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Spurensuche im Haus der Anna-Luise Falke

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Ausgerüstet mit allen Informationen, Vollmachten und dem, was er sonst noch brauchte, begab sich Elsterhorst noch am selben Tag zum Haus der Anna-Luise Falke, der verschollenen Lehrerin. Die Recherche in Judiths Elternhaus schob er vor sich hin wie eine äußerst unangenehme, lästige Aufgabe. Nach wie vor war im diese Judith nicht geheuer.

Es sah alles genau so aus, wie Baumann es beschrieben hatte. Die Nachbarhäuser wirkten wie Festungen hinter ebenfalls hohen Hecken. Dennoch war er sich sicher, dass er beobachtet wurde.

Er nutzte das inzwischen leicht wieder zugewachsene Loch in der Hecke, ging den kurzen Weg bis zu den Stufen, die zur Haustür führten. Den Briefkasten ließ er zunächst unbeachtet. Er entfernte das Polizeisiegel, zog die Latexhandschuhe an und betrat den Vorraum.

Die Tür zum Musikzimmer stand weit auf. Es herrschte Dämmerlicht; denn die Pflanzen vor dem Fenster, durch das die Frauen geblickt hatten, waren inzwischen so hoch gewachsen, dass sie wie Vorhänge jeden Einblick verwehrten.

Er stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock und fand drei Räume vor: die Küche, ein Schlafzimmer, merkwürdiger Weise mit Doppelbett, und ein kleines Arbeitszimmer.

Die Küche gab nichts her. Die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank gammelten vor sich hin. Das Tiefkühlfach war leer. Alles war mit einer dicken Schimmelschicht bedeckt. Im Schrank fand er nur das übliche Geschirr. Nicht einmal eine Dose mit Kleingeld! dachte er enttäuscht. Fast jede Frau hatte doch Schmugeld irgendwo.

Im Schlafzimmer öffnete er die oberste Schublade einer alten Kommode aus den fünfziger Jahren. Auch die Unterwäsche, die dort sauber gefaltet lag, mochte aus dieser Zeit stammen. Alles sträubte sich in ihm, darunter zu fassen. Auch mit Handschuhen gruselte es ihn, Schlüpfer und ähnlich Unaussprechliches zu berühren. Das sollten - bitte! - andere machen.

Die zweite der Laden war gefüllt mit Babysachen. Sie mussten noch kurz vor Frau Falkes Verschwinden gewaschen worden sein, denn es entströmte ihnen immer noch der zarte Rosenduft eines Weichspülers.

Auch in der letzten Lade fanden sich Babysachen, Spielzeug diesmal: eine Kinderrassel, ein Schnuller, ein Fläschchen, ein Teddybär und ein Bilderbuch, so als wäre ein Kleinkind eine Weile hier aufgewachsen.

Auf dem antiken Sekretär im Nebenzimmer lagen aufgeschlagene Tagebücher, Reisenotizen mit Skizzen und Fotos illustriert. Eigenartig war nur, dass die Fotos nicht zu den Jahrgängen und Daten passten, aus denen die Notizen zu stammen vorgaben.

Menschen, die Anna-Luise 2002 fotografiert haben wollte, trugen die Kleider der Nachkriegszeit. Manche Gebäude gab es längst nicht mehr oder hatten inzwischen ein völlig anderes Aussehen.

Eine Welt also auch hier, die es schon lange nicht mehr gab – offenbar nur in der Vorstellung dieser Frau.

Endlich traf auch die Spurensicherung ein, die Elsterhorst angefordert hatte.

Als diese zu fotografieren begann, Fingerabdrücke zu sichern und kartonweise die von Anna-Luise so sorgfältig gehüteten Schätze abzutransportieren, ging Elsterhorst in das bisher vernachlässigte Musikzimmer.

Nachdenklich stand er vor dem Konzertflügel und griff fast automatisch einen Akkord. Die Tasten bewegten sich jedoch nicht. Er versuchte es mit einer anderen Kombination. Nichts.

Da wurde er hellwach. Hastig vor lauter Ungeduld legte er die drei gerahmten Fotos auf einen der Stühle und öffnete den hinteren Teil des Flügels: Er war bis zum Rand gefüllt mit Umschlägen, Ordnern und Mappen.

