Читать книгу Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld - Werner Siegert - Страница 10
Ergreifend
Оглавление„Könnte ich bitte diesen netten Kommissar sprechen, der immer wieder bei uns in Sancta Agatha war, den mit dem schwarzen Hund?“
Kriminalassistentin Uta Möbius nahm den Anruf entgegen. und stellte ihn durch zu Hauptkommissar Maurice Elsterhorst.
„Herr Kommissar, Sie müssen kommen und mich retten! Sofort!“
„Wer ist denn am Apparat? Wo befinden Sie sich? Wer bedroht Sie? Würden Sie das bitte klar und deutlich zu Protokoll geben. Ich stelle zurück!“
Alwine Treidler merkte gar nicht, dass sie gar nicht mehr mit Elsterhorst verbunden war, sondern wieder mit Frau Möbius.
„... ach wissen Sie, Herr Kommissar, nein, ich will nicht mit jemand anderem sprechen, nur mit Ihnen, Sie haben schon so vielen geholfen ... jetzt helfen Sie bitte mir, sofort, ich bin in Not!“
Frau Möbius wollte sich einschalten, aber als sie ihren Namen nannte und um die näheren Angaben bat, legte Alwine Treidler einfach auf. Eine Telefonnummer war nicht gespeichert. Also konnte man nur in der Senioren-Residenz St. Agatha zurückfragen.
Noch während Uta Möbius nach der Telefonnummer suchte, meldete sich Frau Treidler erneut, und zwar energisch: „Ich will bitte den Kommissar mit dem schwarzen Hund sprechen und niemanden anderen! Es ist dringend!“
Elsterhorst hasste solche Anrufe. „Weiberkram!“ fluchte er. „Ja bitte? Hier Elsterhorst! Sie haben doch eben schon mal angerufen. Ohne nähere Angaben geht hier nichts, Frau ... „
„Treidler, Alwine. Das ist vertrautlich! Das kann ich nur Ihnen sagen. Weil ich Ihnen vertraue. Ich habe das in Ihren gütigen Augen gelesen ... „
Peng! Elsterhorst knallte den Hörer auf die Gabel. „Wenn die doofe Ziege nochmal anruft, ich bin nicht da. Diese Alwine, die kann mich mal ... !“
„Ich mach’ das schon!“ Frau Möbius versuchte, den Hauptkommissar zu beruhigen. „Vielleicht ist sie ja tatsächlich in Not. Dann würden wir uns noch unterlassener Hilfeleistung schuldig machen!“ Sie ließ sich mit dem Heim verbinden.
„Die Frau Treidler hat bei Ihnen angerufen und wollte das Kommissariat sprechen? Die Mordkommission? Und sie sei in Not? Es müsste sofort jemand kommen? Frau Möbius, wir schauen sofort nach, und falls wirklich ein Notfall vorliegen sollte, melden wir uns wieder.“
Frau Treidler aber war nicht auffindbar. Sie hatte ihre Wohnung verlassen - ohne Rollator. Also könnte sie nicht weit weggegangen sein. Ob ihr außerhalb des Hauses etwas zugestoßen wäre, konnte man jedenfalls so schnell nicht prüfen. „Na ja, sie ist von sehr ängstlichem Naturell!“ teilte man Frau Möbius mit.
Kurz darauf summte das Telefon erneut. Wieder war Frau Treidler am Apparat. „Kommen Sie, kommen Sie, sofort, ehe was passiert. Ich bin in eine Telefonzelle geflüchtet, in der Agathastraße, schräg gegenüber vom Heim!“
Maurice Elsterhorst musste nicht lange um Zustimmung gebeten werden, dass zunächst einmal Frau Möbius den Fall übernehmen solle. Mit Blaulicht und Sirene raste der Einsatzwagen zum angegebenen Ort und hielt direkt vor der Telefonzelle. Da gab es einiges Aufsehen, weil die Passanten erst dachten, die alte Frau würde festgenommen. Dabei sträubte sie sich nur: „Ich verlange, dass der Kommissar mit dem Hund kommt ... und keinesfalls eine Frau! Was soll schon eine Frau ausrichten? Die kommt doch selbst in Gefahr! Noch dazu so eine Hübsche!“ Dabei schaute die Treidler die junge Kriminalbeamtin von oben bis unten abschätzig an.
Mit fester Hand holten Frau Möbius und eine Kollegin die zitternde alte Frau aus der Zelle und bugsierten sie ins Auto.
