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2.3.2 Fertigkeiten, Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen
ОглавлениеUm Kompetenzen gegen andere Bewusstseinsresultate abgrenzen zu können, müssen wir sie definitorisch umreißen – wohl wissend, dass es nicht „die“ Kompetenzdefinition und schon gar keine endgültige geben kann. Es ist eine Arbeitsdefinition, die aber von vielen auf diesem Gebiet forschenden Kollegen akzeptiert, benutzt und weiterentwickelt wird.
Unter Kompetenzen verstehen wir Dispositionen zur Selbstorganisation, also Selbstorganisationsdispositionen.
Dispositionen sind die bis zu einem bestimmten Handlungszeitpunkt entwickelten inneren Voraussetzungen zur Regulation der Tätigkeit. Damit umfassen Dispositionen nicht nur individuelle Anlagen sondern vor allem Entwicklungsresultate [1]. Selbstorganisiert ist jedes Handeln in offenen Problem- und Entscheidungssituationen, in komplexen, oft chaotischen Systemen, wie sie uns in Wirtschaft und Politik, aber auch im Alltag ständig begegnen. Eben deshalb sind Kompetenzen unerlässlich für das Handeln in der Risikogesellschaft.
Als umfassendste Kompetenzdefinition kann die von Peter Kappelhoff gelten: Kompetenzen sind evolutionär entstandene, generalisierte Selbstorganisationsdispositionen komplexer, adaptiver Systeme – insbesondere menschlicher Individuen - zu reflexivem, kreativem Problemlösungshandeln in Hinblick auf allgemeine Klassen von komplexen, selektiv bedeutsamen Situationen (Pfade). [2]
Ein Beispiel soll illustrieren, was Selbstorganisation, was Selbstorganisationsdisposition in diesem Sinne meint [3]: „Sie wollen zusammen mit Freunden und Mitstreitern Brasilien auf eigene Faust kennen lernen. Sie mieten sich einen Wagen und fahren aufs Geratewohl los. Ziellos (im Gegensatz zur Selbststeuerung auf ein voraus gesetztes Ziel hin) – aber mit der Absicht, etwas von Land und Leuten zu verstehen. Sie wollen etwas für sich selbst, möglicherweise etwas für die Menschheit Neues entdecken: Indianische Relikte, Menschen, die noch nie mit unserer Zivilisation in Berührung kamen, unbekannte Tier- oder Pflanzenarten. So organisieren sie Ihre Fahrt von Anfang bis Ende selbst und meistern lauter chaotische Entscheidungssituationen, wo alles „um ein Haar“ auch ganz anders hätte kommen können. Damit schreiben Sie eine einmalige, nur Ihnen gehörige, nicht zu wiederholende Geschichte. Und sie müssen sich auf etwas ganz anderes als auf ihre Qualifikationen verlassen – im Dschungel nützen keine Diplome und Zertifikate. Ihr Sach- und Methodenwissen bildet nur den Hintergrund, dass Sie sich zurechtfinden, wenn der Motor streikt, wenn Krankheiten drohen, wenn Sie die Orientierung verlieren; das Wissen muss in einen großen Schatz von Erfahrungen, Motiven und Hoffnungen eingebettet sein – alsofachlich-methodische Kompetenzen repräsentieren. Sie brauchen weiterhin eine gehörige Portion Selbstvertrauen, Mut, Kreativität – also personale Kompetenzen. Sie müssen mit den Menschen, die Ihnen unterwegs begegnen oder denen, die Sie mitgenommen haben, auf Gedeih und Verderb zusammenhalten oder zumindest auskommen können, Sie brauchen Überzeugungskraft, Verständigungsbereitschaft und Offenheit – also sozial-kommunikative Kompetenzen. Schließlich nützen Ihnen alle fachlichen, personalen und sozialen Kompetenzen nichts, wenn Sie Ihre Vorstellungen nicht mit eisernem Willen umsetzen, sich nicht durchsetzen können – Sie brauchen also Aktivitäts- und Umsetzungskompetenzen.
Das alles gilt nicht nur für das Handeln und Lernen im brasilianischen Dschungel. Es gilt ganz ebenso für jedes Lernen und Handeln unter den Bedingungen einer Risikogesellschaft - also einer Gesellschaft, in der viele politische, ökonomische und soziale Prozesse komplex und dynamisch sind. Gefragt sind heute meist nicht nur Befähigungen, sich von einem klar definierten Anfangszustand (der Aufgabe, dem Problem) zu einem klar definierten Endzustand (der Aufgabenerfüllung, der Problemlösung) zu bewegen. Diese sind vielmehr Teil umfassenderer Fähigkeiten, nämlich innovativ, kreativ Neues zu entwickeln - Ergebnisse, die nicht nur die Nutzer, sondern auch die Entwickler überraschen. Es handelt sich also, verallgemeinert, um Fähigkeiten, selbstorganisiert zu denken und zu handeln: In Bezug auf sich selbst (P: personale Kompetenzen), mit mehr oder weniger Antrieb, Gewolltes in Handlungen umzusetzen (A: aktivitätsbezogene Kompetenzen), gestützt auf fachliches und methodisches Wissen, auf Erfahrungen und Expertise ( F: fachlich-methodische Kompetenzen) und unter Einsatz der eigenen kommunikativen und kooperativen Möglichkeiten (S: sozial-kommunikative Kompetenzen).