Die Spurensicherung würde noch eine Weile brauchen. Also begann er einige der Dokumente zu lesen. Und siehe - da fand er alles, was das Leben dieser Frau ausgemacht hatte. Ihre „Einberufung als Landmädel“ aus dem Jahr 1943 auf einen Erbhof im Schwarzwald, deren Besitzer von Wertheim hießen.

Einen Trauschein von Ende 1944: Eine Kriegstrauung, bescheinigt mit den Stempeln der Nazizeit. Dann die Todesanzeige ihres Gatten, Horst von Wertheim, 1945 in Russland gefallen für Führer, Volk und Vaterland. Elsterhorst atmete durch. Eine Witwe also, auch diese.

Die Geburtsanzeige eines Hajo von Wertheim überraschte ihn nicht. Wohl aber ein Vertrag, der beinhaltete, dass sie, Anna-Luise von Wertheim, alle Rechte an dem Kind an die Eltern des Sohnes abzutreten, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen hatte und für immer aus dem Leben der Familie verschwinden sollte. Das war über 60 Jahre her und das „Kind“, sofern es noch lebte, wäre jetzt ein Mann von mindestens 60 Jahren!

„Wir sind fertig!“ riefen die Männer von der Spurensicherung und brachten ihre Ausbeute in den Polizeiwagen. „Es fehlt nur noch dieser Raum!“

„Ich komme nach“, rief Elsterhorst.

Die gefundenen Dokumente würde er selbst mit ins Kommissariat nehmen. Denn der Vertrag enthielt einen Zusatz: Als Entschädigung erhalte Anna-Luise einen Betrag von einer Million Reichsmark.

Was war aus dem Geld geworden? Zwischen damals und jetzt lagen die Währungsreform und die Umstellung auf den Euro. Was war davon übrig und wo befand es sich?

Er packte die Unterlagen in seine Tasche und überließ das Musikzimmer den wenigen Experten der Spurensicherung, die noch da geblieben waren.

Als er das Grundstück verließ, herrschte reges Leben in den Gärten der Nachbarschaft. Zwei Polizeiautos und die ganze Geschäftigkeit hatten viele Anwohner dazu veranlasst, gerade jetzt ihre Hecken zu schneiden, Unkraut zu jäten oder sich sonst wie außerhalb der Häuser zu beschäftigen. Niemand blickte auf, als er an den Häusern entlang ging.

Nur eine alte Frau gab ihm ein Zeichen. Sie deutete ihm, um das Haus herum zu einem Hintereingang zu gehen. Dort erwartete sie ihn in der offenen Terrassentür.

„Ich bin Klotilde Winkler“, sagte sie, „und schon mit der Anne zur Schule gegangen. Sie war ein armes Ding!“

Arm? dachte Elsterhorst und folgte Frau Winkler in ihr altmodisches Wohnzimmer.

„Was ist ihr passiert?“

„Vielleicht ist sie nur plötzlich verreist?“ mutmaßte Elsterhorst.

„Verreist!“ rief Frau Winkler. „Sie hat das Haus doch nie verlassen. Auch wenn es manchmal so aussah. Eingesponnen hat sie sich. Mit niemandem geredet. Keiner wurde hereingelassen. Alles nur gespielt.“

„Was alles?“ fragte Elsterhorst.

„Nun, dass sie Klavierstunden bekam. Sie konnte nicht einmal Noten lesen. Oder dass sie verreiste. Morgens ging sie mit einem Koffer fort. Aber ich habe sie in der Nacht wieder heimkommen sehen. Als ihre Eltern gestorben waren, so anfangs der sechziger Jahre, hat sie das ganze Haus beleuchtet, als hätte sie Gäste. Alles gespielt. Dann kam dieser junge Mann. Ihn hätte sie am liebsten auch versteckt. Aber der lief herum und erzählte jedem, wie reich sie sei. „Eine Goldmarie!“, prahlte er.

Elsterhorst merkte bald, dass es keinen Zweck hatte, sie unterbrechen zu wollen. Aber das Wort „Goldmarie“ gab seinen Gedanken neue Nahrung.

„Vielleicht“, argwöhnte Frau Winkler, „ist sie ja doch wirklich einmal gewandert, wenn sie mit ihrem Rucksack los zog. Dann könnte sie ja abgestürzt oder überfallen worden sein oder so etwas.“

„Ja, vielleicht.“ stimmte ihr Elsterhorst höchst einsilbig zu. „Vielen Dank Frau Winkler.“

Gold? Überlegte er. Aber wenn, wo ist es?

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