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2.1.1 Wissensverständnis
ОглавлениеWir maßen uns nicht an darzustellen, was Wissen „ist“ – deshalb die Anführungszeichen. Worauf wir hinaus wollen, ist etwas anderes, für den Einsatz von Lernsoftware, insbesondere für die Unterscheidung von Lernsoftware des Web 1.0 und des Web 2.0 Entscheidendes. Unabhängig von Definitionsnuancen, so wird sich zeigen, gibt es Wissensbegriffe im engeren – Regeln, Werte und Normen, Emotionen und Motivationen ausschließenden – Sinne und Wissensbegriffe in einem weiteren Sinne, alle Bewusstseinsresultate, auch die vagen, wertenden wie Glauben und Meinen, und die damit verbundenen Emotionen und Motivationen einschließend. Das wäre kein Problem, liefen diese beiden Begriffe nicht so oft über- und ineinander. Das Management von Wissen im engeren Sinne läuft beispielsweise auf ein Informationsmanagement hinaus. Das Management von Wissen im weiteren Sinne ist in der Regel mit einem Kompetenzmanagement identisch. [1]
Hinter dieser Unterscheidung steckt allerdings viel mehr, als terminologischer Wirrwarr. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, wie wir Menschen in unserem individuellen und sozialen Handeln bestimmte Bereiche unserer Bewusstseinsresultate als das, „was wir zu wissen glauben“, [2] als Wissen, ausgliedern und andere Bereiche in höchst kunstvoll wertverwobene, erfahrungsgesättigte und tief emotionsgetränkte, symbolisch unterlegte, vielfältig ritualisierte Kulturbezüge, in die Welt der „symbolischen Formen“ eingliedern. Dazu wird uns ein Ansatz von Siegfried J. Schmidt den entscheidenden Schlüssel liefern.
Wissen, so umreißt es die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie ist „ebenso wie Erkenntnis und die mit diesem Begriff verbundenen Unterscheidungen …
im weiteren Sinne eine Bezeichnung für allgemein verfügbare Orientierungen im Rahmen alltäglicher Handlungs- und Sachzusammenhänge (Alltagswissen);
im engeren, philosophischen und wissenschaftlichen Sinne für die auf Begründungen bezogene und strengen Überprüfungspostulaten unterliegende Kenntnis, institutionalisiert im Rahmen der Wissenschaft.“ [3] Damit unterscheidet sich dieser Begriff von Meinen (Meinung) und Glauben (Glaube).
Diese Doppelsicht findet sich in vielen Erklärungen wieder. Der engere Wissensbegriff wird benutzt, wenn erklärt wird: „Wissen ist das Ergebnis der Verarbeitung von Informationen durch das Bewusstsein und kann als verstandene Information bezeichnet werden. Wissen ist die Vernetzung von Informationen, welche es dem Träger ermöglicht, Handlungsvermögen aufzubauen und Aktionen in Gang zu setzen. Es ist das Resultat einer Verarbeitung der Information durch das Bewusstsein.“ [4] Damit gehören zum Wissen im engeren Sinne:
Die Kerngegenstände der Logik: Termini, Aussagen und Operatoren.
Daten: Als Einzelinformationen innerhalb umfassenderer Informationssysteme, die Bezugsinformationen in Gestalt von geordnetem Datennetzen und Theorien voraussetzen.
Informationen. Als kontextbezogen verknüpfte Daten, wobei Kontexte alle explizit fassbaren physischen oder geistigen Dinge, Eigenschaften, Relationen und Prozesse sein können.
Sachwissen, Methodenwissen und Kenntnisse.
