere Hütte, vor der ein ausgehöhlter Baumstamm noch fließendes Wasser enthielt. Die Kinder hatten diesmal nicht den für sie typischen Durst und überquerten die Hangwiese, um zum Waldrand zu gelangen, wo der Weg deutlich erkennbar weiterführte. Spuren sah man auch hier keine, so dass man sich sicher sein konnte, allein zu sein. Lenning führte die Gruppe nunmehr auf einen sehr steil abwärts fallenden Weg, der schließlich in Serpentinen überging. Inzwischen war es dunkel geworden. Schließlich überquerten die Wanderer eine Straße und noch bevor Ellen fragen konnte, wo diese hinführte, zeigte Lenning ihnen einen absolut verborgenen Pfad, den man im Dunkeln überhaupt nicht als solchen hätte wahrnehmen können.
„Hier müssen wir durch!“
Nun ging es fast wirklich nur durch Gestrüpp und Ellen stolperte zweimal, jedoch ohne hinzufallen. Die Kinder waren nun nicht mehr stumm, sondern begannen zu jammern und schon nach ganz kurzer Zeit hatte man das Wäldchen durchquert und sah nun das erleuchtete Dorf unmittelbar vor sich, nur noch getrennt durch eine allerdings sehr steil abfallende Wiese.
„Du weißt, ich hab wehe Knie und eine wehe Hüfte und kann nicht mehr und hier diese Steile vermag ich schon gar nicht hinunter zu kommen“, jammerte jetzt auch Ellen und wollte sich zuerst weigern hinunter zu gehen.
Lenning meinte lakonisch: „Es gibt keinen anderen Weg, es sei denn, Du willst durch das Wäldchen zurück steigen.“
Und so machten sie sich doch auf den Weg. Ellen und Birgit gingen einander stützend und ständig schimpfend hinter Carola und Wolf her, die sich die steilste Stelle ausgesucht zu haben schienen.
Merkwürdigerweise jammerte Carola gar nicht mehr. An einer Stelle zeigte Birgit nach rechts, wo offensichtlich ein nicht ganz so steiler Weg herauf zu kommen schien.
„Den werden wir jetzt nehmen“, meinte sie.
Lenning warnte: „Dort ist ein großer Misthaufen abgekippt. Der ganze Weg ist voller Mist.“
Aber Birgit und Ellen ließen sich nicht daran hindern, diesen Weg einzuschlagen und Lenning hatte keine Lust mehr zu warten und ging erst langsamen Schrittes mit Carola den Berg hinunter, um unten auf der Straße die letzten sechzig Meter zur Ferienwohnung im Laufschritt zurückzulegen. Als sie sich umblickten, gewahrten sie Ellen und Birgit direkt vor dem Misthaufen oder waren sie bereits schon im Misthaufen gelandet?
Lenning betrat mit Carola die Wohnung. Kein Zweifel, sie hatten alle Hunger und so machte sich Lenning schon daran, Wasser für die Nudeln aufzustellen, während Carola Zwiebeln schälte, um sie anzubraten und das Abendessen fertig zu machen.
„Heut´ machen wir das Abendessen“, schmunzelte Carola. „Aber wo bleibt Mama nur mit Birgit.“
Als es schließlich zu lange dauerte, traten sie ins Freie hinaus, um nachzusehen. Währendessen waren Ellen und Birgit schon zur Haustür in den Gang gekommen und boten einen erbärmlichen Anblick. Ellen war bis zu den Hüften mit Kuhdreck verschmiert, während Birgit von oben bis unten im Kuhdung gesteckt zu haben schien. Über das Lachen von Carola und insbesondere das Wolfs waren die beiden so erbost, dass sie sich sofort ins Bad zurückzogen und erst zum Abendessen mürrisch und maulend wieder hereinkamen.
„Das war ein toller Ausflug“, begann Ellen. „Nie mehr kriegst Du mich auf einen Berg, das hat jetzt ein Ende.“
Und Birgit, der Tränen in den Augen standen, stimmte lautstark zu.
„Der Papa kann doch nichts dafür, dass ihr in die Kuhscheiße gefallen seid“, meinte Carola kess. „Er hat Euch sogar noch davor gewarnt.“
Und wortlos aß man das recht ordentliche Abendessen und auch der gut dazu passende Rotwein war nicht geeignet, die Stimmung nachhaltig zu heben.
Die Kinder gingen sofort nach dem Essen zu Bett, während Ellen brüsk eine Einladung für ein Bad ablehnte.
„Wolf, ich habe schon gebadet“, erklärte sie und verschwand auch in ihr Bett, während Lenning den Fernseher einschaltete, seine Nachrichtensendung schaute und das mitgebrachte Gästebuch studierte.
Irgendwann ist er wohl darüber eingeschlafen, denn plötzlich stand Ellen vor ihm und schien gar nicht mehr allzu böse zu sein.
