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Absturz

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Es war ein grässlicher Anblick: Auf dem gepflegten Rasen gleich links neben dem Empfangsgebäude der Senioren-Residenz Sancta Agatha lag dieser tote alte Mann in seinem Blut, mit zerschmetterten Gliedern. Niemand traute sich, eine Decke zu holen, um sie über ihn auszubreiten, ehe nicht die Kriminalpolizei und Spurensicherung alles akribisch untersucht hätte. Eines aber schien jetzt schon sicher: Dieser Mann, dessen Gesicht - sofern es noch erkennbar war - niemandem spontan vertraut war, musste sich vom obersten Stockwerk aus hinuntergestürzt haben. Es könnte auch sein, dass er im Traum schlafwandlerisch über das Balkongeländer geklettert und dann abgestürzt sei. Nur - niemandem von der Heimleitung oder vom Betreuerteam war ein männlicher Bewohner in der einzig infrage kommenden Etage bekannt. Die pflegebedürftigen Demenzkranken waren in einem anderen Flügel untergebracht.

Alsbald tauchten die Polizei- und Rettungsfahrzeuge mit Blaulicht und Sirenen auf. Routinemäßig sperrten sie den Ort des Geschehens mit rotweißen Bändern ab und errichteten über der Leiche des Mannes ein Zelthaus. Den Tod brauchten sie nicht erst festzustellen. Er war offensichtlich. Sofort teilte sich der Einsatztrupp. Hauptkommissar Maurice Elsterhorst begab sich mit dem allen Bewohnern der Residenz längst vertrauten schwarzen Labrador Rinaldo und einigen Begleitern ins Haus, um Wohnungen und Apartments zu inspizieren, aus denen der Tote hätte nach unten stürzen oder auch gestürzt werden können.

Das Haus war in heller Aufregung. Bei den bisherigen unnatürlichen Todesfällen war eine Wohnung, ein Flur, ein Flügel der weiträumigen Anlage betroffen. Jetzt aber war die ganze Residenz auf den Beinen. Jeder, der konnte, hatte sich inzwischen angekleidet. Die Damen hatten ihren Schmuck angelegt, ihre Haare in Form gelegt. Die wenigen Männer standen alsbald in einem Pulk zusammen. Es kamen ja auf hundert weibliche Bewohner gerade mal zwanzig Männer. Das Alter ist bekanntlich weiblich. Waren die Männer zunächst noch mit der Befürchtung zusammengelaufen, es könne einer von ihnen, aus der Skat- oder Schachgruppe oder von der Tischgemeinschaft zu Tode gekommen sein, so waren sie ebenso erleichtert wie verwundert, dass keiner fehlte.

Es ist keiner von uns!“ resümierte Oskar Regner. „Es sei denn, der arme Kerl sei gestern oder vorgestern erst eingerückt und habe den Wechsel nicht verkraftet. Mein Gott, was habe ich in den ersten Tagen hier gefremdelt. Ich war überzeugt, das sei das Ende. Nun habe es eben auch mich erwischt. Aber dann .... hier hat man seine Ruhe, wird versorgt. Na ja, solange die Kohle reicht. Oder die Jungen für dich aufkommen.“

Hauptkommissar Elsterhorst hatte inzwischen fast sämtliche so früh am Morgen zugänglichen Apartments besichtigt. Nur wenige Bettlägerige mussten erst geweckt, gewaschen, angekleidet und in ihre Rollstühle gesetzt werden. Dann konnten auch deren Wohnungen inspiziert werden. Rinaldo schnupperte nach Keksbrocken. Aber irgendwelche verdächtigen Spuren von Gewaltanwendungen waren nirgendwo zu entdecken. Und vor allem: Es gab auch kein nicht belegtes, leeres Zimmer. Von wo also hätte der Tote in die Tiefe springen sollen?

Blieb noch der Dachboden, der allerdings wohlweislich ständig verschlossen gehalten wurde, nachdem sich einige wenige Male dort Bewohnerinnen und Bewohner vor Besuch oder Arztterminen, ja sogar vor der Polizei hin geflüchtet hatten. Auch soll es dort oben schon zu Rendezvous von lebenslustigen Männern mit liebeslustigen Schwestern gekommen sein. Das wäre natürlich auch jetzt noch möglich; denn das Personal hatte schon aus Gründen des Feuerschutzes Zugang zu den Schlüsseln.

