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Die Geheimnisse der Villa Hudefarth

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Einerseits schätzte es Kommissar Lothar Velmond überhaupt nicht, wenn an ihn Aufträge aus dem Bekanntenkreis herangetragen werden. Da handelt es sich meist um familiäre Querelen. Man will sich Kosten für eine Detektei sparen und glaubt, für eine Kiste Wein durch ihn Recherchen anstellen lassen zu können. Um der lieben Nachbarschaft in Westcliff zu einer Mrs. Hudefarth Willen, ließ er sich ausnahmsweise mal vom Dr. med. Hudefarth und Else-Marie die Geschichte um das rätselhafte Verschwinden der Mutter Hermine berichten und fertigte einige Notizen dazu an.

Mehr oder minder mürrisch legte er seine ersten Zettel in eine Mappe und besprach die Angelegenheit mit seiner Assistentin Uta Möbius. Die fand den Fall sehr viel interessanter als er.

„Mal keine Leiche!“ frohlockte sie, „oder vielleicht doch, aber wo? Und ein millionenschweres Erbe, so denn Hermine für tot erklärt würde! Da muss man sich doch mal um den möglichen Erbgang und die Profiteure kümmern! Vielleicht wollte da jemand einfach nicht so lange warten, bis die offenbar fitte Dame auf natürlichem Wege abnibbelt! Wer früher stirbt, spart schließlich eine Menge Geld, das dann für die Erben übrig bleibt.“

Als kurz darauf die beiden weiteren Fälle spurlosen Verschwindens gemeldet wurden, da erst erwachte auch bei Velmond etwas mehr Feuereifer. Und Uta Möbius geriet geradezu in Verzückung. Das war so recht eine Kette von Fällen, in denen sie ihre analytischen Werkzeuge, die sie auf der Polizeischule erlernt hatte, zur Anwendung bringen konnte.

Also ging sie ans Werk, langte ein paar Formulare aus ihrem Fortbildungs-Ordner und begann, sie akribisch auszufüllen:

Fragenkomplex: Was ist? Was ist nicht? Wodurch unterscheidet sich beides? Gibt es Besonderheiten? Gibt es Veränderungen zwischen „Ist“ und „Ist nicht“? Spontaner Verdacht?

Ach, das klang natürlich sehr akademisch. Aber was soll’s? Was ist: Drei alte, rüstige(?), vermögende Damen verschwinden mehr oder minder plötzlich und spurlos. Was ist nicht: Es gibt keine Leichen, keine Kampfspuren, keine Abschiedsbriefe.

Besonderheiten: Zwei davon haben kurz zuvor 50.000 Euro bezw. 70.000 Euro in bar abgehoben, die nicht auffindbar sind.

Was ist: Alle Damen hatten Kreditkarten ihrer Hausbank. Was ist nicht: Alle haben seit ihrem Verschwinden kein Geld abgehoben.

Besonderheit: Wovon leben die Damen? Verdacht a) Die Damen leben nicht mehr, aber es liegt kein beweisbarer Raubmord vor. Verdacht b) Sie leben im Ausland vom abgehobenen Geld oder von Schwarzgeld in Schweizer Franken oder irgendwie.

Was ist: Die Handtasche, die Hermine Hudefarth hauptsächlich benutzt hat, fehlt. Es fehlen damit ihr Portemonnaie, ihr Personalausweis, Hausschlüssel. Ebenso fehlen die Handtaschen von Maria Solemnis und Anna-Luise.

Was ist: Das Haus Hudefarth war verschlossen. Alle Fenster geschlossen und intakt.

Was ist nicht: Es gibt keine Einbruchsspuren. Besonderheit: Talkumspuren am Haustür- und Gartentürknauf. Die Häuser Falke und Hüttner waren zwar nicht richtig zugeschlossen; die Schlösser nur zugeschnappt. Aber es gab auch hier keine Einbruchs- und Gewaltspuren. Im Haus Falke war ein Fenster gekippt.

Ach war das mühsam. Aber vielleicht doch nützlich, zumal wenn man die Tatbestände verglich.