„Komm´ ins Bett, es ist schon so spät. Die Sendung regt Dich auf, Du regst Dich über das Buch auf. Denk´ an Dein Herz.“
Lenning überlegte kurz. „Mein Herz ist gesund“, fand er und ging mit Ellen ins Bett.
„Den Rotwein hast Du vergessen“, erinnerte sie ihn. „Ich trinke auch noch ein Glas.“
Ihr Gesicht war deutlich von Milde gezeichnet und der Ärger war schon soweit gewichen, dass wieder gewisse Hoffnung bestand. Lenning ging schnellen Schritts hinaus, doch die Flasche war leer. Er musste eine neue Flasche aus dem Auto holen. Dazu zog er sich den Parka über und rannte hinaus. Der Mond schien und Lenning glaubte einen Schatten vor dem Auto weghuschen gesehen zu haben. Unwillkürlich griff er zur Tasche. Dort befand sich seine Pistole, die er noch nicht aus der Manteltasche genommen hatte.
„Das war wohl doch eine optische Täuschung“, meinte er und nahm zwei Flaschen aus dem Kofferraum. Mit diesen kehrte er zurück zur Verandatür, die er offen gelassen hatte. Als er die Klappläden schließen wollte, war es ihm wieder, als ob da drüben jemand bei den Fahrzeugen vorbeigegangen wäre, aber Lenning hatte keine Lust mehr. Ihm war kalt und er wollte ins warme Bett. Als er mit der Flasche hereinkam, die er inzwischen geöffnet hatte, musste er feststellen, dass Ellen bereits fest eingeschlafen war.
„Schlafende..., darf man nicht wecken“, sagte er zu sich selbst, schenkte sich ein Glas ein und legte sich daneben. Bald jedoch war er so müde, dass ihm die Augen zufielen und er noch nicht einmal dazu kam, das Glas ganz auszutrinken.
Der nächste Morgen brachte Tauwetter und das bedeutete ein schlechtes Vorankommen bei größeren Touren, denn der Schnee war dort oft nicht weggetaut und oft nass und rutschig. Die Mädchen waren schon relativ früh auf und hatten den Frühstückstisch gedeckt, als die Eltern aufwachten. Ellen wollte sich gerade an Wolf etwas ankuscheln, als die Tür aufging und Carola verkündete, das Frühstück sei fertig. Daraufhin war nicht mehr daran zu denken, länger im Bett zu bleiben, und Ellen und Wolf kamen zum Frühstückstisch, der wirklich vollständig gedeckt war. Es gab alles, dass heißt Rührei, harte Eier, Brote mit allen Sorten Käse und Speck, Panetone – eine italienische Kuchenspezialität - sowie einen Marmorkuchen und frische Semmeln mit Butter und Marmelade.
Nach einem ausgiebigen Frühstück waren alle genügend gestärkt und böse wegen der Erlebnisse des letzten Tages war keiner mehr. Das Wetter war sehr sonnig und schön und so beschloss man, eine Ausflugsfahrt zu unternehmen. Zuerst besuchten die Wanderer die Burg im Tal und danach ging es zu einem Schaubergwerk im Ahrntal.
Die Stimmung war richtig, wie sie in den Ferien sein sollte, und Lenning hatte sowohl den Doppelmord, als auch Afghanistan praktisch vergessen und wollte zu alten Bergwerken, die er noch von früher kannte, eine Wanderung unternehmen.
Zunächst ging es mit einem Elektrobähnchen drei Kilometer in den Berg hinein, genauer gesagt in den Franz-Joseph-Stollen. Dort stieg man aus dem Bähnchen, um allerhand zu Fuß zurückzulegen und anschließend wieder mit dem gleichen Elektrobähnchen zum Tageslicht zurückzukehren. Den Kindern machte das einen Heidenspaß, insbesondere die lange Rutschbahn, die sie mehrfach mit Geschrei hinunterfuhren. Auch Lenning machte dies große Freude und auch er stieg noch einmal hinauf, um mit Ellen nochmals die Rutschbahn hinunterzufahren. Lenning dachte jedoch an Dax und dass dieser nicht zu lange allein im Auto zurückbleiben könne. Nach kurzer Zeit war die Führung zu Ende und es ging wieder hinaus ins Tageslicht. Draußen wurden, wie üblich, noch Bilder von den Reisenden gemacht, die diese jedoch nicht interessierten. Alle strebten schnell dem Fahrzeug zu und befreiten den armen Labrador daraus.
Relativ flott ging es trotz der Schneeschmelze bergauf. Man kam an einem Lawinenabweiser vorbei, der vor langer Zeit gebaut worden war, um die altertümlichen Bergwerke zu schützen. Dieser war wie eine gigantische vorsintflutliche Mauer von Zyklopen in einem fast rechten Winkel gebaut. Lenning erklärte den Kindern, dass diese Arbeiten hier ohne Bagger und ohne Kran verrichtet worden waren und die Kinder staunten ehrfurchtsvoll diese großen Steinblöcke an und überlegten, wie viele Männer nötig gewesen waren, um dieses für den Durchschnittsreisenden an sich sonst unsichtbare Bauwerk zu errichten. Bei einem Stollen machten die Wanderer Halt und mit einer kleinen Taschenlampe drangen sie ein Stück in den offenen Stollen ein. Das ganze war sehr abenteuerlich, insbesondere den Kindern bereitete die Exkursion großen Spaß, denn sie fanden pyritisierte Steine, die sehr wertvoll aussahen. Danach ging es ein Stück weiter und schon befand man sich wieder in hochalpinen Gelände. Birgit meinte, die Gegend sähe der gestrigen sehr ähnlich und doch sei alles anders.