Abb. 13 Kompetenzbereiche
Es gibt keine Kompetenzen ohne physische oder geistige Fertigkeiten, ohne Wissen, ohne Qualifikationen. Fertigkeiten, Wissen, Qualifikationen sind jedoch keine Garanten für Kompetenzen. Es gibt deshalb hoch qualifizierte Inkompetente. Kompetenzen sind mehr, sind etwas anderes. Sie enthalten konstitutiv interiorisierte Regeln, Werte und Normen als Kompetenzkerne.
Fertigkeiten bezeichnen durch Übung automatisierte Komponenten von Tätigkeiten, meist auf sensumotorischem Gebiet, unter geringer Bewusstseinskontrolle, in stereotypen beruflichen Anforderungsbereichen, auch im kognitiven Bereich, wie beim Multiplizieren oder Auswendiglernen, beim elementaren Lesen und Rechnen. Lese- und Rechenfertigkeiten sind Voraussetzungen jeder Kompetenzentwicklung, aber nicht eigentlich Kompetenzen. Fertigkeiten haben das individuelle Verhalten, den psychophysischen Tätigkeits- und Handlungsprozess als Ganzes im Blick. Sie sind handlungszentriert. Fertigkeiten sind beispielsweise Klavierspielen, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprechen, Fußballspielen, etc. Der Erwerb einer Fertigkeit ist nicht ausschließlich von Begabungen und Talenten abhängig, sondern auch von Übung, von anderen bereits erlernten Fertigkeiten, von Kenntnissen und Erfahrungen. [4]
Fähigkeiten bezeichnen verfestigte Systeme verallgemeinerter psychophysischer Handlungsprozesse [5] , einschließlich der zur Ausführung einer Tätigkeit oder Handlung erforderlichen inneren psychischen Bedingungen und der lebensgeschichtlich unter bestimmten Anlagevoraussetzungen erworbene Eigenschaften, die den Tätigkeits- und Handlungsvollzug steuern. Man unterscheidet oft allgemeine (z.B. abstraktions- oder flexibilitätsbezogene), bereichsspezifische (z.B. allgemeine körperlich-sportliche, sprachliche, logisch-mathematische, künstlerische) und berufsspezifische (z.B. spezielle technische, handwerkliche, künstlerische) Fähigkeiten. [6] Fähigkeiten können sich gleichermaßen auf einfache, anforderungsorientierte wie auf selbstorganisative Handlungssituationen beziehen. Kompetenzen können deshalb immer auch als Fähigkeiten gesehen werden, aber viele Fähigkeiten sind keine Kompetenzen. Der Fähigkeitsbegriff ohne Spezifizierungen ist, ähnlich wie der Vermögensbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts zu breit und allgemein, um mit ihm wissenschaftlich sinnvoll arbeiten zu können.[7]
Wissen im engeren Sinne hatten wir bereits der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie folgend als im Unterschied zum Meinen (Meinung) und Glauben (Glaube) für die auf Begründungen bezogene und strengen Überprüfungspostulaten unterliegende Kenntnis, institutionalisiert im Rahmen der Wissenschaft, gekennzeichnet.
Qualifikationen bezeichnen klar zu umreißende Komplexe von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, über die Personen bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten verfügen müssen, um anforderungsorientiert handeln zu können. Sie sind handlungszentriert und in der Regel so eindeutig zu fassen, dass sie in Zertifizierungsprozeduren außerhalb der Arbeitsprozesse überprüft werden können. [8]
Wissen im engeren Sinne, Fertigkeiten und Qualifikationen allein reichen nicht aus, um kompetent zu handeln. Kompetenzen bedürfen des Wissens im engeren Sinne, der Fertigkeiten und Qualifikationen, sind aber zugleich viel mehr. Das veranschaulicht folgende Abbildung.
Abb. 14 Vom Wissen zur Kompetenz
Um Kompetenzen intendiert zu erwerben, sind besondere, ein Wertlernen einschließende Lernmethoden notwendig, von denen in der Abbildung stichwortartig einige angegeben sind; das muss zu einer Systematik des Kompetenzlernens vertieft werden, die auch den Untergrund für das Kompetenzlernen mit Hilfe des Netzes bildet.