„Bin ich jetzt festgenommen?“
„Nein, natürlich nicht. Wir wollen Ihnen doch helfen. Jetzt müssen Sie sich erst einmal beruhigen. Der Kommissar mit dem Hund kommt dann vielleicht auch noch; damit Sie ganz, ganz sicher gehen. Es wird Ihnen nichts passieren. Aber sie müssen uns erst einmal sagen, was passiert ist oder passieren könnte. Wer hat Sie bedroht? Was haben Sie beobachtet?“
„Da ist so ein Mann! Ziemlich jung und kräftig. Aber mit Bart. Schwarze Haare.“
„Wo ist dieser Mann?“
„Nun - im Heim natürlich. Aber der wohnt nicht da. Nie und nimmer. Der gehört überhaupt nicht ins Haus. Aber ich habe ihn jetzt mehrfach gesehen. Der schleicht immer so durch die Gänge. Und hat so komische Sachen an.“
„Ein Ausländer?“
„Kann sein. Vorgestern hat er mich zum ersten Mal angequatscht. Ob er nicht auch mal zu mir kommen solle. Ich sei doch viel allein. Da könnten wir doch ein bisschen Spaß zusammen haben ... oder so ähnlich, hat er gesagt! Da bin ich schnell weggelaufen. Aber er hat gesehen, in welche Wohnung ich geflüchtet bin. Gestern war er wieder im Haus, spät abends. Er hat mich nicht gesehen, aber ich ihn. Dann bin ich ihm nachgeschlichen. Da ist er zu der Gertrud ins Zimmer, Gertrud Böhme. Die ist auch ungefähr so alt wie ich. Aber nicht so gut auf den Beinen!“
„Und dann?“
„Dann hat die ganz laut gequietscht. So als ob er sie gewürgt oder sonstwas mit der armen Frau angestellt hat.“
„Sie haben gelauscht?“
„Ja, natürlich, muss man doch, wenn andere in Gefahr geraten oder? Dann wurde es ganz still. Die haben geredet. Nein, eigentlich hat er auf sie eingeredet, mal ganz laut und dann wieder leise und immer wieder diese Schreie, dieses Gequietsche. Und so unheimliche Töne. Auf einmal hat es auch so eigenartig gerochen. Nach Zimt. Oder so ähnlich! Dann war es auf einmal ganz still, totenstill. Nach über einer Stunde hat sich der Kerl dann davon schleichen wollen. Der sah vielleicht aus! Seine Haare, ich sag’s Ihnen! Ich konnte leider nicht schnell genug weglaufen. Da hat er mich wieder angequatscht, mit Namen. Der wusste ja nun, wo ich wohne! Heute wollte er bei mir anklopfen. Jetzt traue ich mich nicht mehr zurück. Und da dachte ich, wenn der Herr Kommissar mit dem schwarzen Hund zu mir käme. Ich würde ihm auch was zu Essen besorgen. Wenn dann dieser Mann auftauchen würde, könnte er ihn gleich festnehmen, diesen Lump!“
„Na ja, Frau Treidler, vielleicht ist es gar kein Lump. Jetzt bringen wir Sie erstmal in Ihre Wohnung und passen ein bisschen auf. Dann sprechen wir auch mal mit der Frau Böhme. Die kann uns sicher Auskunft geben.“
Die stellvertretende Heimleiterin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Alwine Treidler mit Polizeischutz in ihre Wohnung begleitet wurde. „Schließen Sie einfach ab und machen Sie nur auf, wenn wir fünfmal klopfen. Und beruhigen Sie sich!“
Frau Böhme war sehr überrascht, plötzlich Besuch von zwei jungen Polizeibeamtinnen zu bekommen. In der Wohnung roch es - na ja, es könnte von Räucherkerzen sein.
„Sie hatten gestern abend Besuch von einem jungen Mann, dunkelhaarig, mit Bart?“
„Hat er was ausgefressen, der Ferdi? Oder warum kommen Sie zu mir?“
„Dieser Mann, der Ferdi, hat der Ihnen was angetan? Es hat Zeugen gegeben, die sich Sorgen gemacht haben.“
Frau Böhme schmunzelte und geriet errötend in Verlegenheit. „Angetan ist sicher der falsche Ausdruck. Also der Ferdi, der ist so ein professioneller Vorleser. Wissen Sie, unsereiner sieht nicht mehr so gut. Da strengt das Lesen an. Und der liest wirklich gut. Nicht nur so. Das ergreift einen richtig. Wenn seine Klangschale summt und sein rotes Lämpchen glimmt, betörende Düfte dazu, das hat schon was! Da lässt man sich gern in andere Welten entführen.“
„Und was liest er so vor?“ Die Polizistinnen wurden mehr als neugierig. So einen Vorleser ... da hätte man doch gern mal die Adresse.
„Na ja, was man halt so will. Krimis, Gruseliges, Orientalisches, Erotisches. Auch so Stegreif. Man nennt ihm zehn beliebige Wörter, dann macht er gleich eine Geschichte draus. Vieles hat er ja auswendig drauf. Im wahrsten Sinne e r g r e i f e n d. Dann ist man plötzlich mitten drin in der Geschichte, als Hauptperson. Ach, wunderbar, hundertmal besser als Fernsehen. Kostet natürlich auch ein bisschen. Er ist ja arbeitsloser Schauspieler, muss davon leben. Hundert nimmt er für die Stunde - nur Vorlesen. Aber so mit vollem Einsatz, da nimmt er das Doppelte. Die alte Treidler, die ihm ja nachgespürt hat, kann ihn sich vermutlich nicht leisten. Aber vielleicht gibt er ihr mal eine Gratiskostprobe.“
Frau Böhme war richtig ins Schwärmen geraten. „Man gönnt sich ja sonst nichts, wenn Sie verstehen, was ich meine!“
Den beiden Polizistinnen ging allmählich ein Licht auf. Ergreifend! Sie ließen sich Ferdis Adresse geben. Rein dienstlich natürlich.
Einige Tage später wurde Frau Treidler tot in ihrem Bett aufgefunden. Am Abend zuvor hatte ihr Ferdi eine Kostprobe seiner Künste gegeben. Vielleicht zu ergreifend. Am Hals hatte sie Würgespuren. Er allerdings auch.
Es sei alles ein Missverständnis gewesen. Die Frau Treidler habe sich von ihm einen Krimi gewünscht. „Dann haben wir uns beide so hineingesteigert. Da ist sie mir an die Gurgel gegangen, so als ob ich der Bösewicht selber gewesen wäre. Da habe ich mich wehren müssen. Sie glauben ja gar nicht, was so ein altes Weib noch für Kräfte hat. Aber als ich ging, schnaufte sie noch. Ich habe sie noch zugedeckt. Dann bin ich gegangen.“
„Herzversagen aufgrund psychischer Erregung“, schrieb Dr. Gregor auf den Totenschein. „Sie war offenbar sichtlich ergriffen!“ meinte er zweideutig.***