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a) Die Frage nach dem Sein
ОглавлениеDas theologische Werk Tillichs wurde nicht selten kritisiert wegen seiner philosophischen Begrifflichkeit.29 Die abstrakt-philosophische Sprache, so der Haupteinwand, habe doch nichts gemein mit der konkreten Metaphorik biblischer Sprache. In seiner Schrift „Biblische Religion und die Frage nach dem Sein“ (vgl. G V, 138–184) von 1955 greift Tillich genau dieses Thema auf, indem er den Gegensatz von biblischer Religion auf der einen Seite und Seinsdenken auf der anderen in einer Form darstellt, wie er schärfer nicht formuliert werden könnte. Aber, und das ist das Entscheidende, er zieht daraus nicht die Konsequenz seiner Kritiker, dass die Theologie darauf verzichten müsse, philosophische Begriffe zu verwenden. Vielmehr ist es Tillichs tiefste Überzeugung, dass dies weder möglich noch wünschenswert wäre und dass jeder Versuch, der in diese Richtung geht, letztlich zu einer Selbsttäuschung, ja zu einem gewissen „Primitivismus“ führt (vgl. M IV, 357). Denn jedes der biblischen Symbole führt nach Tillich unausweichlich zu einer ontologischen Frage, und auch die Antworten, die die Theologie auf diese Fragen gibt, enthalten notwendig ontologische Elemente.
Hier wird noch einmal deutlich, dass Tillich die Philosophie nicht „auf die technischen Probleme der Logik und Erkenntnistheorie“ beschränken will (G V, 139), denn in einem solchen Fall wäre sie eine allzu harmlose Angelegenheit. Zwar sind Logik und Erkenntnistheorie ohne Zweifel unverzichtbare „Werkzeuge“ philosophischen Denkens, und Tillich will die Beschäftigung mit diesen Fragen nicht herabmindern, aber Philosophie bedeutet sehr viel mehr als das; sie ist „Liebe zur Weisheit“, wie der Name ja schon besagt.
Nicht nur der Logische Positivismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern auch andere Strömungen der neueren Philosophiegeschichte – wie z.B. bestimmte Ausprägungen der sog. „Analytischen Philosophie“ – wollen ja bekanntlich die Philosophie auf Fragen der Logik und Erkenntnistheorie bzw. semantische Analyse (G VIII, 173) beschränken. Tillich hält es demgegenüber mit dem „mainstream“ der abendländischen Metaphysik-Tradition, angefangen bei den Vorsokratikern bis hin zu Martin Heidegger und Alfred North Whitehead, denen es wesentlich um die Frage nach dem Sein geht. Diese Frage ist für Tillich „die einfachste, tiefste und absolut unerschöpfliche Frage“, geht es doch hier um die Frage, was es bedeutet, wenn man sagt, dass etwas „ist“: „Dieses Wort ‘ist’“, schreibt Tillich, „verbirgt das Rätsel, das Geheimnis, daß überhaupt etwas ist. Jede Philosophie bewegt sich um dieses Geheimnis, ganz gleich, ob sie die Frage offen stellt oder nicht; jede Philosophie hat, ob sie es zugibt oder nicht, eine Teilantwort darauf, ist aber immer in Verlegenheit, eine volle Antwort zu geben. Die Philosophie ist immer in einer aporia (Weglosigkeit), wie die Griechen sagten, das heißt in einem Zustand der Ratlosigkeit über die Natur des Seins.“ (G V, 141)
Dass der Mensch die Frage nach dem Sein stellt, die für Tillich die philosophische Frage schlechthin ist, ist für ihn auch anthropologisch begründet, denn in dieser Frage wird die menschliche Situation als solche offenbar: „Der, der fragt, hat und hat nicht zu gleicher Zeit. Wenn der Mensch das Seiende ist, das die Frage nach dem Sein stellt, so hat er das Sein, nach dem er fragt, und hat es nicht. Er ist von ihm getrennt, obwohl er zu ihm gehört. Sicherlich gehören wir zum Sein – seine Macht ist in uns –, sonst würden wir nicht sein. Aber wir sind auch getrennt von ihm; wir besitzen es nicht vollständig. Unsere Macht zu sein, ist begrenzt. Wir sind eine Mischung von Sein und Nicht-Sein. Das ist genau das, was gemeint ist, wenn wir sagen, daß wir endlich sind. Der Mensch in seiner Endlichkeit stellt die Frage nach dem Sein. Wer unendlich ist, stellt die Frage nach dem Sein nicht; denn als unendliches Wesen hat er die vollkommene Macht des Seins. Er ist mit ihm identisch, er ist Gott. Und ein Seiendes, das nicht gewahr wird, daß es endlich ist (und nach dem gegenwärtigen Stande unserer Erfahrung gilt das für alles Seiende außer dem Menschen), kann nicht fragen, weil es nicht über sich selbst und seine Grenzen hinausgehen kann. Aber der Mensch kann und muß fragen; er kann der Frage nicht aus dem Wege gehen, denn er gehört zur Macht des Seins, von dem er andererseits getrennt ist. Und er weiß beides: daß er zu ihm gehört und daß er von ihm getrennt ist.“ (G V, 144) Wir stehen zwischen Sein und Nicht-Sein, und genau darum philosophieren wir. Die ontologische Frage ist in diesem Sinne für Tillich „die Kernfrage (the root question) jeder Philosophie“ (G V, 145).
Das wird auch noch einmal deutlich, wenn wir mit Tillich nach dem Ursprung der Philosophie fragen. Ursprung ist nicht Anfang im zeitlichen Sinne, sondern die ständige Quelle, aus der das Philosophieren hervorgeht. Platon und Aristoteles haben diesen Ursprung der Philosophie bekanntlich im Staunen erblickt, Jaspers verweist in diesem Zusammenhang auf die sog. „Grenzsituationen“ wie Tod, Leid, Kampf und Schuld. Tillich erblickt den Ursprung der Philosophie in der verzweiflungsvollen Frage Schellings: „Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?“ Auf den ersten Blick erscheint diese Frage absurd zu sein, nämlich dann, wenn man hier das „warum“ im buchstäblichen Sinne versteht. Diese Frage ist aber nicht als eine im logischen Sinne beantwortbare Frage gemeint, sondern sie bedeutet für Tillich vielmehr einen Aufschrei, eine Entrüstung; sie ist ihm der Ausdruck eines „Schocks“: „It is the philosophical shock of a man who, first in his life, has encountered the possibility that there might be nothing, or that there might have been nothing, and then asks the question: What does it mean that there is nothing?“30
Der Sinn dieser Frage, die von ihrer logischen Struktur her unmöglich ist, besteht also darin, das Philosophieren in Gang zu bringen, das zum Menschen als Menschen immer schon dazugehört (vgl. S I, 137). Jedenfalls ist für Tillich klar: Wer den ontologischen Schock, der in dieser Frage impliziert ist, niemals erfahren hat, der hat auch kein Recht, sich als Philosophen zu bezeichnen, selbst wenn er die gesamte Philosophiegeschichte auswendig kennen würde.