Lothar Velmond lächelte über Uta Möbius’ Methoden, ließ sie aber gewähren. Diese minutiöse, linkshemisphärische Vorgehensweise war nicht seine Sache. So verabschiedete er sich für einen Nachmittag und quartierte sich für einige Stunden in Hermines Villa ein. Meditation am Tatort, das hatte ihn immer weit gebracht. Jeder Tatort wispert, wie er zu sagen pflegte. Man muss nur sehr, sehr genau hinhören. Dazu gehört die Stille. Velmond ließ sich am Sekretär der alten Dame nieder. Leider war da schon aufgeräumt worden und Ordnung geschaffen. Dennoch notierte er, dass die Dame vermutlich beim Briefeschreiben gestört worden war. Oder wurde sie über das Schreiben eines Briefes depressiv? Könnte sie ein Schwächeanfall ereilt haben? Aber dann? Oder war sie gar zum Schreiben eines Briefes gezwungen worden?

Irgendwie machte es Klick bei ihm! Menschen, die ihr vertraut waren, die einen Schlüssel zum Haus hatten, standen vielleicht plötzlich hinter ihr? Mit Waffen? Oder taten ganz harmlos? Konnten sie aber bewegen, irgendwohin mit zu kommen? Eine harmlose spontane Einladung, vielleicht zu einer Veranstaltung? Oder zum Kaffeetrinken? Die Dame folgt, zieht nicht mal einen Mantel an, nimmt ihre Handtasche und folgt den ihr vertrauten Eindringlingen (Notiz! bitte prüfen: Wer käme dafür in Frage? Wer hatte Schlüssel? Wer hätte Nachschlüssel machen lassen können?). Alle verlassen die Villa, ganz normal, unauffällig, steigen in ein den Nachbarn bekanntes Auto (Notiz: Wessen könnte das sein?). Die Dame wird betäubt und irgendwohin verbracht, später eventuell getötet. Handtasche wird beseitigt. Die Täter kommen später noch einmal mit Gummihandschuhen, erbeuten die 50.000 Euro, beseitigen Spuren. Schließen das Haus ab und verschwinden. Warum? Was wäre das Motiv? Beschleunigtes Erbe? Fehlanzeige; denn dafür müsste der Tod feststellbar sein. Raub? Warum heben die Täter nicht in den Folgetagen Geld mit der Bankkarte ab? Warum? Wer hat übrigens die Kontoauszüge? Gibt es ein Testament? Gibt es einen Haus-Anwalt?

Velmond tut so, als würde er versuchen, heimlich durch den Flur zum Schreibzimmer zu schleichen. Knarzen die Bretter? Das Parkett? Nein. Die dicken Teppiche und Teppichböden schlucken jeden Laut. Das Sicherheitsschloss an der Haustür dreht sich fast lautlos.

Velmond verzieht sich zu weiterem Meditieren in die Dachboden-Wohnung, in der der angeblich adlige russische Untermieter gewohnt hatte. Na - das war eine Überraschung! Sie erwies sich als ärmliche ehemalige Dienstboten-Kammer in krassem Kontrast zum Luxus darunter. Wasserfleckige Tapete, zum Teil abgerissen. Knarzende Bodenbretter bei jedem Tritt. Eine durchgelegene Bettstatt. Gurrende Tauben direkt vor dem kleinen Fensterchen, aus dem der alte Kitt bröckelt. Einfachverglasung. Ein Schrank, dessen Türen klemmen. Ein Tisch mit Schublade. Darin ein paar alte bautechnische Zeitschriften, eine Fachzeitschrift BETON, Tischplatte vollgekritzelt (kyrillische Buchstaben? Foto!), ein einfacher Holzstuhl, rissiger Schleiflack, grau. Ein leerer Papierkorb. Frage, die sich anknüpft: Wer hat die Papierkörbe und Abfalleimer im Haus geleert?

Oh, es bedurfte nicht viel, dass in Velmond die Seele zu kochen begann. Klassenkämpferische Gedanken erfüllten das ganze Kabäuschen. Hier oben der Student (Was hat er studiert? Wo war er eingeschrieben? Wie lange?), angeblich von Adel (Wer aus dem Bekanntenkreis war der Vermittler?), unten die reiche Dame! Wie kommt man an ihren Reichtum? Die Orgie - ein erster Racheakt? Die Wut, die sich frei macht in inneren oder auch äußeren Sätzen wie „Ich scheiße auf euren Reichtum!“ Teppiche, Symbole des Wohlstandsbürgertums, des angemaßten Pseudo-Adels, besudeln! Den Weinkeller plündern. Porzellan zerdeppern!