Besonders wichtig ist das Verhältnis von Qualifikation und Kompetenz. Kompetenzentwicklung bedarf eines hohen Niveaus von Qualifizierung. Hochkompetente sind stets auch qualifiziert. Kompetenzen bauen auf Qualifikationen, setzen sie voraus – und sind doch mehr und anderes. Wir können, mit Rolf Arnold [9] Qualifikationen und Kompetenzen folgendermaßen gegenüberstellen:
Kompetenz | Qualifikation |
Beinhaltet Selbstorganisationsfähigkeit. | Ist immer auf die Erfüllung vorgegebener Zwecke gerichtet, also fremdorganisiert. |
Ist subjektbezogen. | Beschränkt sich auf die Erfüllung konkreter Nachfra-gen bzw. Anforderungen, ist also objektbezogen. |
Bezieht sich auf die ganze Person, verfolgt also einen ganzheitlichen Anspruch. | Ist auf unmittelbare tätigkeitsbezogene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verengt. |
Lernen öffnet das sachverhaltszentrierte Lernen gegenüber den Notwendigkeiten einer Wertevermittlung; Kompetenz umfasst die Vielfalt der prinzipiell unbegrenzten individuellen Handlungsdispositionen. | Ist auf die Elemente individueller Fähigkeiten bezogen, die rechtsförmig zertifiziert werden können. |
Nähert sich dem klassischen Bildungsideal auf eine neue, zeitgemäße Weise. | Rückt mit seiner Orientierung auf verwertbare Fähig-keiten und Fertigkeiten vom klassischen Bildungsideal (Humboldts "proportionierlicher Ausbildung aller Kräfte") ab. |
Tab. 2 Qualifikation und Kompetenz im Vergleich
Jedes Lernen, auch das E-Learning, hat die Vermittlung von Wissen im engeren Sinne, Fertigkeiten, Qualifikationen und Kompetenzen gleichermaßen im Blick zu behalten. Dabei geht es um die Einschätzung des jeweiligen Lernangebots (curricularer Aspekt), des Lernprozesses (prozessualer Aspekt) und der im geistigen oder physischen Handeln sich manifestierenden Lernresultate (performativer Aspekt). Während beim Wissen im engeren Sinne, beim Sachwissen das Schwergewicht auf dem Angebotsaspekt liegt (Verringerung der Differenz Wissensangebot/Gedächtnisinhalt), liegt bei den Fertigkeiten das Schwergewicht auf dem Prozessaspekt (Verringerung der Differenz Normprozess/Realprozess des Handelns). Bei der Qualifikation geht es um die Fähigkeiten zum Erreichen eines vorgegebenen Handlungszieles (Verringerung der Differenz angestrebtes Handlungsresultat/erreichtes Handlungsresultat). Bei Kompetenzen geht es ebenfalls um ein Handlungsresultat, aber um ein selbstgesetztes (self directed), selbstorganisativ erreichtes. (Beurteilung der Differenz verschiedener, kreativ erreichbarer Handlungsresultate, die nicht von vornherein feststehen). Kompetenz manifestiert sich erst in der Performanz.
Bezogen auf Lernangebote, Lernprozesse und Lernresultate lassen sich die Unterschiede wie folgt veranschaulichen.
Abb. 15 Merkmale von Wissen, Fertigkeiten, Quazlifikationen und Kompetenzen
Kompetenzen sind also unverwechselbar in Bezug auf die Handlungsfähigkeit – sie ermöglichen selbstorganisatives, kreatives Handeln in eine offene Zukunft hinein -, in Bezug auf die innere Struktur – sie „enthalten“ Wissen im engeren Sinne, Fertigkeiten und Qualifikationen, sind aber um Wertekerne zentriert – und in Bezug auf die Prozesse des Lernens – sie haben ihr Schwergewicht auf der Handlungsausführung, dem performativen Aspekt. Ohne Kompetenzvermittlung und –entwicklung ist kein modernes Lernen möglich.
[1] Clauß, G.; Kulka, H.; Rösler, H.-D.; Lompscher, J.; Timpe, K.-P., Vorwerg, G. (Hrg.) (1995)
[2] Kappelhoff, P. (2004)
[3] Heyse, V., Erpenbeck, J. (2004)
[4] Hacker, W. (1973), S. 500
[5] Clauß, G.; Kulka, H.; Rösler, H.-D.; Lompscher, J.; Timpe, K.-P. & Vorwerg, G. (Hrg.) (1995), S. 188f
[6] Teichler, U. (1959), S. 655
[7] Hacker, W. (1973), S. 500
[8] Clauß, G.; Kulka, H.; Rösler, H.-D.; Lompscher, J.; Timpe, K.-P. & Vorwerg, G. (Hrg.) (1995), S. 188f
[9] Teichler, U. (1995)