In Prettau war an diesem Tag ein Volksfest. Von oben hörten die Wanderer die Blaskapellen und rätselten, um was für ein Fest es sich handeln könnte.
„Für den Almabtrieb scheint es bereits zu spät“, überlegte Lenning, doch die Kinder glaubten, geschmückte Rindviecher gesehen zu haben. Mit dem Fernglas konnte man nichts dergleichen sehen und so ging es von Stollen zu Stollen immer weiter hinauf, bis schließlich ein Wegweiser zur Rötalm zeigte. Die Kinder und Ellen wollten umdrehen, doch Lenning überlegte, was der Familie heute noch zugemutet werden konnte. Schließlich einigte man sich darauf, wenigstens bis zu dem höchsten Bergwerk, über dem ein Gipfelkreuz stand, zu steigen.
Dort gab es auch ein Gipfelbuch und nicht ohne Neugier blätterte Lenning dieses Mal in dem Buch. Fast rührte ihn der Schlag, als er den Namen Jeschke wieder las. Bei dem Datum musste es sich genau um den Tag gehandelt haben, an dem die beiden abends erschossen worden waren. Also waren sie kurz vor ihrem Tode in dem Bergwerk bei Prettau gewesen.
„Ein sonderbarer Zufall!“ meinte Lenning und löste das Buch von der Kette.
Ellen, die nicht mit ganz herauf gekommen war, beobachtete ihn kurz und war sofort im Bilde.
„Die Ermordeten waren hier gewesen“, meinte sie.
„Ja“, bestätigte Lenning nickend. „An dem Tag, dessen Abend sie nicht überlebt haben.“
Ellen und die Kinder schauderten. Der Abstieg verlief wesentlich schneller als der Aufstieg und geredet wurde viel weniger. Alle fühlten eine Beklemmung, wenn sie an die unglücklichen Urlauber dachten, die möglicherweise tagsüber glücklich hier herauf gekommen waren und schließlich am Ende des Tages noch ihr Leben lassen mussten. Wer hatte ihnen nach dem Leben getrachtet? Hatten Sie etwas geahnt? Das waren Fragen, die Lenning ebenso wie den Übrigen durch den Kopf gingen, als sie wieder im Auto saßen, um in das nächste Tal zu gelangen.
Unterwegs überlegten sie, ob man daheim essen sollte oder ob ein Abendessen auswärts vorzuziehen war. Über die dabei ins Rollen gekommene Diskussion, versäumte man es dann, überhaupt irgendwo einzukehren. Schließlich befand man sich wieder in der Ferienwohnung. Die Kinder und Ellen bereiteten ein gutes Essen, während Lenning den Wein aussuchte. Danach kam ein interessanter Film, bei dem Ellen schon trotz der spannenden Handlung einschlief. Lenning selbst war müde, schaute noch eine Nachrichtensendung und begab sich ins Bett, nachdem er Ellen, die schon eingeschlafen war, mühsam dazu bewegen konnte, den unbequemen Sessel mit dem gemütlichen Bett zu tauschen. Nach kurzer Zeit waren alle eingeschlafen und selbst Dax, der abends oft noch lange aufblieb, schnarchte so laut, dass Lenning einmal davon in der Nacht aufwachte.
Die nächsten Tage verliefen sehr ruhig und Lenning überlegte ständig, wie er mit dem Commissario in Verbindung treten konnte und nunmehr zwei Gipfelbücher vorlegen sollte. Schließlich setzte sich Lenning am Tag vor der Abreise mit dem Kommissariat telefonisch in Verbindung. Der Commissario war nicht anwesend und Lenning bat um Rückruf, wobei er seine Funktelefonnummer mit der Vorwahl für die Bundesrepublik hinterließ. Die Gruppe war gerade auf einem Spaziergang nach Ahornach, als der Commissario Lenning auf dem Mobiltelefon erreichte.
„Hallo, Dottore. Sind Sie wieder zu Hause?“ fragte der Commissario und Lenning antwortete mit einer Gegenfrage.