Elsterhorst ließ sich also den Dachboden aufschließen. Rinaldo stürmte abenteuerlustig in das unerforschte Terrain. Und siehe da, heftig flatternd und zeternd stoben einige Tauben hoch, manche fanden nicht gleich das offene Fenster, Federn wirbelten durch die Luft, Rinaldo bekam einen der Vögel am Schwanz zu schnappen und ließ das Zappeltier, nachdem er die Taube mehrmals herumgeschleudert hatte, erst auf den harschen Befehl seines Herrchens frei.

Wo ein Fenster offen stand und Tauben raus- und rein fliegen können, da könnte sich auch ein Mensch hinausstürzen. Elsterhorst ließ helle Lampen bringen; denn die Beleuchtung hier im Olymp war mehr als dürftig. Und - siehe da - in einer Ecke neben einem der mächtigen Kamine hatte sich jemand ein Lager hergerichtet. Auf einem Brett standen eine Tasse und ein Teller mit Speiseresten, an einer Leine baumelten ein ärmlich-dünner Mantel, eine Hose und ein Hemd. In Griffweite von der provisorischen Bettstatt waren etliche Bücher aufgestapelt, einige in kyrillischer Schrift. Ein paar Magazine und Zeitungen lagen herum. In der Nähe des Fensters stand ein alter Holzstuhl. An einem der Holzbalken waren mit Heftzwecken ein paar Fotos befestigt, diverse Personen, Erwachsene und Kinder, eine kleine, armselige Bauernkate. Elsterhorst ließ alles absperren und bis in den letzten Winkel fotografieren. Hier hatte der Tote offenbar bis zum gestrigen Tage gehaust. Dann wohl den letzten Ausweg aus seinem kümmerlichen Leben gewählt.

Jedoch muss es mindestens eine Komplizin oder einen Helfer gegeben haben, der ihn mit Essen und Trinken versorgt und sicher auch heimlich mal auf eine Toilette oder gar in ein Badezimmer geluchst hat, als Besucher getarnt. Man müsste die Schwestern, Pfleger und Betreuer dieses Gebäudeflügels befragen - und zwar zunächst jene, die aus Ländern stammen, in denen kyrillische Schriftzeichen genutzt werden. Dazu könne man die Kommissarin Uta Möbius abordnen, sozusagen zu Gesprächen von Frau zu Frau.

Die Direktion gab sich erschüttert. Nein, dass so etwas in diesem gepflegten Hause möglich gewesen sein soll? Da müsse man strengstens nachforschen und in aller Härte durchgreifen. Die Schlösser müssen ausgetauscht, der ganze Dachboden schnellstens desinfiziert werden. Und vor allem dürfe nichts nach draußen dringen. Denn dann würde der Ruf des Hauses noch mehr leiden. Immerhin war es beileibe nicht das erste Mal, dass ein Polizei-Einsatz für unerwünschte Publizität gesorgt hätte.

Der zweite Trupp packte bereits wieder alle Gerätschaften zusammen. Der Tote war in einem Zinksarg in die Pathologie unterwegs. Natürlich hatte man auch hier alles im Detail fotografiert, für den Fall, dass man noch einmal Einzelheiten auswerten müsse. So aber ging man davon aus, dass der Mann Selbstmord begangen habe. Also nichts Aufregendes. Drei Hausgärtner waren bereits dabei, sämtliche Spuren in der peinlichst gepflegten Rasenfläche zu tilgen. Neue Grasplacken wurden dort sorgfältigst eingepflanzt, wo durch den Aufprall des Mannes Vertiefungen entstanden waren.

Wer damit gerechnet hatte, dass der „Fall“ - im wahrsten Sinne des Wortes - damit schnell abgehakt werden könne, hatte sich jedoch getäuscht. Denn aus der Pathologie kam die aufregende Nachricht, dass der Mann bereits tot gewesen sein musste, als er aus dem Fenster geworfen wurde. Mord?

Jedenfalls waren bisher unbekannte Dritte an dem Fall beteiligt. Zur Identifikation wurden Fotos, Fingerabdrücke, Gebissabdrucke an Kommissariate in osteuropäischen Ländern geschickt. Wer könnte der Tote sein?