Vorsichtiger erklärt der „Europäische Leitfaden zur erfolgreichen Praxis im Wissensmanagement“: “Wissen ist die Kombination von Daten und Information, unter Einbeziehung von Expertenmeinungen, Fähigkeiten und Erfahrung, mit dem Ergebnis einer verbesserten Entscheidungsfindung. Wissen kann explizit und/oder implizit, persönlich und/oder kollektiv sein.“ [5] Mit der berühmten Unterteilung in explizites Wissen [6] und implizites Wissen [7] werden Werte in den Wissensbereich hineingeholt. Das erschwert die Beschreibung, erhöht aber ihren Realismus. [8]
Der enge Wissensbegriff versteht unter Wissen nur das gleichsam positive Sachwissen von der Wirklichkeit, also Kenntnisse, die von Regeln, Werten, Normen, Kompetenzen und Erfahrungen, von Emotionen und Motivationen strikt abgehoben, gleichsam wertfrei sind. [9] Am genauesten wird - obwohl wissenschaftstheoretisch nach wie vor stark umstritten - der Wertfreiheitsbegriff bei Max Weber eingeführt. Ihm geht es darum, Wertung, Bedeutung, Sinn in das Vorfeld der gesetzeswissenschaftlichen Analyse naturwissenschaftlicher und sozialer Erscheinungen zu verweisen. Zwischen der logisch - vergleichenden Beziehung der Wirklichkeit mittels Kategorien und der wertenden Beurteilung dieser Wirklichkeit liegt ein scharfer Schnitt: "Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen." [10] Wissenschaftlichkeit bedeutet in dieser Sicht also eine Beseitigung von Werturteilen aus den Erkenntnisresultaten. In einem solchen Denkrahmen lässt sich dann das Verhältnis von Wissen einerseits und Regeln, Werten, Normen, Kompetenzen, Erfahrungen, Emotionen und Motivationen andererseits diskutieren.
Wissensmanagement reduziert sich auf Informationsmanagement, das die gerichtete Wissensweitergabe an Arbeitnehmer und Manager in einem bildungstechnologischen Sinne einschließt. Informationen werden dann meist so bereitgestellt und aufgearbeitet, wie es lange Zeit das traditionelle Bildungssystem organisiert hat und wie es aus der Sicht von Bildung als Bringschuld auch sinnvoll ist: Auswahl, Reihenfolge und Art der Darbietung werden vom Lehrenden geleistet. Auf Basis dieser Inputorientierung wird die Information dem Lernenden angeboten. Das gilt auch für viele netz- und multimediagestützten Lehrangebote. Feinheiten der Vermittlung dieses Wissens im engeren Sinne sollen uns hier nicht weiter interessieren; jeder, der einst Schule oder Universität durchlief, kennt eine solche Art der Wissensvermittlung.
Deutlich auf Wissen im weiteren Sinne bezogen ist dagegen der Hinweis: „Wissen entsteht in den Köpfen der Menschen, indem Informationen wahrgenommen, bewertet und mit subjektiven Erfahrungen in Beziehung gesetzt werden.“ [11] Noch umfassender die Erklärung der Kognitionsphilosophen Mario Bunge und Ruben Ardila: „Wir wissen alles, was wir je gelernt (und nicht vergessen) haben. Das schließt auch einige Fertigkeiten ein, wie Gehen und Essen, die zwar in Instinkten wurzeln, jedoch geübt und kontrolliert werden müssen, um beherrscht zu werden. Nicht zum Wissen gehören dagegen die angeborenen Reflexe...Kurz, das Gesamtwissen eines Lebewesens besteht in dem, was es gelernt hat. Und das Wissen einer Spezies besteht in der Gesamtheit alles dessen, was sich ihre Angehörigen zu eigen gemacht haben.“ [12]