„Gibt es Neuigkeiten in unserem gemeinsamen Fall, Commissario?“
Einen kurzen Moment glaubte Lenning ein Schnaufen auf der anderen Seite zu hören, dann jedoch antwortete der Commissario laut und deutlich: „Dottore, es gibt gar nichts Neues. Wir haben weder eine Antwort von der Hessischen Polizei, noch jemanden gefunden, der die Getöteten vorher gesehen hätte. Wir wissen also nicht einmal, wo sie den Tag über verbracht hatten. Sie waren nicht in einem Lokal gewesen und sind auch niemandem auf einer Wanderung dort begegnet.“
Und schließlich konnte der Commissario es sich nicht verkneifen und fragte amüsiert, vielleicht sogar leicht indigniert: „Dottore, ich nehme nicht an, dass Sie uns über die letzten Stunden der Getöteten etwas berichten könnten?“
Nun war Lenning an der Reihe, amüsiert und leicht spöttisch dem zu begegnen.
„Commissario, irren ist menschlich. Aber ich kann Ihnen mitteilen, dass die Getöteten mit hoher Wahrscheinlichkeit am Tage ihres Todes zuvor im Ahrntal waren.“
Dem Commissario hatte es die Sprache verschlagen. „Commissario, sind Sie noch in der Leitung?“ wollte Lenning wissen.
„Dottore, wo sind Sie jetzt?“
Lenning überhörte diese Frage und fuhr fort. „Genauer gesagt in Prettau.“
Wieder glaubte Lenning das Schnaufen an der anderen Seite zu hören und dann fragte der Commissario: „Woher wollen Sie das wissen?“
„Das ist nicht so einfach zu erklären, Commissario!“ setzte Lenning seine Nachricht fort. „Im übrigen, Commissario, können Sie uns sagen, wo die Getöteten zwei oder drei Tage zuvor waren?“
Der Commissario knurrte etwas unwirsch und meinte dann, „Sie waren eigentlich jeden Tag in Rain und Umgebung. Sie wanderten und kehrten auch des öfteren ein.“
„Richtig!“ lobte Lenning. „Unter anderem waren sie auch irgendwann einmal an der Ursprungsalm.“
Der Commissario war noch erstaunter, obwohl seine Überraschung eigentlich keiner Steigerung mehr fähig war.
„Haben Sie vor Ort recherchiert, Dottore?“ wollte der Commissario wissen.
„Nicht direkt“, meinte nunmehr Lenning beruhigend. „Aber ich habe etwas für Sie. Wie kann ich Ihnen das zukommen lassen?“
Der Commissario überlegte einen Moment und wollte wissen, um was es sich im Einzelnen handelte, wo Lenning zur Zeit sei und so weiter. Lenning seinerseits wollte nicht unbedingt nach Bozen fahren und lud den Commissario ein, nochmals ins Pustertal bzw. ins Ahrntal zu kommen.
„Ah, Sie sind noch im schönen Südtirol. Wohl noch in Rain. Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns heute abend im Hochgall zum Abendessen treffen.“
Lenning blickte zu Ellen, die die Augen nach oben verdrehte. „Nein“, meinte Lenning und zwinkerte Ellen zu. „Wir treffen uns am besten in Ahornach in dem netten Hotel, den Namen hab ich vergessen, aber es gibt nur eins direkt neben der Kirche.“
Der Commissario überlegte. „Wann wollen wir uns dort treffen?“
Lenning empfahl kurzer Hand dem Commissario sofort loszufahren, dann könnte man sich in etwa eineinhalb Stunden vor Ort treffen. Der Commissario sagte zu und Lenning steckte das Mobiltelefon weg.
„Weißt Du was, Ellen?“
Ellen machte keinen ausdrücklich unzufriedenen Gesichtsausdruck, doch so, als ob sie nicht unbedingt mit der Entscheidung zufrieden wäre. Aber Wolf erklärte ihr, dass das eine sehr gute Lösung für alle sei, denn der Commissario könnte sie nun in Ahornach abholen, so dass sie den Rückweg von mindestens 8 Kilometer mit einem Höhenunterschied von fast noch einmal fünfhundert Metern sparen würden. Das überzeugte Ellen und die Kinder und alle gingen frohen Muts weiter auf dem Vegetationsweg, der über zweitausend Meter hoch mit einem herrlichen Panorama am Rande des Moosstocks entlang führte.
Die Familie hatte wirklich ein sehr großes Glück mit dem Wetter gehabt, denn noch schien die Sonne und die Temperatur war in dieser Höhe leicht gefallen, so dass man durch trockenen, nicht allzu hohen Schnee marschierte. In Ahornach war der Abstieg etwas beschwerlicher, denn es war hier teilweise recht glatt, nachdem zuvor der Schnee aufgetaut und dann die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen war. Im Restaurant angekommen staunten die Reisenden nicht schlecht, als der Commissario schon in der Gaststube saß.
„Dottore, sind Sie zu Fuß gegangen?“ meinte der Commissario, der sich sofort erhoben hatte und auf die Familie zugekommen war.
