Читать книгу Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld - Werner Siegert - Страница 11
Der Opa wird einfach zu alt!
ОглавлениеMit „Heimgehen“ ist in einem Heim nicht unbedingt das gemeint, was man früher damit gemeint hat. Rein altersbedingt gehen halt immer wieder welche „heim“. Dann steht ein Foto in der Halle mit einem schwarzen Bändchen. Und alle trauern, außer jenen, die auf der Warteliste stehen, und einigen taktlosen Erben, die froh sind, dass der Erblasser erblasst ist. Je früher, desto mehr ist schließlich noch übrig.
Aber wenn binnen kurzer Zeit all zu viele heimgehen, und dies noch dazu auf einer Etage, dann interessiert das nicht nur die Erben, sondern vielleicht auch die Kriminalpolizei. Hauptkommissar Maurice Elsterhorst, der schon einige Erfahrung mit gewaltsam Heimgegangenen in einem Heim gesammelt hatte, erschien jedenfalls auf Initiative eines Mitbewohners, der gerade sein allerliebstes und noch recht lebenslustiges Albertinchen verloren hatte. Ärzte sind der Liebe im Seniorenstift sehr gewogen, weil sie wissen: Verliebte Menschen bleiben viel länger gesünder und benötigen laut Statistik weniger als halb soviel Medikamente wie Einsame und Verlassene. Liebe ist ja nicht nur das. Der Gesundheitsminister könnte viel Geld sparen.
Elsterhorst kam und brachte Rinaldo, seinen schwarzen Labrador mit, der den vom Tod seiner Herzens-Prinzessin tief getroffenen Helmut Harringer (83) mit seinen treuen Augen ein wenig zu trösten vermochte. Hunde entfalten manchmal ein tieferes Mitgefühl als Menschen, noch dazu als Kommissare im Dienst.
„Sie glauben also, es sei hier nicht alles mit richtigen Dingen zugegangen? Die von Ihnen betrauerte Albertine Steinmeier sei noch am Tag vor ihrem Tode rüstig mit ihrem Rollator durch den Wald zur Wallfahrtskirche Maria im Walde gespurtet, so schnell, dass Sie selbst kaum hätten Schritt halten können.“
„So ist es, Herr Oberhauptkommissar Elstermann ...“
„Elsterhorst, Elster mit horst wie Horst hinten dran, und Hauptkommissar!“
„... ja, entschuldigen’s, Herr Kommissar, ich hör’ halt e’weng schlecht. (Dann stellte er sein Hörgerät auf volle Pulle). Albertinchen war doch erst 78, und so lustig und fesch. Die ist ja vor ihrer Familie ins Heim geflüchtet. Drangsaliert hamse die. Ständig an ihr herumgemeckert und sie mit Pillen vollgestopft, exakt nach der Uhr. Dabei brauchte sie den ganzen Kram gar nicht mehr, seit wir uns näher kennengelernt hatten.“
„Verzeihung, könnte es sein, dass der Verzicht auf die Medikamente ihren plötzlichen Tod zur Folge gehabt haben könnte?“
Rinaldo ließ sich bereitwillig mit Restkeksen von Weihnachten beglücken. Einen Diensthund kann man ja nicht bestechen. Oder?
„Nein, nein, der Arzt hat ja auch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er sah, wieviele bunte Pillen sie täglich in ihre Portionsschachtel sortiert bekam.“
„Sie erwähnten, die Familie habe die Verstorbene drangsaliert. Wissen Sie Näheres? Ich meine, könnten Sie sich vorstellen ...“
„... dass die nachgeholfen haben könnten?“ Harringer fiel dem Kommissar ins Wort. „Na ja, wissen Sie, ehrlich gesagt hatte ich so einen Verdacht. Obwohl man das ja eigentlich nicht sagen darf. Aber sie hatte auf einmal soviele Pralinen geschenkt bekommen. Und sie gönnte sich ja auch gern mal ein Gläschen Likör. Na ja, Wilhelm Busch dichtete ja schon ‚Es ist ein Brauch von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör!’ Aber Likör schmeckt natürlich auch ohne Sorgen.“
Elsterhorst wurde ein wenig ungeduldig, und Rinaldo zeigte wenig Verständnis dafür, dass die Keksdose nur noch Krümel enthielt, die er begierig mit langer Zunge heraus schleckte.
„Ja, Wilhelm Busch hin und her, meinen Sie, dass Frau Steinmeier von ihrer Familie vergiftete Pralinen oder Getränke ... „
„... oh, ich will ja nicht wegen Verleumdung belangt werden. Aber finden Sie es nicht auch eigenartig, dass drei Heimbewohnerinnen, mit denen Tinchen näheren Kontakt hatte, sämtlich in den letzten Tagen verstorben sind? Und Tinchen war immer sehr großzügig. Ein Betthupferl für jeden oder was Süßes hinten drauf. Ich steh’ ja nicht auf Süßkram!“
Elsterhorst hatte es plötzlich eilig. Er musste Rinaldo regelrecht herauszerren; denn der schnüffelte praktisch dienstbeflissen, ob nicht doch noch irgendwo eine Keksdose versteckt sein könnte und fand tatsächlich noch eine Cognacbohne unter dem Bett.
Die Heimleitung reagierte bestürzt. Natürlich sei man den Todesfällen nachgegangen, ob es etwa eine Lebensmittelvergiftung hätte gewesen sein können. Aber vier aus einer Etage und die übrigen 126 im Hause gar nichts? Pralinen?