Dieser weite Wissensbegriff ist auf das gesamte - stets wertende, in Kompetenzen und Erfahrungen eingebundene - Tun und Lassen, auf das geistige und physische Handeln des oder der Lernenden bezogen. Dann gehören Werte, Kompetenzen, Erfahrungen usw. natürlich zum Wissen hinzu. Im Bereich des modernen Wissensmanagements lässt sich eine Fülle umfassender Versuche kennzeichnen, Wissen in einer so breiten Dimension zu charakterisieren und entsprechende Wissensformen zu differenzieren. [13] Oft wird ein spezifischer Selbstorganisationsansatz – der radikale Konstruktivismus – zum Ausgangspunkt für das Verständnis von Wissen und Wissensmanagement gewählt. [14] Von einem solchen ausgehend plädieren Reinmann-Rothmeier und Mandl ausdrücklich für eine Höherbewertung von Gefühl, Intuition und Kreativität beim Umgang mit Information und Wissen. Wissen muss ihrer Ansicht nach mit Werthaltungen verknüpft werden. [15] Noch weitergehendere Vorschläge wollen Werte zum eigentlichen Kern von Wissens- und Unternehmensmanagement (Managing by Values) machen. [16]
In ähnlicher Allgemeinheit wie Bunge und Ardila stellt Guido Franke, die wissenszentrierte Perspektive von Kompetenzen analysierend, fest: „Wissen ist ursprünglich immer etwas im Gedächtnis eines Individuums Gespeichertes. Bei dem Wissen handelt es sich um im Gedächtnis eingetragene Resultate psychophysischer Prozesse, insbesondere von sensorischen, motorischen und kognitiven Operationen.“ Indem er auf die in den Kognitionswissenschaften weit verbreitete Unterscheidung zwischen deklarativem Wissen (=“wissen, dass“) und prozeduralem Wissen (=“wissen, wie“) hinweist, zieht er ebenfalls die Trennungslinie zwischen Wissen im engeren und weiteren Sinne und konstatiert, dass natürlich deklaratives zu prozeduralem Wissen werden kann und umgekehrt. Allerdings bestehe dabei das Problem, das Regeln, Werte und Normen, die das prozedurale Wissen durchdringen, meist nicht rückstandslos herausgefiltert werden können. Eine analoge Unterteilung finde sich bei Ryle, der bewusstseinsfähiges und verbal oder grafisch ausdrückbares Wissen („knowing that“) von Wissen unterscheidet, das nicht bewusstseinsfähig ist und sich nur in der Ausführung einer Handlung, einer Operation zeigt („knowing how“).
Franke selbst geht, eingedenk der enormen Vielgestaltigkeit von Wissen, in der Absicht, eine handlungsrelevante Wissenskategorisierung vorzulegen, von drei grundlegenden Wissensarten aus:
Sachwissen: Dinge, Sachverhalte, Ereignisse, Vorgänge, Entwicklungen, Bedingungen, Regel- und Gesetzmäßigkeiten repräsentierend.
Motivatorisches Wissen: Eigene Verhaltenstendenzen, Bedürfnisse, Absichten, Wertvorstellungen betreffend.
Prozedurales Wissen: Eigene Operationen und Programme unterschiedlicher Komplexität betreffend. [17]
Während prozedurales Wissen sowohl als Wissen im engeren wie im weiteren Sinne auftreten kann, ist die Unterteilung in Sach- und motivatorisches Wissen ein weiterer Versuch, Wissen in engerem und weiterem Sinne auseinander zu halten. Angemerkt sei, dass sich diese Unterteilung natürlich nur und stets auf die Resultate von Erkenntnis- und Lernprozessen bezieht. Innerhalb dieser Prozesse selbst sind sachbezogene, motivatorisch-wertende und prozedurale Aspekte natürlich unauflöslich miteinander verschweißt.
Dennoch ist es sinnvoll, zu fragen, ob und wie die unterschiedlichen Wissensarten angeeignet und vermittelt werden. Schon ein grober Blick auf die Speicherorte von Wissen, wie ihn Franke anregt, zeigt, dass man neben dem rein sensorischen Gedächtnis zumindest drei große Wissensbereiche unterscheiden muss, die sich nach Gedächtnistyp, Wissensinhalt und Speicherort unterscheiden:
das motorisch – prozedurale Gedächtnis, das Fertigkeiten und zugehörige Handlungsabläufe in den sogenannten Basalganglien [18] und im Kleinhirn speichert,
das episodische und das semantische Gedächtnis, das Orte und Handlungen sowie sprachliche, also bewusstseinsfähige Inhalte in der rechten und linken Sphäre des Großhirns speichert,
und das emotionale Gedächtnis, das emotional-motivationale Wertungen im Thalamus [19] und der Amygdala [20] speichert.