„Ja, wie Sie sehen. Wir sind sogar den Höhenweg gegangen.“
Der Commissario staunte nicht schlecht. „Signora,“ er schaute Ellen an, „man hat es schwer mit so einem Menschen wie Ihrem Gatten. Macht er Ihnen auch immer solche Schwierigkeiten wie mir?“
Nun fühlte sich Ellen fast angegriffen und begann Lenning leidenschaftlich zu verteidigen, obwohl der gutmütige Commissario auf keinen Fall daran gedacht hatte, Lenning in irgendeiner Weise zu nahe zu treten.
„Was trinken Sie?“ wollte der Commissario von Ellen wissen und meinte: „Damen zuerst.“
Ellen entschloss sich, zuerst ein Weizenbier zu nehmen, denn sie war etwas verschwitzt, zumal man sehr eilig bergab gegangen war. Auch Lenning votierte für ein Weißbier und der Commissario, der ohnehin dieses Bier liebte, schloss sich an. Nachdem die Bestellung für die Getränke aufgegeben war, konnte sich der Commissario nicht mehr zurückhalten.
„Dottore, erzählen Sie, was Sie herausgefunden haben. Es ist wirklich sehr spannend.“
Lenning wollte ihm die Spannung nicht sofort nehmen, denn es gefiel ihm, den Commissario als interessierten Zuhörer zu haben. Er meinte daher zunächst: „Wissen Sie, Commissario, wir wollten eigentlich hier Urlaub machen und meine Frau hat mir streng verboten, noch auf etwas Politisches zu hören, etwas Berufliches zu sagen oder mich um sonstige Dinge zu kümmern, die mich nichts angehen und die nicht im Zusammenhang mit Erholung stehen.“
Der Commissario grinste. „Dazu hatten Sie Anlass genug, meine Liebe. Was hat er alles unternommen?“
Die Frage war zwar an Ellen gerichtet, aber Lenning antwortete sofort.
„Wir haben gar nichts unternommen, Signore Commissario. Wir sind einfach spazieren gegangen und zwar am Tag, an dem Sie uns verlassen haben. Dort sind wir zur Ursprungsalm gegangen.“
„Und unterwegs haben Sie die Geister der Getöteten getroffen, die Ihnen alles erzählt haben“, lachte der Commissario.
„Nein, Commissario! Nicht ganz, nicht ganz. Wir haben...“ Lenning dehnte jetzt die Worte und merkte, dass nicht nur der Commissario, sondern Ellen und die Kinder zuhörten. Darüber hinaus bemerkte er, dass inzwischen der Kellner an den Tisch getreten war, um die Bestellung aufzunehmen. Auch ihm schien das Gespräch so spannend, dass er sich nicht traute, zu unterbrechen und ein Blick im Kreis herum machte Lenning deutlich, dass die halbe Gaststube dem interessanten Gespräch der Gäste gefolgt war. Lenning unterbrach mit der Bemerkung, man wolle doch erst die Speisen bestellen. Die Bestellung wurde kurzerhand aufgegeben und der Commissario ließ keine unnötige Zeit verstreichen, als der Kellner weggegangen war und forderte Lenning energisch auf, in seiner Erzählung fortzufahren.
„Wissen Sie, Signore Commissario, Sie drängen mich und je mehr Sie mich drängen, desto mehr neige ich dazu, wichtige Passagen zu vergessen. Sie wollen doch alles wissen, Commissario.“
„Ja“, meinte der Commissario. „Alles!“ Er bot Lenning eine Camel-Zigarette an.
„Ah“, meinte Lenning, „die rauchen wir auch…“ und bedankte sich.
Offensichtlich hatte der Commissario den Wink nicht verstanden. Lenning machte es Spaß, den Commissario regelrecht auf die Folter zu spannen.
„Signora raucht auch Camel?“ lächelte der Commissario. „Die Fräuleins rauchen wohl nicht.“
„Nein, die dürfen nicht rauchen, sie wollen auch nicht“, bestätigte Lenning und nahm noch einen Schluck von dem frischen Weißbier. „Also, wir sind dann zur Ursprungsalm gegangen. Es war ein beschwerlicher Weg hinauf, große Teile waren vereist, aber es war schönes Wetter.“
Der Commissario blickte gen Himmel, aber Lenning übersah diese Geste absichtlich und erzählte von der Rast, die man auf der Alm in der Nachmittagssonne gemacht hatte. Er erwähnte, dass man sich entschlossen hatte, sich zu beeilen und schloss die Bemerkung an, dass dann etwas dazwischen kam, was schließlich dazu führte, dass man bei Dunkelheit im Ort eintraf und dass sich Birgit und Ellen deshalb auf Abwege begeben hatten, um dort ein Bad im Kuhdung zu nehmen.
Dem Commissario schien der Geduldsfaden zu reißen.
„Was haben Sie da oben herausgefunden?“ platzte es aus ihm heraus.
„Nun raten Sie mal! Da oben liegt ein Gipfelbuch.“
„Ein Gipfelbuch, was ist das?“
Lenning überlegte. Das italienische Wort für Gipfelbuch war ihm unbekannt und er dachte nach, ob der den gerade hinzutretenden Kellner danach fragen konnte. Dieser war der Unterhaltung mit Spannung gefolgt und warf nun ungefragt das italienische Wort hierfür ein.