Nun übernahm auch Hauptkommissar Lothar Velmond einen Teil der Vernehmungen. Der Mann war tot, als er aus dem Fenster geworfen wurde? Noch war nicht klar: War er eines natürlichen Todes gestorben? War er krank? Verhungert? Oder hatte ihn jemand in seinem Versteck aufgespürt und umgebracht? Gehörte er zur russischen Mafia oder wurde er von ihr gesucht? Hier - im Hause der Seniorenresidenz Sancta Agatha - müsse die Antwort gefunden werden.

Natürlich hatte die Presse davon Wind bekommen. Schon mit dem Erklingen der Martinshörner waren die Reporter auf den Beinen, um möglichst schnell Interviews mit irgendwelche Herumstehenden zu führen, die natürlich allzu bereit waren, irgendwas von sich zu geben, nur um in die Zeitung oder gar ins Fernsehen zu kommen. Einer oder eine - das ließ sich dann nicht mehr zurückverfolgen - hatte gemeint, es bliebe doch manchen Bewohnern gar nichts anderes übrig, als in den Tod zu springen, weil sie sich die hohen monatlichen Belastungen gar nicht länger leisten könnten. Vermutlich sei das einer von diesen armen Kerlen, die nach einem arbeitsreichen Leben von Banken um ihr Erspartes gebracht wurden und nun im wahrsten Sinne des Wortes ins Bodenlose abstürzen.

Dieser Spur ging auch Velmond nach. War es ein ehemaliger Bewohner des Hauses, der am Ende war und in seiner Not auf den Dachboden geflüchtet und von mitleidigen Schwestern dort durchgefüttert wurde, bis es nicht mehr ging oder er von einem gnädigen Tod erlöst wurde? Schließlich blieben jeden Tag viele Essensportionen auf den Trolleys übrig, die - zurück in der Küche - weggeworfen wurden. Da könne man leicht noch mehrere arme Kerle durchfüttern?

Uta Möbius lud eine Schwester nach der anderen in ein Besprechungszimmer ein. Sie bekam sehr viel zu hören, auch über das gelegentliche Geschehen auf den Dachböden der verschiedenen Gebäude. Ja, es gäbe arme Teufel, die sich das Leben nehmen. Meist mit Tabletten. Erst würden sie konsequent das Essen und insbesondere das Trinken verweigern. Andere hauen einfach ab. Vielleicht irgendwohin unter eine Isarbrücke. Meistens Männer. Die kämen mit ihrem Schicksal viel schwerer zurecht als Frauen.

Dann erschien eine Ludmilla M., eine schmale Gestalt mit langen dunklen Haaren, vielleicht 30, vielleicht auch 40 Jahre alt. In ihrem bleichen Gesicht fielen Frau Möbius die verweinten Augen auf.

„Sie haben geweint? Wegen des toten Mannes?“

Ludmilla nickte nur stumm.

„Hat er Ihnen was bedeutet?“

Sterben so viele. Klar, ist Altersheim. Tod immer furchtbar. Weine viel. Gestern noch Essen gebracht, vielleicht geduscht, gesprochen. Über Kinder gesprochen. Nächsten Tag tot.“

„Und dieser Mann? Kannten Sie ihn?“

N e i n !“

“Wie können Sie das so entschieden sagen? Waren Sie draußen? Haben Sie ihn gesehen? Sie konnten ihn doch gar nicht erkennen?“

Ludmilla zuckte. Auf diese Attacke von dieser netten Polizistin war sie nicht vorbereitet. Dann brach sie zusammen.

Mann war mein Vater. Ganz armer Mann. Geflüchtet aus Kasachstan. Musste ihm doch helfen. Aber ohne Geld?“ Ludmilla begann hemmungslos zu weinen. „Hier alle reich. Werfen soviel Essen fort. Möbel, Sachen, Teppiche - alles wird weggeworfen, wenn Leute gestorben. Zuhause ist Not. Mein Vater reicher Bauer, aber dann alt und krank. Mutter gestorben. Heim gibt es nicht. Nur Familie. Dann du musst helfen, wo immer du bist. Papa alles verkauft, Haus, Schafe, alles – für Geld für Reise. Vorgestern Papa tot. Auf einmal. Was kann ich tun? Nicht oben liegenlassen. Nun ist vorbei. Werde gekündigt. Zuhause habe ich nicht. Weiß nicht wohin. Vielleicht ich springe hinterher.“***

Wer früher stirbt, spart sehr viel Geld

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