„Wissen Sie, Herr Hauptkommissar, da sind wir überfordert. Was glauben Sie, was bei unseren Bewohnern und Bewohnerinnen alles abgeladen wird. Nur wenn wir zufällig sehen, dass das Verfalldatum seit Monaten abgelaufen ist, bitten wir um Herausgabe. Manche Familienmitglieder scheinen der Meinung zu sein, wenn die Oma ihr Verfalldatum überschritten hat, käme es da bei ihr auch nicht mehr drauf an. Aber vergiftete Pralinen oder Likör? Die Zimmer der Verstorbenen sind ja längst gereinigt, die Reste aus Schränken und Küche entsorgt. Wer denkt denn an sowas?“
Mit einem Mal fing Rinaldo an zu würgen. Er wand sich und rutschte auf dem Teppichboden hin und her. Elsterhorst reagierte bestürzt, ja, geradezu panisch. Er kniete vor seinem Hund, seinem Ein und Alles. „Spy out!“ schrie er auf Englisch; denn seinen Rinaldo hatte er ja aus London mitgebracht. Mit seinen Händen riss er das Maul auf, steckte den Finger weit in den Rachen, so dass sich der Labrador noch mehr erbrach und Reste der Praline auf den Boden spie. „Wasser, Wasser!“ schrie der Kommissar und ließ gleichzeitig den ausgebrochenen Schleim in eine Tüte gleiten. Die Liebe zu seinem Hund verdrängte alle Ekelgefühle. „Rufen Sie sofort die Giftzentrale an!“
Kurz darauf fuhr der Rettungswagen vor. Auf einer Bahre wurde Rinaldo hineingeschoben. Vor der Abfahrt konnte der Kommissar gerade noch seinen Kollegen benachrichtigen: „Kollege Velmond, übernehmen Sie!“
Im Foyer blieb ein Pulk weinender und der Ohnmacht naher Bewohner zurück. Wenn ein Mensch stirbt, na ja, das muss man halt hinnehmen, aber ein Hund?
Schon eine Stunde später erschien Hauptkommissar Lothar Velmond mit seiner hübschen Assistentin Uta Möbius. Er nahm sich gleich den Harringer vor.
„Von wem stammt die Praline unter Ihrem Bett?“
„Ach, Herr Kommissar, Sie sagen’s ja nicht weiter. Also es war natürlich das alte Spiel: Gehen wir zu dir oder zu mir? Manchmal zu mir. Da hat sie mir jedesmal was mitgebracht! Vielleicht auch die Praline. Aber die wollte mich doch nicht vergiften!“
Auf dem Flur kam plötzlich ein kleines Mädchen angerollert. „Was ist denn los?“ fragte sie die Kriminalassistentin.
„Das darf ich dir nicht sagen. Wie heißt du denn und wo willst du so schnell hin?“
„Ich muss doch den Opa retten, meinen Opa! Weil bei uns zuhause, also ich hab’ ja nur heimlich gelauscht, da schimpfen sie immer, der Opa würde zu alt und es bliebe ja nichts mehr übrig für die Nachkommen. Man müsse doch was unternehmen, damit er möglichst bald schmerzlos stirbt. Und seitdem warne ich ihn. Alles, was er von meinen Leuten geschenkt bekommt, werfen wir weg, verschenken es oder gießen es in den Ausguss!“
„Wie heißt du denn? Und wie heißt dein Opa?“
„Ich bin die Annalena und mein Opa, das ist der Harry, der Herr Tauber! Sie können ja gleich mitkommen. Opa Harry ist der beste Opa von der Welt!“ Diese Einladung ließ sich die Polizistin nicht entgehen.
„Und Sie haben alles weitergeschenkt, was Sie mitgebracht bekamen?“ wollte Frau Möbius von Opa Harry wissen.
„Ja, mein kleiner Schatz, mein allerliebstes Lenchen, hat mich ja gewarnt. Die wollen mich ja, wie man bei uns zuhause sagte, über die Wupper gehen lassen. Ha! Da haben die aber nicht mit uns beiden gerechnet. Ich werde noch 100; denn immer, wenn Lenchen zu mir kommt, fühle ich mich zehn Jahre jünger. Schon Paul Heyse sagte es: ‚Soll das kurze Menschenleben immer reiche Frucht dir geben, musst du jung dich zu den Alten, alternd dich zur Jugend halten!’ Und jetzt ist auch noch ein Hund gestorben. Das täte mir am meisten leid!“
Die Heimleiterin konnte derweilen die verweinte Trauergemeinde in der Halle beruhigen: „Der Herr Hauptkommissar hat gerade angerufen. Rinaldo geht es schon wieder viel besser! Sie können also wieder in Ihre Wohnungen zurück gehen!“
„Morgen zünde ich eine Dankeskerze in Maria im Walde an. Maria hat geholfen!“ schwor Opa Harry. „Und ich komme mit und zünde gleich zwei Kerzen an, eine für Albertinchen und eine für mich!“ gelobte Helmut Harringer.
Der Familie Tauber konnte man natürlich gar nichts nachweisen. „Wissen Sie, so Kinder, die denken sich halt sowas aus. Wie sollten wir auch an so ein Gift kommen?“
Draußen im Vorgarten verblühte der Eisenhut, die giftigste Pflanze im ganzen Land.***