Selbst in diesem wahrlich groben Raster ist klar, dass Fertigkeiten anders als episodisches und semantisches Wissen im engeren Sinne vermittelt werden müssen, und dass sich die Vermittlung von emotional-motivationalen Inhalten davon völlig unterscheidet, weil gänzlich andere Speicherorte und Speichermechanismen angesprochen sind. Wir werden dies kurz im Abschnitt zur Vermittlung von Wissen (im engeren Sinne), und ausführlicher im Abschnitt zur Vermittlung von Werten behandeln. Dabei ist das Wort Vermittlung durchaus mit Vorsicht zu gebrauchen. Es erinnert an die traditionelle Aus- und Weiterbildung, die ja beim Wertlernen so gerade nicht funktioniert, wie wir mehrfach zeigen werden. Deshalb benutzen wir Wertvermittlung synonym zum Ausdruck intendierte Kompetenzentwicklung, [21] Kompetenzentwicklung wird durchgehend als selbstorganisativer Prozess aufgefasst.
[1] vgl. Probst, G., Raub, S., Romhardt, K. (1999)
[2] Schmidt, S.J. (2003), S. 11-26
[3] Mittelstraß, J. (1996), S.719
[4] Bullinger, H.-J.; Wörner, K.; Prieto, J. (1997)
[5] Heisig, P., Krisper-Ullyett, L., Ortner, J., Will, M.. (2004), S.10
[6] (1) standardisiert, methodisch und systematisch in Systemen, Strukturen, Prozessen, Technologien, in Dokumentationen, Bibliotheken und Datenbanken, Marken, Patenten angelegt; (2) in formaler Sprache artikulierbar und beschreibbar, z.B. in grammatikalischen oder mathematischen Ausdrücken; (3) prinzipiell allgemein verfügbar; zeitlich stabil
[7] (1) subjektive Fähigkeiten und Kompetenzen, nach denen die eine Person oder ein System handelt; (2) meist um Regeln, Werte und Normen zentriert, ohne dass sie vollständig beschreibbar sind; (3) mentale Modelle, Glaubens-/Rechtfertigungssysteme, die unser Bild der Realität bestimmen; (4) Besitzer können Personen, Gruppen, Firmen, Netze usw. sein
[8] Nonaka, I., Takeuchi, H. (1997)
[9] H.Keuth (1989)
[10] Weber, M. (1989), S.79
[11] Fraunhofer ISST (1998): Jahresbericht 1998
[12] Bunge, M., Ardila, R (1990), S. 294
[13] Romhardt, K. (1998)
[14] vgl. Götz, K.(1999)
[15] Reinmann-Rothmeier, G., Mandl, H.(1999),: S.12 ff.
[16] Blanchard, K.(1997)
[17] Franke, G. (2005), S.73 ff
[18] Basalganglien sind unterhalb der Großhirnrinde gelegene Kerne bzw. Kerngebiete, die für wichtige funktionelle Aspekte motorischer, kognitiver und limbischer Regelungen von großer Bedeutung sind.
[19] Thalamus: Größter Teil des Zwischenhirns, der bei der Modulation der ein- und ausgehenden Informationen zum Großhirn eine wichtige Rolle spielt.
[20] Die Amygdala (Mandelkern) ist ein Kerngebiet des Gehirns im medialen Teil des Temporallappens. Sie spielt eine wichtige Rolle beim Entstehen von Emotionen.
[21] Arnold, R. (2005), S.170 f