„So!“ meinte der Commissario, „sagen Sie bloß, die Toten haben sich samt dem Mörder dort eingetragen.“
„Das mit dem Mörder weiß ich nicht, aber sie waren gleich zweimal auf der Ursprungsalm.“
Die Spannung im Raum stieg und an den Nachbartischen wurde überhaupt nicht mehr geredet.
„Wie kommen Sie darauf?“ meinte der Commissario. „Sie haben das Gipfelbuch durchgeblättert und noch einmal einen Eintrag der Jeschkes dort drin gefunden?“
„Bingo!“ meinte Lenning, der sonst gar nicht so flapsige Bemerkungen machte und setzte hinzu: „Und das zweite Mal war an Silvester.“
Der Commissario pfiff durch die Zähne.
„Ich bin fertig. Tutto completto. Ist das eine Menge, aber haben Sie vielleicht noch etwas? Vielleicht eine Vermutung für mich?“ Er blickte Lenning nun fragend an. „Fällt Ihnen noch etwas dazu ein?“
„Ja,“ erklärte ihm Lenning, „das war ja drei Tage vor ihrem Ableben. Aber am Tage ihres Ablebens habe ich Ihnen doch bereits gesagt, waren die guten Leute in Prettau und zwar bei der Röthalm. Jedenfalls haben Sie auch dort Spuren hinterlassen, indem sie sich in das dortige Buch eingetragen haben.“
Der Commissario lehnte sich vor, um leise mit Lenning sprechen zu können.
„Sie haben also auch dort eine Eintragung der Jeschkes gefunden?“
„Jawohl,“ meinte Lenning, „auch dort und zwar am Tage ihres Ablebens. Jedenfalls trug diese Eintragung dieses Datum.“
Der Commissario kam aus dem Staunen nicht mehr hinaus. Er schaute auf die Uhr.
„Dort hinauf kommen wir um diese Zeit nicht mehr, weder zur Ursprungsalm noch zur Röthalm. Vielleicht sollten wir einen Hubschrauber anfordern“, dachte er laut nach.
„Nicht nötig“, winkte Lenning ab. „Ich habe die Gipfelbücher sichergestellt.“
„Bravo, Bravissimo!“ rief der Commissario erregt aus. „Und wo sind diese Bücher?“
Lenning überlegte nur kurz. „Das kann ich Ihnen gleich sagen. Aber noch einfacher ist es, wir essen jetzt erst und machen danach weiter.“
Lenning war sich nämlich inzwischen bewusst geworden, dass es sich um ein sehr sensitives Thema handelte und die Gegend war über den Doppelmord regelrecht schockiert gewesen. Kein Wunder also, dass sämtliche Gäste, der Wirt und die Kellnerinnen und Kellner im Gastraum an Lennings Lippen hingen, als er die Geschichte so genüsslich ausbreitete. Dem Commissario war durch Lennings Wink klargeworden, dass an dieser Stelle besser nicht mehr weiter diskutiert werden sollte und so wechselte man die Themen, aß zufrieden zu Abend und der Commissario, der verstanden hatte, meinte, nachdem er die Rechnung verlangt und bezahlt hatte: „Dottore, Sie nehmen doch auch meine Einladung an, Sie jetzt nach Rain zu bringen?“
Lenning nahm lachend die Einladung zu dieser Fahrt an und alle waren froh, nicht im Dunkeln zurückmarschieren zu müssen. Dort angekommen, begaben sie sich sofort zu der Ferienwohnung und noch während Lenning die Tür aufsperrte, hörte er im Raum ein Geräusch. Er schob die anderen zurück und öffnete die Tür mit einem Ruck. Dabei musste er feststellen, dass der dadurch auftretende Luftdruck nicht wie üblich spürbar war. Sofort fiel ihm die Kälte auf, die ihm entgegen schlug und er bemerkte, dass die Verandatür offen stand. Als er den Raum mit wenigen Schritten durchmaß, war es ihm, als sehe er wieder an der Stelle, wo die Autos standen, einen Schatten dahinhuschen. Unwillkürlich griff er zu seiner Tasche.
„Commissario, hier ist eingebrochen worden!“ rief er und verließ den Raum durch die offene Verandatür in Richtung Fahrzeuge.
Tatsächlich sah er einen menschlichen Schatten entlang der Fahrzeugreihe zur Straße huschen. Lenning versuchte den Flüchtenden einzuholen, rutschte jedoch auf dem Eis neben den Fahrzeugen aus und wäre fast hart aufgeschlagen, hätte er nicht in letzter Sekunde den Körper zusammengerollt, so dass er praktisch wie bei einer Sportübung auf dem Boden aufkam und zur Seite abrollte. Inzwischen war der Fremde verschwunden und Lenning prüfte das Fahrzeug. Wirklich hatte sich jemand am Schloss zu schaffen gemacht und wahrscheinlich mit einem Gegenstand versucht, die Tür zu öffnen. Lenning ging um das Fahrzeug herum und schaute nach dem Kofferraumschloss, das unversehrt geblieben war. Er kehrte in die Wohnung zurück und erzählte alles den Commissario.
