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Der zweite Fall: Maria Solemnis Hüttner

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Anna Weidner war so aufgeregt, dass sie sich mehrfach verwählte, als sie gegen 17:00 Uhr Maria anrief. Natürlich war Maria da! Maria müsste da sein! Wo sollte sie sonst sein?

Klar - sie hätte sich alles leisten können, Reisen, Theater, Ausstellungen; denn sie hatte nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihren Mann beerbt. Ihre Tochter Judith lebte im Ausland, gut versorgt, wie man sagte. Statt sich jedoch mit ihren über 70 Jahren den schönen Dingen des Lebens hinzugeben, widmete sie sich ausschließlich Werken der Nächstenliebe. Wie die adligen Fräulein im Mittelalter, dachte Anna. Gut für die Nachbarschaft; denn man konnte ihr alle und alles anvertrauen – vom Säugling bis zur pflegebedürftigen Schwiegermutter. Und Anna bräuchte sie jetzt dringend. Sofort! Ihr Sohn hatte einen Sportunfall gehabt und musste abgeholt werden. Wer sollte da auf die kleine Schwester aufpassen? Maria, wer denn sonst?

Irgendwann gab Anna auf. Wahrscheinlich war ihr ein anderer Hilfsbedürftiger zuvor gekommen. Sie packte Klein-Alma ins Auto und fuhr los.

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„Wo ist Maria Solemnis?“ fragte Bruder Gregor und ließ seine kleinen schwarzen Augen mit durchdringendem Blick über die Anwesenden schweifen, ohne jemanden direkt anzuschauen. Die Anwesenheit bei den monatlichen Treffen der „Lebenshilfe-Gruppe“ war eines der wichtigsten Gebote.

Hier im Meditationsraum hatten alle ihre festen Plätze - getrennt nach Frauen und Männern. Die Schemel waren in Form eines Dreiecks angeordnet, an dessen offener Seite Gregor stand. So konnten ihn alle Teilnehmer sehen, ohne den anderen ins Gesicht zu blicken.

Es waren ausschließlich Witwen und Witwer, die Bruder Gregor - wie er sich nannte - in dieser von ihm gegründeten „Conquiesto-Lebenshilfe-Gruppe“ angeworben hatte. Maria Solemnis Hüttner gehörte zu seinen ältesten „Kundinnen“.

„Schwester Klara Imolata“, wandte er sich an eine der Teilnehmerinnen, „Sie hatten die Aufgabe, Maria Solemnis um 18:00 Uhr abzuholen.“

„Sie war nicht da.“ rechtfertigte sich die Angesprochene.

„Nicht da?“ Das klang wie ein schwerer Vorwurf. Klara zuckte zusammen. „Ich habe sicher zehnmal geläutet“.

„Warum haben Sie nicht nachgesehen?“

Die Frage war berechtigt. Jedem Mitglied der Gruppe war eine Hüterin oder ein Hüter an die Seite gestellt. Diesem übergaben sie beim so genannten „Aufnahmeritual“ den Wohnungsschlüssel und eine Vollmacht, die sie berechtigte, zu jeder Zeit die Wohnung oder das Haus des Anvertrauten zu betreten.

Klara senkte den Kopf. Sicher würde ihr Bruder Gregor später in einem privaten Gespräch eine verdiente Buße auferlegen.

Gregor entrollte ein Bild. Es stellte ein Labyrinth dar. Dann befahl er allen, diese einprägsame Abbildung konzentriert anzuschauen, sich darin zu vertiefen, um sich der Irrwege ihres eigenen Lebens bewusst zu werden. Damit begann ein Ritual; denn dieser Betrachtung würde ein öffentliches Sündenbekenntnis folgen.

Dazu kam es nicht.

Denn Klara stand auf, stieß ihren Stuhl verärgert zurück und verließ schnellen Schrittes den Raum.

Dieser kolossale Regelverstoß sprengte unvermittelt alle auferlegten Fesseln. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über Marias möglichen Verbleib und Klaras offenkundiges Versäumnis, intensiver nach ihr zu forschen. Gregor vermochte das Aufbegehren nicht mehr zu stoppen. Noch nie war es zu einer solchen Disziplinlosigkeit gekommen.

Alle Rufe nach Klara verhallten ungehört; denn sie hatte sich eilends auf den Weg zu Marias luxuriöser Villa begeben. Zögernd öffnete sie die prächtige Tür. So viel privater Wohlstand war eigentlich den Mitgliedern von Gregors Selbsthilfe-Gemeinde nicht erlaubt. Da sich jedoch Maria äußerst großzügig zeigte, wurde ausnahmsweise darüber hinweg gesehen.

Die Zimmer wirkten so, wie sie jemand für eine längere Abwesenheit herrichtet. Schonbezüge bedeckten die Biedermeier Möbel. Bilder, die zu irgendeiner Tageszeit dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen wären, hatte jemand mit Tüchern verhangen. Staub bedeckte die antiken Tische und Schränke. Es roch ungelüftet und die Luft fühlte sich trotz des relativ warmen Wetters erstaunlich kühl an.

Klara war keine mutige Frau. Nach einem eiligen Rundgang verließ sie fröstelnd das Haus – nicht ohne vorher ein paar Schubladen geöffnet zu haben.

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Nachbarin Anna, die ihre Kinder auch ohne Marias Hilfe längst wieder eingesammelt hatte, erwachte in der Nacht von einem Brandgeruch, der jedoch von draußen zu kommen schien. Sie weckte ihren Mann. Gemeinsam gingen sie zu Marias Haus.

Auf dem Rasen im Garten brannte ein Feuer. Funken, glühende Fetzen segelten in die Nachtschwärze, angesengtes oder schon verbranntes Papier bewegte sich schattenhaft im leichten Wind.

Emil, Annas Mann, verständigte die Polizei.

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