Die Orgie! Wer trifft sich? Etwa Philipp, der aufbegehrende Sohn? (Alibi und Fingerabdrücke prüfen!) Vielleicht auch Else-Marie, die ungeduldige und wenig geduldete Erbin? Velmond meditiert sich so was in Rage, dass es ihm innerlich schwer fällt, Hermine-Adele Hudefarth als Opfer zu betrachten. So recht in dieser Stimmung nimmt er nun den Keller in Augenschein. Es ist schließlich die richtige Zeit für einen samtigen Burgunder. Und auf eine Flasche mehr oder weniger kommt es nicht an. Irgendwozu müssen auch seine Vinylhandschule gut sein, damit er keine Fingerabdrücke im Weinkeller und am Korkenzieher hinterlässt. Er holt sich einen protzigen, fein geschliffenen Römer aus der Vitrine und genießt den fast 15jährigen Rebensaft im Lehnstuhl neben dem Rauchtisch.

Schade, dass er nicht raucht, denn in einer kleinen silbernen Schatulle findet er eine angebrochene Schachtel DUNHILL mit diesem exquisiten, edlen und unnachahmlichen Rot und Gold. Eine so dargebotene Zigarette musste man einfach rauchen, ob’s schmeckt oder nicht. Unschwer konnte er allerdings auf der glanzvollen Packung Fingerabdrücke erkennen und somit die Packung für die Asservatenkammer beschlagnahmen.

Am nächsten Morgen präsentiert er seine Vermutungen und alle Zettel mit Fragezeichen im Kommissariat: Kidnapping bezw. Grandma-Napping durch Vertraute mit Todesfolge oder Tötungsabsicht? Mögliche Motive: Beschleunigung des Erbgangs, Raub des Geldes und eventuell von Schmuck. Bedeutendstes Fragezeichen: Weshalb hebt Hermine zwei Tage vorher 50.000 Euro ab? (Er wird bei der Bank recherchieren). Um die Recherchen bezüglich der anderen Fragezeichen muss sich Uta Möbius bemühen. Bleibt die Frage: Wo ist die Leiche? Wenn es überhaupt eine gibt.

Kurz darauf stellt sich ihm ein hagerer, stattlicher Mann mittleren Alters vor:

„Gestatten, Elsterhorst, Maurice, Kriminalkommissar und fortan kollegial der ‚Soko Witwen’ zugehörig. Ich hoffe auf gute und ergänzende Zusammenarbeit mit Ihnen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Übrigens kann ich mit einigem Stolz schon ein Ermittlungsergebnis beitragen: Ich konnte Verbindung mit Judith Schwertfeger, geborene Hüttner, herstellen, die auch bereits in München eingetroffen ist. Der Zufall will es, dass wir in dieselbe Schule gegangen sind. Wir waren damals ziemlich gut befreundet - in Ehren natürlich. Wir waren ja Kinder. Aber Frau Hüttner meinte, ich sei kein Umgang für ihre Tochter. Überdies zogen wir bald in einen anderen Stadtteil. Wir verloren uns zwar aus den Augen, haben aber immer mal wieder Briefe gewechselt. Daher kannte ich ihre aktuelle Adresse.“ (Das war aber ziemlich gelogen!)

Lothar Velmond musste sich sehr beherrschen, um Freude zu heucheln. Dieser - wie hieß er noch? - Elsterhorst schien so gar nicht in das Team zu passen. Elsterhorst? Elstern stehlen und sammeln ihre Beute im Horst. Moritz? Maurice? Ein Franzose? Elsässer? Zumindest der Wein von dort war passabel.

Am besten wäre es wohl, klare Arbeitsteilung zu vereinbaren: Der Fall Hudefarth würde ihm obliegen, der Fall Maria Solemnis Hüttner diesem Elsterhorst. Vielleicht hilft ihm ja seine Jugendliebe ein Stück weiter. Den Fall Anna-Luise Falke delegierten sie zunächst mal an Anwärter, zumal hier bisher die Aktenlage äußerst dünn ausgefallen war.

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