Der Commissario schaute Lenning prüfend an. „Sie sind sicher, dass jemand versucht hat, auch dort einzubrechen?“
Lenning bejahte. „Wir haben auf jeden Fall die Tür verschlossen gehalten. Sehen Sie, hier sind auch die Spuren eines Aufbrechens.“ Er zeigte auf eine Marke, die in das Holz tief eingedrückt war. Der Zapfen des Schließmechanismus war gebrochen.
„Donnerwetter!“ meinte der Commissario. „Da müssen wir ja den Fall auch noch aufnehmen und prüfen...“ und zu Lenning gewandt, bat er ihn, ihn doch jetzt nicht mehr auf die Folter zu spannen. „Wo haben Sie die Tourenbücher?“
Lenning erschrak. Vielleicht war es das, was der Einbrecher gesucht hatte. Mit wenigen Schritten eilte Lenning zu der Eckbank und klappte Sie auf. „Gott sei Dank, hier liegen sie!“
Inzwischen kam Ellen aus dem Schlafzimmer herüber und meldete, dass sämtliche Schränke durchsucht worden waren. „Es sieht aus, als ob hier jemand etwas gesucht hat. Bis jetzt konnte ich nicht feststellen, dass etwas fehlt.“
Lenning und der Commissario traten näher und stellten ein Durcheinander fest, das hier offensichtlich durch den Fremden verursacht worden war.
„Wir wissen nicht, was der Einbrecher gesucht hat, aber es liegt Nahe, dass ihn diese Bücher interessiert haben.“
Lenning übergab beide Bücher dem Commissario, der sie auf den Tisch legte und bei Licht die Eintragungen las.
„Das müssen wir jetzt alles erst mal untersuchen lassen.“
Der Commissario machte Anstalten zu gehen. Lenning bat ihn, noch etwas zu bleiben und öffnete eine Flasche Rotwein. Der Commissario bedankte sich und nahm auf der langen Seite der Eckbank Platz. Lenning setzte sich zu ihm.
„Was wollen wir jetzt als Nächstes tun, morgen müssen wir abreisen.“
Der Commissario überlegte. „Wir müssen auf jeden Fall die Spurensicherung herholen und zwar noch heute Nacht. Ich würde Sie also bitten, möglichst nichts anzufassen.“
Ellen war leicht schockiert. „Die Kinder müssen ins Bett. Morgen haben wir einen langen Tag vor uns. Das passiert, wenn man mit Dir in Urlaub fährt!“ Ellen war richtig ärgerlich.
Lenning überlegte, was zu machen war. Zunächst ging er zum Telefon und rief den Vermieter, der eine Pizzeria im oberen Teil des Ortes betrieb, an. Den bat er, möglichst schnell nach unten zu kommen, weil hier ein Einbruch stattgefunden hätte. Weiterhin fragte er, ob in dieser Nacht noch eine Ferienwohnung frei sei, da nicht mehr damit gerechnet werden konnte, dass man in dieser Wohnung Ruhe finden würde. Flori, der Wirt war wenige Minuten später zur Stelle und wies den müden Reisenden eine neue Ferienwohnung zu, allerdings nicht mehr im Erdgeschoss. Den Kindern war das sehr recht, denn sie fürchteten sich nunmehr, in der Wohnung im Erdgeschoss die Nacht zu verbringen. Der Commissario seinerseits hatte mit seiner Dienststelle telefonischen Kontakt aufgenommen und erklärte, dass in etwa einer halben Stunde mit dem Eintreffen der Spurensicherung zu rechnen sei. Inzwischen setzten sich Lenning und der Commissario in der neuen Ferienwohnung zusammen, um das Gespräch bei einem Gläschen Wein fortzusetzen. Lenning hatte vorher noch alle Wertgegenstände aus der Einbruchswohnung entnommen und in die andere Wohnung getragen.
„Wissen Sie, Dottore, was mir an Ihnen so gefällt?“ wollte der Commissario von Lenning wissen.
„Nein, Commissario“, antwortete Lenning und lehnte sich zurück.
„Dass Sie auch in der schwierigsten Situation wie ein vernünftiger Mensch reagieren.“
„Wie meinen Sie das?“ wollte Lenning nun wissen.
„Na ja, vorhin, als Ihre Frau entsetzt war, dass es kein Schlafen gibt, sind Sie sofort auf die Idee gekommen, die Wohnung zu wechseln. Als Sie den Eintrag in dem Buch sahen, haben Sie sofort das Buch mitgenommen, aber mich nicht sofort informiert. Ich wäre aus allen Wolken gefallen und hätte doch nichts anderes zu tun gehabt und hätte gleich zweimal die Fahrt unternommen, denn Sie haben die Spuren gesammelt und erst dann mit mir darüber gesprochen.“
Lenning wusste nicht, ob hierin eine gewisse Ironie lag und lächelte dem Commissario zu. „Ich bewundere Ihre Ruhe, mit der Sie diesen Fall angehen, der doch nicht ganz so alltäglich für Sie zu sein scheint.“
„Ja.“ Der Commissario wiegte den Kopf. „Es ist in der Tat ein sonderbarer Fall und weil Sie bisher so kooperativ mit mir zusammengearbeitet haben, möchte ich Sie auch weiterhin auf dem Laufenden halten. Ich werde Sie informieren, wenn es neue Ergebnisse gibt und ich möchte Ihnen auch etwas nicht vorenthalten, was ich bisher noch nicht einmal in der Dienststelle habe verlauten lassen.“
Lenning war interessiert und beugte sich vor. „Erinnern Sie sich noch an die Schießerei in Bozen, als Sie das letzte Mal da waren?“
Lenning nickte.
„Stellen Sie sich vor, zwei der Leute, die wir damals vorübergehend arretiert hatten, sind gerade in diesen Tagen wieder in Bozen.“
„Sehen Sie da einen Zusammenhang, Commissario?“
Der Commissario nickte. „Es gibt sicher einen Zusammenhang, aber ich weiß noch nicht genau welchen. Ihr Freund von damals, Signore Olschewski, ist übrigens auch in Bozen.“ Er betrachtete Lenning ganz scharf und behielt ihn einen Moment im Auge.
Lenning reagiert ehrlich überrascht. „Olschewski schon wieder in Bozen? Wissen Sie, Commissario, ich kenne Olschewski gar nicht so nahe, wie es zunächst schien. Ich habe ihn einige Male getroffen und kann nicht ausschließen, dass er sich zur Zeit tatsächlich in Bozen befindet. Einen Zusammenhang sehe ich jedoch noch nicht.“
„Noch nicht?“ Der Commissario schien überrascht. „Dottore, Sie haben gleich bemerkt, dass die Begehungsweise in gewisser Hinsicht typisch ist. Wenige Zentimeter über der Nasenwurzel in der Mitte der Stirn ein Einschuss. „Wer kann das und wer macht das üblicherweise so?“
Lenning überlegte nur kurz. „Das muss ein Geheimdienst sein“, meinte er lakonisch und ohne Betonung.
„Ein Geheimdienst!“ der Commissario grinste. „Sie und ich wissen, welcher Geheimdienst diese Spezialität so versteht!“ und er verabschiedete sich für den Abend, denn inzwischen waren die Beamten aus Bruneck eingetroffen, die mit allerlei Beleuchtungsmaterial und sonstiger Technik in die Wohnung Einzug hielten.
Lenning begab sich zu seiner Familie. Er konnte jedoch lange nicht einschlafen und hörte ständig Geräusche in der Wohnung darunter. Am nächsten Morgen war die Wohnung versiegelt. Lenning schien zunächst ärgerlich, denn er dachte an sein Reisegepäck, von dem er glaubte, dass sich alles noch in der Wohnung befinden würde. Da kam der Commissario vom Hotel Hochgall schnellen Schrittes herüber.
„Dottore, wir haben Ihre Sachen alle zusammenpacken lassen. Sie befinden sich in diesem Raum.“ Er zeigte auf die Tür gegenüber und öffnete sie. Tatsächlich waren hier die Gepäckstücke fein säuberlich nebeneinander aufgestellt. Lenning staunte nicht schlecht.
„Commissario, Sie haben uns eine Menge Arbeit erspart. Ich danke Ihnen.“
„Oh, keine Ursache“, meinte der Kommissar. „Sie haben uns auch einige Arbeit erspart. Stellen Sie sich vor, wir wissen nun, dass die Getöteten tags zuvor im Hotel Hochgall einen Mann getroffen haben, mit dem sie sich für eine Spazierfahrt ins Ahrntal verabredet hatten.“
Lenning horchte auf. „Dann war dieser Mann womöglich der letzte, der die Getöteten noch lebend gesehen hat.“
„Richtig“, nickte der Commissario. „Das ist immerhin möglich.“
„Haben Sie den Mann?“ meinte Lenning.
„Nein, Dottore. Wir haben ihn nicht, aber wir haben eine Beschreibung...“ und er begann mit einer Personenbeschreibung, auf die hin Lenning entgeistert den Namen „Olschewski“ murmelte.
„Ja, Ihr Freund Olschewski! Auf Ihn trifft die Beschreibung zu. Und Sie wissen, dass wir wissen, dass Olschewski derzeit in Südtirol ist.“
Lenning überlegte. „Dann werden Sie Olschewskis habhaft und können ihn so befragen.“
„Richtig“, grinste der Commissario. „Ich wünsche Ihnen nun eine gute Heimreise und ich muss sofort nach Bozen zurück. Machen Sie es gut, Dottore!“
Der Abschied war kurz aber herzlich und die Familie packte fertig und begab sich wieder auf die Heimreise.